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Limmud:
Auf Jüdisch gemeinsam das Jüdische lernen

Von Irene Runge
Jüdische Korrespondenz 02/2006

Ich begann meinen Limmud-Bildungsmarathon mit einem Vortrag von Prof. Michail Chlenow, dem Generalsekretär des russischen Euro-Asian Jewish Congress, der mit einigen jungen Männern und Frauen aus Moskau vom 25. - 29. Dezember wie knapp 2000 weitere jüdische Lernenthusiasten zum Treffen auf den Campus der Universität Nottingham angereist war.

Er referierte über Russlands jüdische Gemeinschaft, sagte, zwischen 20000 und 150000 Männer und Frauen wären aus Israel, Deutschland und den USA zurückgekehrt, offizieller Antisemitismus wäre
nicht zu spüren, der "5. Punkt", der Vermerk "jüdisch" sei als nationale Kennzeichnung bei Personenstandsdokumenten gestrichen. Es entstehe ein neuer Typus jüdischer Identität, die neue Klasse verändere die politische und soziale Lage.

Wo, fragte er in den Raum, werden wir Juden uns in diesem Gefüge platzieren? Das wurde später auch für Großbritannien diskutiert. Chlenows Vortrag war aber nur eine von 836 Veranstaltungen in diesen 120 Stunden Limmud.

Das 25. Treffen bediente Superlative und war doch von beeindruckender Einfachheit. Man kam aus England, Israel, den USA, Russland, Moldawien, Ex-Jugoslawien, Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Erwartung löst die Zungen, der Umgang war herzlich. Es ging um Kommunikation, Kontakte, Wissenserwerb, Nahost, die jüdische Sicht auf Liebe, Mischehen, Homosexualität, Frauenrecht, Anleitungen zu Gebet und Textexegese, Konversion, religiöses Bekenntnis, Holocaust, Biographien, Selbsterfahrung, verdichtet zu Vortrag, Debatte, Vers, Geschichte, Vision und Lied. Präsentiert wurden Europas, Chinas, die arabische und jemenitische jüdische Vergangenheit, die finstere Ideologie des modernen Terrors und Eigenheiten anderer Religionen.

Ich hörte von soziokulturellen Folgen des ungleichen demographischen Verhältnisses zwischen Palästinensern und Juden in Israel - die einen brauchen mehr Grundschulen, die anderen Altersheime, und wie man ein jüdisches Kochbuch schreibt. Zur Diskussion standen der Golem, Friedensmärsche, Gott, Textstellen aus Kabbala, Talmud und Tora in Bob Dylans Liedern. Das Publikum
brachte viel Vorwissen mit. Die Vielfalt programmierte Entscheidungsnot.

Ich entdeckte beim Jewish Filmfestival auch Dokumentarfilme, so den über die Schwimmerinnen vom legendären Wiener Sportklub Hakoach. Die Letzten, über 80 Jahre alt, kommen für den Film nach Wien, um dort zu schwimmen, von wo vertrieben wurden. Wenn Kino, dann auch in den israelischen Spielfilm "Walk On Water", wo ein junger Mossad-Mann im heutigen Berlin einen Altnazi zu erledigen, am Ende den Nazienkel zum Freund und dessen Schwester zur Frau hat, und die Dokumentation über drei ultraorthodoxe Frauen ansehen, die der Gefangenschaft der Ehe durch Scheidung entkommen wollen. Unvorstellbar, wie ein rabbinisches Gericht in Israel Menschenverachtung praktiziert. Im Vortrag über Therapien bei häuslicher Männergewalt erwähnte der Referent auch das.

Die Politik mit und nach Sharon lockte, Szenarien der Zukunft, Israel als Kultur-, Militär- und wasserarmes High-Tech-Land, Mängel dortiger Demokratie. Ich verpasste Mathematik und Mischna, Workshops übers Sammeln von Geschichten, Stetl und Jiddischkeit, Tanzkurse, Jamsessions, Chorstunden, Herzl, Rambam, Spinoza, Einstein, jüdische Karikatur, jüdische Midlife-Crisis und das Thema Sex. Kein Thema war zu ungewöhnlich oder zu kontrovers. Man sprach über jüdische Sichten auf Sterben und Tod und Antisemitismus in englischen Universitäten.

Im Hintergrund sorgten Ehrenamtliche dafür, dass Küchen mit einem Hechscher versehen, dass das Essen strikt koscher war, Unterkünfte zugeteilt und für jede Veranstaltung ein passender Raum zur Verfügung gestellt wurde. Ein Bus umkreiste das Campusgelände im 10-Minuten-Takt, die Heerscharen wechselten alle 90 Minuten aus einer Veranstaltung in die nächste. Ich ging zur Einführung in den Islam, erfuhr, dass es weltweit 1,4 Milliarden Muslime gibt und 80 Prozent der Ölvorkommen in islamischen Ländern liegen. Das ist dann politische Ökonomie. Ein junger orthodoxer Jude sprach von sich als einem in Schweden lebenden Galutisten. Tikkun olam, wir müssen die Welt besser machen.

