MEMRI Special Dispatch – 9. Januar 2006
Massaker zu verantworten:
Scharon als Spiegelbild der arabischen Führer
Anlässlich des Schlaganfalls von Ariel
Scharon veröffentlichte die in London erscheinende panarabische
Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat heute einen Kommentar von Mona Eltahawy
über den israelischen Ministerpräsidenten. Darin vergleicht die Autorin
die Rolle von Scharon in Israel mit derjenigen der arabischen Führer:
Sie alle hätten Massaker zu verantworten – Scharon sei aber immerhin
demokratisch gewählt, schreibt Eltahawy, und plädiert für ein Ende der
Ära der alten Männer in der Region.
Ihr Beitrag, den wir im Folgenden in
Auszügen dokumentieren, erschien am heutigen 9. Januar 2006:
"Scharon als der vollkommene arabische Führer"
"Die arabische Welt hasst Ariel Scharon
nicht deshalb so sehr, weil er für den Tod so vieler Araber
verantwortlich ist, sondern vor allem, weil er ein Spiegelbild der
arabischen Führer darstellt, die uns seit Jahrzehnten beherrschen. Dabei
ist er die bessere Seite dieses Spiegelbilds: Wäre der Hass auf Scharon
nämlich nur auf die bloße Anzahl der von ihm getöteten Araber
zurückzuführen, dann würde er noch hinter jenen zurückbleiben, die für
die Toten des Schwarzen Septembers oder für die Tausenden von Toten in
Hama verantwortlich sind.
Und auch wenn wir an die Massaker von
Sabra und Schatila denken, mit denen Scharons Name immer verbunden ist,
sollten wir uns daran erinnern, dass in Israel 1983 immerhin eine
staatliche Untersuchung stattfand, die Scharon, damals
Verteidigungsminister, indirekt verantwortlich machte für den Tod von
Hunderten Männer, Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern während der
israelischen Invasion im Libanon von 1982. Eine arabische Untersuchung
für die direkt verantwortlichen libanesischen Milizen, die die Männer,
Frauen und Kinder mit ihren Gewehren und Messern niedergemetzelt haben,
steht hingegen noch aus.
Damals erzwang die israelische
Untersuchung den Rücktritt von Scharon und Hunderttausende Israelis
demonstrierten ihr Entsetzen und ihre Empörung über seine Rolle bei den
Massakern. Ich frage gar nicht erst, was denn mit arabischen
Demonstrationen gegen die Massaker war, die Araber an ihren arabischen
Landsleuten verübten. Die Antwort lässt sich an jeder einzelnen
arabischen Nachricht ablesen, die ausschließlich Scharon für Sabra und
Schatila verantwortlich macht. Und sie macht deutlich, dass uns die
arabischen Opfer nur kümmern, wenn Israel für sie verantwortlich ist.
Die Greueltaten, die wir untereinander verüben, spielen demgegenüber
überhaupt keine Rolle.
So könnte man formulieren, dass Scharon
das bessere Spiegelbild eines arabischen Führers ist, weil wir dem, was
er uns antat, weit mehr Aufmerksamkeit schenken, als irgendetwas, was
wir uns gegenseitig angetan haben.
Außerdem gehört Scharon zu dem Typus von
Führern, die vom Militär zum Politiker werden. Aber im Unterschied zu
all den Militärführern, die in der arabischen Welt mit gefälschten
Wahlen an die Macht gekommen sind, wurde Sharon demokratisch gewählt.
Die Ähnlichkeit zwischen Scharon und den
arabischen Führern wurde mir besonders klar, als ich das gerade
erschienene Buch des ehemaligen israelischen Außenministers Shlomo
Ben-Ami las: 'Narben des Krieges, Wunden des Friedens: Die
israelisch-arabische Tragödie'. Dort heißt es etwa:
"Scharon wurde populär und von vielen
unterstützt, weil es ihm an entscheidenden Punkten seiner umstrittenen
Karriere als Militär und Politiker gelang, sich durch Zeiten der
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hindurchzumanövrieren, die er oft
selbst verursacht hatte.[...]. Er handelte mit Verzweiflung,
Hoffnungslosigkeit und Angst", schlussfolgert Beni-Ami.
In dieser Passage könnte man den Namen
Scharons leicht mit denen vieler arabischer Führer austauschen. Aber
Scharon übertrifft und überholt sie auch hier [...]: Er trennte sich vom
Likud und gründete die Kadima-Partei als eine zentristische Alternative
zu den traditionellen linken und rechten Polen der israelischen Politik.
In einer Zeit, in der die Politik im Mittleren Osten feststeckt -
zwischen der ägyptischen Regierung und den Muslimbrüdern, zwischen Fatah
und Hamas in Palästina und der Arbeitspartei und dem Likud in Israel –
präsentierte Scharon einen dritten Weg.
[...] Vor diesem Hintergrund erscheint es
sinnvoll, über dieses paradoxe Vermächtnis von Scharon für Israel und
die arabische Welt nachzudenken. So fragte während der Parlamentswahlen
in Ägypten ein ägyptischer Moderator einen Politiker, warum nicht jemand
eine neue Partei in Ägypten gründen könne, so wie Scharon es mit Kadima
in Israel vorgemacht hat.
Kann es also sein, dass Scharon, der
General, der Bulldozer, der Schlächter von Beirut und Träger all der
anderen Namen, die ihm diejenigen angehängt haben, die ihn hassen – dass
ausgerechnet er nun zum Vorbild dafür wird, wie ein Militär zu einem
Politiker wird, der dann auch noch eine neue Politik einführt?
Scharons Abgang aus der Politik ist ein
weiteres Anzeichen für den Abtritt von alten Männern, die in diesem Teil
der Welt lange Zeit als Giganten die Politik bestimmt haben. Und mit der
Gründung von Kadima hat Scharon in Israel eine Debatte initiiert, die
genau die Diskussion ist, die wir in der arabischen Welt brauchen:
Kann Kadima ohne die Ikone Scharon
überleben? Kann Israel zu einer Politik jenseits von charismatischer
Führung und Machtstrategien kommen [...], wenn die alte Garde einer nach
dem anderen verschwindet? Diese Fragen und Überlegungen sind auch für
die arabische Welt von zentraler Bedeutung. Und wie in der arabischen
Welt ist zu fragen, ob die Partei oder der Führer wichtig ist.
Wenn aber jetzt die Hamas diese
Übergangsphase in der israelischen Politik für Angriffe ausnutzen
sollte, dann würde dies Kadima und die oben formulierten Fragen
irrelevant machen. Man darf also nicht zulassen, dass die Hamas die
Israelis (die schon jetzt genug beunruhigt darüber sind, wie stark die
Hamas bei den palästinensischen Wahlen abschneiden könnte) von der
politischen Mitte in die Arme von Benjamin Netanyahu treibt, der darauf
ja nur wartet."
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