Leitkultur:
Demokratie für Anfänger
Seit einem Jahr lernen Zuwanderer in
Integrationskursen das wahre Deutschland kennen. Einen Kurs in Hamburg
besuchte agnes saberski für die
Jungle World 51 v.
21.12.2005
Wie wurden die BRD und DDR zu einem Staat?
a) Die BRD hat die DDR erobert.
b) Die fünf östlichen Bundesländer sind der BRD beigetreten.
c) Die westlichen Bundesländer haben die DDR gekauft.«
Hätten Sie’s gewusst?
Es geht noch kniffliger: »Wie viele Ausbildungsberufe gibt es in
Deutschland?« Oder: »Allerheiligen ist der Feiertag, an dem man in der
katholischen Kirche a) für die gute Ernte dankt, b) an eine geliebte Person
denkt und ihr ein Herz schenkt, c) an die Verstorbenen denkt und an ihren
Gräbern betet.«
Die deutsche Leitkultur lässt grüßen. Der Verlag Langenscheidt hat einen
Modelltest für den 30stündigen Orientierungskurs herausgegeben, der den
Abschluss des insgesamt 600 Stunden umfassenden Integrationskurses bildet,
zu dem Migranten nach dem neuen Zuwanderungsgesetz verpflichtet sind.
Bisweilen drängt sich beim Durchblättern dieses und anderer Lehrbücher der
Eindruck auf, dass die Migranten zusätzlich einen Anfängerkurs in
Demokratie, Religionsfreiheit und Kindererziehung absolvieren. »Die
Kindererziehung in Deutschland ist a) hauptsächlich Aufgabe des Staates, b)
hauptsächlich Aufgabe der Eltern, c) Aufgabe der Großfamilie« wird da etwa
gefragt. Oder aber: »Wenn man ein Kind schlägt, a) gehört das zur Erziehung,
b) ist das kein Problem, c) macht man sich strafbar.«
Es bedarf schon der Mühe der Lehrenden, den Orientierungskurs etwas
lebensnaher zu gestalten. Zum Glück geben sich viele von ihnen die Mühe.
»Was fällt euch zu Bayern ein?« fragt Cornelia Witter*, die an einer
Hamburger Bildungseinrichtung unterrichtet, die 23 Männer und Frauen aus der
Türkei, aus Afghanistan, Russland, Chile, Ecuador, Iran, Indien, Ghana und
Gambia. Das Klassenzimmer ist groß und hell. Die Kursteilnehmer blicken auf
eine bunte Landkarte, Witter zeigt auf Bayern. Es fallen die Worte
»Oktoberfest«, »Bier«, »Berge« und »München«. »Bayern, oh je, da sind viele
Nazis«, ruft Daniel da Cruz* in die Runde. Rechtsextremismus ist allerdings
im Orientierungskurs nicht als Thema vorgesehen.
Der Crashkurs in Sachen Deutschland muss kurz vor der Abschlussprüfung zum
»Zertifikat Deutsch« belegt werden. Ein festes didaktisches Konzept
existiert noch nicht, doch die Ziele hat das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge in Nürnberg bereits formuliert: Er soll das »Verständnis für das
deutsche Staatswesen wecken«, »eine positive Bewertung des deutschen
Staates« entwickeln, »Kenntnisse der Rechte und Pflichten als Einwohner und
Staatsbürger vermitteln« und »zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
befähigen«. Außerdem gibt es Empfehlungen für die Träger des Kurses: »Der
Orientierungskurs soll neben Alltagswissen Kenntnisse der Rechtsordnung, der
Kultur und der Geschichte in Deutschland vermitteln.«
Themen wie das Wahlrecht, das Sozialstaatsprinzip, Föderalismus und
staatsbürgerliche Rechte (»Einhaltung der Gesetze«, »Zahlung von Steuern«)
stehen auf dem Programm. Die Geschichte Deutschlands beginnt nach den
Empfehlungen des Bundesamts mit dem Jahr 1945. Das »Wirtschaftswunder« und
die Deutsche Einheit stehen ganz oben. Unter der Rubrik Kultur sollen das
»Gebot der Pünktlichkeit« und andere einzuhaltende Regeln (»kein Besuch ohne
Ankündigung«, »alltäglicher mitmenschlicher Umgang«, »Einhaltung von
Ruhezeiten«, »Ordnung und Sauberkeit (Mülltrennung)«) behandelt werden.
Außerdem könne die Trennung von Beruf und Privatsphäre beleuchtet werden:
»Schenken ist allgemein auf die Privatsphäre zu beschränken
(Bestechung/Korruption)«. Weitere Unterpunkte sind »Sachlichkeits- und
Zielorientierung im Beruf«, »Das ›Zeit-ist-Geld-Prinzip‹« sowie »Erst die
Arbeit, dann das Vergnügen«.
