Rettender Strohhalm:
Jerusalem und die palästinensischen Wahlen
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Wenn in Jerusalem nicht gewählt werden darf, dann werden
die Wahlen zum palästinensischen Parlament verschoben." Das "droht"
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, nicht etwa in Ramallah, wo vor einigen
Tagen "Bewaffnete" sein Haus beschossen haben, sondern im fernen Saudi
Arabien. Ähnlich wie es Arafat nach Ausbruch der Intifada tat, um keine
Entscheidungen treffen zu müssen, hat sich auch Abbas ins Ausland abgesetzt.
Daheim freilich heißt es schon, dass Abbas seine Autorität verloren habe, in
Gaza ohnehin, zunehmend aber auch in Hebron, Nablus, Jenin und in den von
der Hamas regierten Städten Tulkarm und Kalkilja. Es steht nicht gut um die
Fatah-Partei, einst die stärkste Macht unter den Palästinensern. In Gaza hat
sich die Hamas mit sozialen Einrichtungen bei der Bevölkerung beliebt
gemacht. Die Selbstmordattentate, einst eine "Erfindung" der Hamas, waren so
populär, das schließlich auch die weltlichen El-Aksa Brigaden der
Fatah-Partei Selbstmordattentäter hervorbringen mussten, um ihr Ansehen zu
heben.
Die Autonomiebehörde verlor schon vor fünf Jahren ihre Fähigkeit, wenigstens
den Anschein von Recht und Ordnung aufrecht erhalten. Arafat entließ
Hamas-Gefangene und förderte deren Bewaffnung, weil er sie als Verbündete
beim Kampf gegen Israel wünschte. Israel leistete einen eigenen Beitrag zum
Zerschlagen der "Staatsautorität", indem Ministerpräsident Ehud Barak fast
alle Befehlszentralen der Polizei und Gefängnisse bombardieren ließ, zumal
die palästinensische Polizei sich an Kämpfen und sogar an Terroranschlägen
beteiligte.
Abbas versprach zwar "eine Autorität und ein Gewehr", eine Wiederherstellung
zentraler Macht. Aber angesichts der ungeheuren Waffenmengen in Gaza, mit
denen jeder Clan seine privaten Fehden austrägt, ist der Versuch von Abbas
gescheitert, die bewaffneten Gruppen "einzubinden". Seine eigenen Polizisten
stürmen mal den Grenzübergang nach Ägypten und mal Büros des
Innenministeriums oder Wahlämter. Sie verschlimmern das Chaos aus Protest
gegen das Chaos.
Das Chaos in Gaza ist inzwischen so groß, dass Ausländer dort nicht mehr
ihres Lebens sicher sind. Briten, Italiener und Japaner wurden entführt und
wieder freigelassen. Handfeste Drohungen wurden schon gegen die 231
europäischen Wahlbeobachter ausgesprochen, die dieser Tage anreisen. "Wir
haben ausreichende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen", behauptet die Leiterin der
Beobachter, Veronique de Keyser.
Weil Abbas eine Niederlage befürchten muss, die Hamas zwar Macht
dazugewinnen aber keinen Wahlsieg davontragen will, weil sie keine nationale
Verantwortung tragen will, sind inzwischen fast alle palästinensischen
Gruppen daran interessiert, die Wahlen zu verschieben. Minister Sufian Abu
Saida sagte im israelischen Rundfunk: "Das Durcheinander ist so groß, dass
die Wahlen gar nicht durchgeführt werden könnten." Polizeichef Ala Husni
erklärte: "Die Polizei hat nicht die Fähigkeit, die Wahlämter zu schützen."
Gleichwohl drohte die Hamas: "Falls Abbas die Wahlen ausfallen lässt, wird
es Bürgerkrieg geben." Denn der Hamas nützt es, alle Schuld auf den
schwächlichen Präsidenten abzuschieben.
Abbas sitzt in einer politischen Klemme und tut sich schwer, zwischen einer
schlechten und einer noch schlechteren Alternative auszuwählen. Die Erlösung
könnte ihm nur Israel liefern. Die israelische Polizei löst dieser Tage zwar
gewaltsam Wahlversammlungen etwa im Christmas-Hotel in Jerusalem auf, aber
Ministerpräsident Ariel Scharon hat noch nicht entschieden, ob rund tausend
Palästinenser von etwa 64.000 Wahlberechtigten in Ostjerusalem per Briefwahl
in Postämtern abstimmen dürfen, wie schon 1996 bei den Parlamentswahlen oder
im Januar 2005, als Abbas zum Präsidenten gewählt wurde. Die rund 200.000
Palästinenser in dem von Israel 1967 annektierten Ost-Jerusalem sind zwar
keine israelischen Staatsbürger und verreisen bis heute mit einem
jordanischen Pass, aber sie haben einen blauen israelischen Ausweis. Der
verleiht ihnen ein Wohnrecht in Jerusalem und völlige Bewegungsfreiheit in
Israel. Palästinenser aus den Autonomiegebieten oder aus den noch besetzten
Gebieten besitzen einen orange-farbenen Ausweis und können nur mit
Sondergenehmigungen nach Israel einreisen.
Ein israelischer Beschluss, Jerusalem für die palästinensischen Wahlen zu
sperren, wäre für Abbas der rettende Strohhalm. Ein Ausschluss Jerusalems
wäre für ihn eine politische Ehrverletzung, eine Frage des Prinzips. Während
Scharon vorgeworfen wurde, den "gemäßigten" Abbas zu schwächen, weil er im
Falle einer Hamas-Beteiligung damit drohte, die Wahlen durch Straßensperren
zu verhindern, wird ihm jetzt vorgeworfen, Abbas zu schwächen, weil er ihm
nicht hilft, die Wahlen abzusagen. "Die Regierung hat noch nicht
entschieden, ob die Wahlen in Jerusalem stattfinden dürfen", bestätigt ein
Sprecher des israelischen Außenministeriums. Israel entscheidet sich aber
nicht "weil wir doch gar wissen, ob die Wahlen überhaupt stattfinden."
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 05-01-2006 |