Alles abgeräumt:
Wahlsieg der Hamasvon
Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 26. Januar 2006
Ramallah, Jerusalem, Gaza, Hebron, Nablus, Jenin.
Die Liste der Städte, wo die Hamas das große Los gezogen hat und sogar die
klassischen "starken Männer" wie Dschibril Radschoub oder Muhammad Dahlan
geschlagen hat, lässt sich beliebig fortsetzen. Nur in Bethlehem, wo die
radikale PFLP den Bürgermeister stellt, fiel die Wahl unentschieden aus.
Unterm Strich hat die Hamas im palästinensischen Parlament eine so
überzeugende Mehrheit gewonnen, dass sie nicht einmal auf eine mäßigende
Koalition mit anderen Parteien angewiesen wäre. In den Wahlbezirken
Jerusalem und Ramallah fielen nur garantierte Parlamentssitze an die
christliche Minderheit, wie es das palästinensische Wahlgesetz vorsieht, und
deshalb nicht an Hamas.
Ministerpräsident Ahmad Qureia und sein Kabinett haben ihren Rücktritt
eingereicht, noch ehe das offizielle Wahlergebnis bekannt war. Mahmoud
Abbas, Palästinenserpräsident und Vorsitzender der geschlagenen Fatahpartei,
hatte im Falle eines Wahlsieges der Hamas mit seinem eigenen Rücktritt
gedroht. Doch am Mittag rief er noch die Fatah auf, jetzt keine "extreme
Schritte" zu tun.
Einer der ersten Anrufer beim Palästinenserpräsidenten war Chaled Maschal,
der wahre Hamaschef mit Sitz in Damaskus. Er schlug Abbas einen
"Gleichschritt im palästinensischen Lager" vor und empfahl eine "politische
Kooperation" mit der Fatah. Vor wenigen Tagen traf sich Machal in Damaskus
und zuvor in Teheran mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad. Deren
Geistesverwandtschaft wurde offen gefeiert. Israelische Experten wie Boaz
Ganor sehen schon eine Zunahme des iranischen Einflusses in den
Palästinensergebieten voraus. Der Erdrutschsieg der Hamas könnte auch auf
Ägypten abfärben, wo die palästinensische Hamas in den Moslembrüdern ihre
geistigen Väter hat. Nur dank der Unterdrückungsmaßnahmen von Präsident
Hosni Mubarak haben die Moslembrüder vor einigen Monaten nicht die Mehrheit
im Kairoer Abgeordnetenhaus erobert.
Allen Presseberichten zum Trotz über eine angebliche Mäßigung der Hamas "in
den letzten Jahren", als sie mit Selbstmordattentaten dem Osloer
Friedensprozess den endgültigen Todesstoß verpasste, jubelte der Hamaschef
im Gazastreifen, Mahmoud Asahar: "Der bewaffnete Kampf wird weitergehen, bis
Israel zu allen Konzessionen gezwungen wurde. Unser Sieg ist eine
vernichtende Niederlage der Amerikaner und der Zionisten."
Während an der Tel Aviver Börse die Kurse stürzten, berief der amtierende
israelische Premierminister Ehud Olmert erste Beratungen ein, um eine
israelische Reaktion zu beschließen. Die Hamas ist nicht nur aus
israelischer Sicht eine Terrororganisation. Ohne ihre Entwaffnung sei an
einen Dialog nicht zu denken. Und solange Hamas sich weigert, Israel
anzuerkennen, seien Verhandlungen unmöglich.
Verwirrung auch in der Welt. Die Amerikaner verkündeten eine klare Linie und
schlossen Kontakte mit einer Hamas-Regierung aus. Mit Terroristen reden die
Amerikaner nicht. Aus Europa kamen widersprüchliche Reaktionen.
EU-Außenminister Javier Solana betonte, dass die Hamas auf der europäischen
Terrorliste stehe, was Gespräche und Finanzhilfe ausschließe. Später
erklärte Benita Ferrero-Waldner: die EU sei bereit, mit jeder
palästinensischen Regierung zu kooperieren, die sich für eine friedliche
Lösung des Nahostkonflikts ausspreche.
Fatah-Politiker wie Ziad Abu Ziad und Gefangenenminister Sufian Abu Saida
äußerten Sorge über die unmittelbare Zukunft der Palästinenser. Die Kassen
der Autonomiebehörde seien leer. Schon im Februar könnten keine Gehälter
mehr an 150.000 Bedienstete, darunter 55.000 Sicherheitsleute und
Polizisten, ausgezahlt werden. Das Finanzproblem ist akut geworden, nachdem
die EU 60 Millionen Euro monatliche Haushaltshilfe eingefroren hat, wegen
unerwünschter Gehaltserhöhungen und der Einstellung weiterer Polizisten.
Sorge wurde auch laut, weil die Hamas zwar viel Erfahrung im Kampf gegen
Israel gesammelt habe, nicht aber in der Bürokratie der Autonomiebehörde. Da
die Hamas zum ersten Mal an den Wahlen teilnimmt, hat sie keine Hausmacht in
den Ministerien oder in den Sicherheitskräften aufbauen können. Ihr völliger
Mangel an Erfahrung nicht nur bei der inneren Verwaltung, sondern auch in
Diplomatie mit Israel und auf dem internationalen Parkett, könnte die Hamas
zwingen, eine "große Koalition" mit der Fatah einzugehen, damit es nicht zu
einem sofortigen Zusammenbruch komme.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 26-01-2006 |