Mich beeindruckte das Mitglied jener Kommission, die die Ereignisse von Nine Eleven (11. 09. 2001) in New York bearbeitete. Er analysierte die "Epoche des heiligen Terrors", Bin Ladens starke Persönlichkeit, die Gefahren aus irrationalem Extremismus und westlicher Überreaktion. Ich lernte aus Textstellen von Leo Baeck, der im November seinen 50. Todestag hat, bewunderte den Chefredakteur von Haaretz, der erklärte, warum die linke Presse Sharon unterstütze und die Rechten von "Etrog-Politik" sprechen, was meint, Sharon werde wie ein rohes Ei behandelt, aber undemokratische Allüren und kriminelle Energien im Likud verschwiegen. Es gehe um Prioritäten, sagte der Journalist, aber Israels Presse sei auch Ersatzopposition, denn im Parlament ist die Opposition verloren gegangen. Heftig hielt ein Siedler dagegen. Aus Statistik wurde in einem anderen Vortrag das mögliche Ende des Zionismus abgeleitet, die Aufgabe des Westjordanlandes denkbar, andere fanden das unzulässig. Im Jahr 2020 könnte Israel 13 Millionen Bewohner, aber wegen schwacher Geburtenrate keine jüdische Mehrheit haben.

Die Referenten sind Journalisten, Wissenschaftler, Politiker, Rabbiner, Historiker, Dichter, Musikanten, Talmudisten. Sie diskutierten auf Augenhöhe mit Hunderten kompetenten Laien. Pünktlich um acht Uhr in der Frühe, nach den Gottesdiensten und glatt koscherem Inselfrühstück mit Rührei, gebackenen Bohnen, Cornflakes, Toast und Porridge, begannen die Veranstaltungen, zu letzten Vorträgen ging man nach abendlichem fish-and-chips oder Pasta, bis in die Morgenstunden wurde getanzt und musiziert. Es gab Familiennachmittage und eine Abschiedsgala mit Danksagungen, mehrmals tauschten sich Limmud-Vertreter aus aller Welt aus. Der deutschen Gruppe fehlen jüdische Enthusiasten, das lässt sich unter www.limmud.de nachlesen.

Jeden Tag nach Sonnenuntergang brannte in Dutzenden Chanukkaleuchtern eine Kerze mehr. Es war die Stunde der vielen Kinder, die in Kindergruppen ihr eigenes Programm absolvierten. An einem Abend spielten zwei Golem-Sisters aus New York Klezmer-Rock, einmal spickte Rebbezin Hadassa Gross mit absurdem Witz ihr politisch-musikalisches Kabarett, doch unter der wilden Perücke steckte der in New York lebende, mit ungarischen Wurzeln ausgestattete Neffe des israelischen Oberrabbiners Lau, der in chassidischer Manier auch biblische Wortspiele ironisierte. Das Publikum raste vor Vergnügen.

Eine Veranstaltung führte mich nach Breslau. Gefragt, wer im Publikum eine persönliche Verbindung zu Breslau habe, hob weit mehr als die Hälfte der Anwesenden die Hand.

Ich plauderte mit muslimischen Referenten, dem Mashgiach aus London, säkularen Friedenskämpfern aus London und Haifa, dem Erforscher der Karaimen auf der Krim, mit Mark aus New Jersey, aufgekratzten Kinofans und einer Ärztin aus Mittelrussland. Limmud, darin waren wir einig, hat unserem jüdischen Lernen eine neue Dimension verpasst. Auf Videos sah ich, wie sie in Kiew, Kischinjew, Moskau, Wilna und Belgrad begeistert israelische Volkstänze einüben und jüdische Identität so stärken, in Istanbul die gleiche Begeisterung, dort gibt es eine jüdische Schule und drei jüdische Jugendklubs.

Für Englands Oberrabbiner Jonathan Sacks gehen die neun dortigen Religionsgruppen gemeinsam den Weg des Friedens. Darchei shalom gilt für Juden, Christen, Muslime, Sikhs, Hindus, Buddhisten, Jains, Zoroastrians und Bahai. 60 000 der etwa 350 000 Juden in  Großbritannien sind ultraorthodox, doch religiöse Unterschiede sind nebensächlich, wenn es um kommunale Fragen geht. In "meiner" letzten Diskussionsrunde redeten Muslime darüber.

Limmud ist wie ein Virus. Längst gibt es Tagestreffen in Englands und Schottlands Regionen, Limmud-Gruppen und Konferenzen in New York, Israel, Paris, Moskau, Australien, Kanada, Frankreich und der Türkei. Los Angeles, Moldawien und Berlin stehen in den Startlöchern, auch in den Niederlanden und Wien wird nachgedacht.

Nach Nottingham kamen die Enthusiasten, das sind jüdische Familien, Singles, alt und jung aus nah und fern. Man zahlte ohne Murren den Preis und gab auch mehr, damit diese fünf Tage und Nächte gemeinsam lernend auf einem Universitätscampus 200 km südlich von London verbracht werden konnten. Solche Motivation braucht es. Ein harter Kern aus 12 Aktivisten spornte 100 Ehrenamtliche an, über 300 volonteers haben schließlich dieses gigantische jüdische Lernfest möglich gemacht.

Als vor 25 Jahren eine dreiköpfige Gruppe aus England vom Jüdischen Weltkongress zu einer Konferenz über Alternativen jüdischer Bildung in die USA eingeladen wurde, hat natürlich niemand geahnt, dass diese Investition die vermutlich größte jüdische Lernbewegung auslösen würde.

Mehr unter www.limmud.org

hagalil.com 30-01-2006

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