Farzana Nabi* ist den Tränen nahe. Bei ihr stehen weder Arbeit noch
Vergnügen an. »Nur zwei Stunden am Tag, warum ist das nicht möglich?« Die
hoch gewachsene Frau aus Afghanistan hat ein Hotel in St. Pauli gefunden,
das sie als Putzhilfe beschäftigen würde, wenn sie eine Arbeitserlaubnis
bekäme. Theoretisch ist das möglich, doch die Hamburger Behörden bleiben
hart. Weil den Job auch eine Deutsche machen könnte, bekommt ihn die
Afghanin nicht – mehrmaliges Nachfragen, das Einschalten eines Anwalts und
die Tatsache, dass die Arbeitsstelle schon seit zwei Monaten vakant ist,
nützen nichts.
Nabi streicht sich die schwarzen Locken aus ihrem Gesicht. »Das darf ich
nicht, dies darf ich nicht«, ärgert sie sich. Seit fünf Jahren ist die
allein erziehende Mutter dreier Kinder in Deutschland, sie möchte hier leben
und arbeiten. Doch sie besitzt nur eine kurzfristige Duldung, und Hamburg
schiebt seit einigen Monaten wieder Flüchtlinge nach Afghanistan ab. So
bleibt ihr ein Integrationskurs offiziell verwehrt: Nur Migranten, die sich
»dauerhaft« in der Bundesrepublik aufhalten werden, haben einen Anspruch auf
den öffentlich geförderten Deutschkurs, heißt es bei der Nürnberger Behörde.
Den Kurs besucht Nabi trotzdem. Ihr Status lautet »Gast«, und sie muss die
volle Gebühr zahlen. 100 Unterrichtsstunden in sieben Wochen kosten 150 Euro
in einer interkulturellen Bildungseinrichtung. Und das ist noch billig. An
der Volkshochschule müssen Selbstzahler 205 Euro berappen. Nach der neuen
Regelung haben einzig neu zuwandernde Ausländer und Spätaussiedler sowie
deren Familienangehörige einen Anspruch – aber auch die Verpflichtung –, an
einem Integrationskurs teilzunehmen. Schon länger in Deutschland lebende
Migranten und EU-Bürger können nur einen Kurs belegen, wenn noch Plätze frei
sind.
Neben Nabi steht Metin Aydin* im Treppenhaus der Sprachschule im Stadtteil
Altona. Gerade hat sich der junge Mann aus der Türkei nach einem Kurs
erkundigt. »Ich will doch nur Deutsch lernen! Das ist alles«, schimpft er.
Er hat keine Lust, wie auf der Behörde seinen Pass vorzuzeigen, eine Kopie
davon zu machen, auf Formularen das Jahr seiner Einreise einzutragen und
sich in der Rubrik »Grund der Einreise« zwischen »Familiennachzug zu einem
deutschen Ehegatten (Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit beifügen)«,
»Familiennachzug zu einem ausländischen Ehegatten (Kopie des aktuellen
Aufenthaltstitels des Ehegatten beifügen)« oder »Sonstige(n) Gründe(n)«
entscheiden zu müssen. »Was wollen die immer wissen«, fragt er, schlägt
seinen Kragen hoch und schüttelt den Kopf.
Den meisten, die einfach nur Deutsch lernen wollen, bleibt das bürokratische
Verfahren nicht erspart. Rund 170 000 Migranten besuchen derzeit in ganz
Deutschland Integrationskurse, in Hamburg sind es etwa 4 000. Immer mehr
Kursteilnehmer verpflichtet die Hamburger Ausländerbehörde zur Teilnahme,
vor allem diejenigen, die seit Januar 2005 neu eingereist sind. »Die
wenigsten verstehen das System der Integrationskurse. Oft ist ihnen unklar,
dass Behörde und Schule zwei getrennte Einrichtungen sind«, sagt die
Deutschlehrerin Witter.
Über Sanktionen ist bislang noch nichts bekannt, aber das Bundesamt lässt
mitteilen: »Wer trotz Teilnahmepflicht nicht an einem Kurs teilnimmt oder
einen begonnenen Kurs abbricht, muss mit Schwierigkeiten bei der
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis rechnen. Außerdem kann die Verletzung
der Teilnahmepflicht bei der Gewährung von Sozialleistungen (Kürzungen bis
zu 10 Prozent möglich) und bei der notwendigen Frist für eine Einbürgerung
berücksichtigt werden.« Willkommen in Deutschland!
* Name von der Redaktion geändert
hagalil.com 02-01-2006 |