"Nittel":
Ultraorthodoxe Juden begehen Anti-Weihnachten
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Juden feiern kein Weihnachten. Das ist eine fast banale
Feststellung. Jesus wird von ihnen nicht als Messias anerkannt und das
Christentum ist aus jüdischer Sicht eine Sekte oder fremde Religion, ähnlich
wie das Christentum zum Islam oder Mormonen keine religiöse Beziehung hat.
Wenn sich Juden in Europa oder Amerika dennoch einen Weihnachtsbaum neben
den Hanukka-Leuchter ins Wohnzimmer stellen und von "Weinukka" reden, so ist
das eher ein Zeichen von "Emanzipation" und der Annahme fremder Sitten,
nicht aber eine Glaubensaussage. Es ist allerdings kein Zufall, dass das
christliche Lichterfest und das einzige nicht-biblische jüdische Fest, an
dem acht Lichter angezündet werden, in die Winterzeit fallen, wenn alle
Menschen auf die Sonnenwende warten.
Aahron Dontscho, Touristenführer und Erforscher von Sitten und Gebräuchen im
Heiligen Land, erzählte dieser Tage im Rundfunk von einem "Weihnachtsfest",
wie es in den Hochburgen der jüdischen Orthodoxie begangen wird: "An Heilig
Abend vertreiben sich die Talmudschüler die Zeit mit Schach- und
Kartenspiel. Sie lesen weltliche Zeitungen, was ihnen sonst verboten ist."
Bei den Kabbalisten gebe es sogar ein Verbot, in der Weihnachtsnacht
Geschlechtsverkehr zu haben. Dem daraus geborenen Kind drohe, ein Mumar zu
werden, ein Konvertit zum Christentum, weil in dieser Nacht die Klipot,
parasitenhafte böse Kräfte, besonders intensiv umherschwirren.
In jüdischen Enzyklopädien und auf einschlägigen Internet-Seiten wie haGalil
kommt diese "Unsitte" nicht vor. Das Anti-Fest wurde in Osteuropa erfunden
und heißt "Nital" oder "Nittel". Der Begriff könnte aus dem lateinischen
"Natalis" (Geburt) stammen, woraus das französische "Noel" entstand, aus dem
jiddischen "Nit" für "Nichts" oder vielleicht gar vom hebräischen Wort
"Nitlah" (gehängt), zumal orthodoxe Juden von Jesus als dem "Nitlah", dem
Aufgehängten, reden.
Elieser Segal, der das jüdische "Nittel" erforscht hat, bezeichnet den
ultraorthodoxen Brauch, an Heilig Abend nicht die Tora zu lernen als
"pathologisch, wenn einer auf die eigene spirituelle Erbauung verzichtet,
nur um dem Anderen seinen religiösen Glauben zu versagen". Solche
Engstirnigkeit sei vielleicht in mittelalterlichen Ghettos nachvollziehbar
gewesen, schreibt Segal. Doch diese Sitte auch heute noch weiterzuführen sei
weltfremd.
Die so genannten Littauer, die eigentliche Orthodoxie, wandten sich gegen
den Brauch. Umso mehr halten ihre Konkurrenten, die Chassiden, diese Nacht
für eine finstere metaphysische Voraussicht, die mit größter Wachsamkeit
begangen werden müsse.
Die ältesten Erwähnungen dieses jüdischen Anti-Weihnachten stammen von
Konvertiten des 17. Jahrhunderts. Die jüdische Volksseele hielt Jesus für
einen Anti-Heiligen, der an Heilig Abend aus Abwasserrohren gekrochen komme,
um Ketzer zu bestrafen und Kinder zu ängstigen. Um das zu verhindern,
müssten fromme Juden wachen und nicht ihre Heilige Schriften studieren.
Der Frankfurter Rabbi Nathan Adler (1742-1800) hielt das Lernverbot vielmehr
für ein Zeichen der Trauer wegen des vom Christentum über die Juden
gebrachten Unheils. Sein Schüler, Hatam Sofer von Pressburg, empfahl, dass
die Juden nach Mitternacht wieder das Torastudium aufnehmen sollten, weil
"der Himmel" sie sonst mit gläubigen Christen verwechseln könnte.
Die fromme israelische Zeitung Hamodia berichtete über eine weitere Unsitte
an diesem "Unfest". Während die Christen feierten, zerriss der größte Admor
(Rabbi) Klopapierrollen in einzelne Blätter. So schuf er Vorrat für das
ganze Jahr, denn am Sabbat ist es einem frommen Juden, Papier zu zerreißen.
Dahinter stecke die kabbalistische Vorstellung, dass das Christentum "vom
Körper des Judentums ausgestoßen worden sei". Dank "Einzelblatt-Klopapier"
sei diese Sitte heute nicht mehr üblich.
Anders Aahron Dontscho, der von dieser noch lebendigen Sitte im Jerusalemer
Viertel Mea Schearim gehört haben will: "Sie tun es, um jeden Sabbat daran
erinnert zu werden, wann sie die Papiere zerrissen haben."
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 18-12-2005 |