Im ersten Moment erkannte ich Dietrich-Daniel Gaede, den Leiter der
pädagogischen Abteilung in der Gedenkstätte Buchenwald, nicht wieder. Aus
dem Jungen mit dem langen Haar und dem wilden Bart, den ich vor 27 Jahren
kennen gelernt hatte, ist ein seriöser Mann geworden, in Anzug und Krawatte.
Man kann sich kaum vorstellen, wie wir uns freuten, als wir uns letzten
Monat wieder sahen - ausgerechnet in Buchenwald.
Am 5. Mai 1978 schritt ich im hessischen Wetzlar gemeinsam mit Hunderten
Menschen dem Sarg von Christoph Gaede hinterher, der bei einem Anschlag in
Nablus getötet worden war. Christoph war nach Israel gekommen, um seinen
großen Bruder Dietrich zu besuchen, der damals 22 Jahre alt war und schon
seit einigen Monaten als Volontär bei "Aktion Sühnezeichen" gearbeitet
hatte. Als sie in den Bus stiegen, in dem sie nach Nablus fahren wollten,
warfen arabische Terroristen eine Granate in den Bus. Bei der Explosion
wurden Christoph und ein weiterer junger Mann getötet, und zahlreiche
Personen, darunter auch Dietrich, wurden verletzt.
Die Verletzungen Dietrichs waren gravierend. Splitter, die in seine Augen
eingedrungen waren, nahmen ihm sein Sehvermögen. Seine Familie beschloss,
ihn nicht nach Deutschland zurückzubringen, sondern im Tel Hashomer
Krankenhaus behandeln zu lassen. Dieser Beschluss und das Vertrauen, das die
Familie den israelischen Ärzten entgegenbrachte, lösten in Israel große
Sympathien aus. Hunderte Besucher kamen ins Krankenhaus, um Dietrich
aufzumuntern, und er erhielt Tausende Briefe und Päckchen mit Süßigkeiten
und anderen Geschenken aus ganz Israel. Ich habe mich ein paar mal mit
Dietrich im Krankenhaus getroffen. Einige Monate zuvor hatte mich die
Familie um meine Meinung darüber gebeten, dass die beiden Brüder nach Israel
kommen, und ich hatte einen Besuch wärmstens empfohlen. Ich fühlte mich
gewissermaßen verantwortlich. Alle Familienmitglieder, vor allem der
verletzte Dietrich, demonstrierten während der Behandlungen großen
Optimismus. Nach langen Monaten intensiver Behandlungen gelang es den
Ärzten, dem jungen Deutschen sein Augenlicht wiederzugeben. Nach zwei Jahren
kehrte Dietrich nach Deutschland zurück. Seither, also seit 25 Jahren, hatte
ich keinen Kontakt zur Familie Gaede.
Im Jahre 1980, nach seiner Rückkehr nach Deutschland, beschloss Dietrich,
Geschichte zu studieren, und er wurde ein Experte für die Nazizeit. "Es ist
klar, dass mein Aufenthalt in Israel, der Anschlag und meine Treffen mit
Holocaustüberlebenden meine Entscheidung, diese Richtung einzuschlagen,
beeinflusst haben", sagt Dietrich, der seit ca. zehn Jahren tausende
Jugendliche durch die Gedächtnisstätte Buchenwald führt. Seine Beziehung zu
Israel und dem jüdischen Volk sei noch vor seinem Besuch entstanden, sagt
Gaede. Dann kam er als Volontär der deutschen Organisation "Sühnezeichen"
ins Land, um bedürftigen Juden und Arabern zu helfen. Ziel der Organisation
ist es, in gewissem Maße für die Verbrechen der Generation der Eltern
während des Holocaust zu sühnen.
"Mein Aufenthalt in Israel und die Nähe zum jüdischen Staat und seinen
Bürgern wiesen mir meinen künftigen Lebensweg", erklärt er. "Ich wusste,
dass ich wieder und verstärkt zu der Verewigung der Naziopfer in Deutschland
beitragen muss, und damit etwas für das Volk leiste, das so viel gelitten
hat. Deshalb habe ich beschlossen, die Geschichte dieser schrecklichen Zeit
zu lernen". Nach kurzem Nachdenken fährt er mit seiner ruhigen Stimme fort:
"Ich mache das auch für das Andenken an meinen kleinen Bruder. Ich habe das
Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin."
Nach Abschluss seiner Studien befasste er sich intensiv mit der Forschung
des Zweiten Weltkriegs und des Naziregimes in Deutschland und hielt
Vorlesungen zu dem Thema, bis er dann das Angebot erhielt, sich dem Team
anzuschließen, das die Gedenkstätte und das Museum in Buchenwald leitet. "Es
gab keinen glücklicheren Menschen als mich. Das ist genau der Platz, an dem
ich die Ziele, die ich mir gesetzt habe, verfolgen kann", sagt Dietrich.
Selbstverständlich erzählt er israelischen Besuchern von seiner Zeit in
Israel: "Es macht mir Spaß, mit ihnen in meinem gebrochenen Hebräisch zu
plaudern, und ich erzähle ihnen immer, wie viel Liebe und Wärme ich von den
Israelis erhalten habe, als ich im Krankenhaus war.
Er erzählt lächelnd: "Einmal, als israelische Besucher meine Erklärungen
missverstanden und dachten, ich hätte das Andenken der Opfer verletzt,
erzählte ich ihnen sofort von meinen stürmischen Zeiten in Israel. Das hat
sie beruhigt. Jedes Treffen mit Israelis, die die Gedenkstätte besuchen, ist
ein Festtag für mich. Ich werde die Menschen, die mir mein Augenlicht
zurückgegeben und mich so herzlich behandelt haben, niemals vergessen."