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Schim'on Sisyphus-Peres:
Der Fluch der Götter
Uri Avnery
IN DER vergangenen Woche ging ich in den Gassen Athens, am Fuße der
Akropolis, spazieren. Da stieß ich auf ein Schild mit einem einzigen Wort in
griechischen Buchstaben: Sisyphus. Es war der Name einer Taverne.
Vielleicht wollten mich die Götter an einen Artikel erinnern, den ich vor 14
Jahren geschrieben habe: „Die Rache der Götter“. Sein tragischer Held war
der Mann, den ich „Shimon Sisyphus“ nannte.
Der ursprüngliche Sisyphus war natürlich der König von Korinth, ein
sündiger, intriganter Mann. Er verriet Zeus, den obersten Gott, der es
gewohnt war, mit menschlichen Schönheiten sich die Zeit zu vertreiben.
Zur Strafe wurde Sisyphus in den Hades geschickt und dazu verurteilt, einen
schweren Stein einen Hügel hoch zu rollen. Doch immer, wenn er nahe am Ziel
war, rollte er wieder hinunter. Und so geht es bis ans Ende der Zeiten.
Das war das Schicksal von Shimon Peres, bis ich den Artikel schrieb – und
das ist sein Schicksal bis heute
gewesen. Ich weiß nicht, warum die griechischen Götter sich diese Strafe
ausgedacht haben, aber während all der Jahre hat Peres bewiesen, dass er sie
verdient.
Wenn es irgendeinen Zweifel darüber gibt, so sind die letzten Tage eine
weitere Bestätigung. Peres beging einen Akt politischer Prostitution. Wenn
er die Laborpartei vor den Vorwahlen verlassen und sich der Konkurrenz
angeschlossen hätte – nun gut. Schließlich hat Ariel Sharon dasselbe getan.
Aber Peres wollte Parteivorsitzender werden, und erst als er völlig besiegt
worden war, ging er in Sharons neue Partei.
Kein Zweifel, Peres brachte den Fluch der Götter selbst auf sich. Er wird
weiter den Stein nach oben rollen, und der Stein wird jedes Mal wieder nach
unten rollen – kurz bevor er oben ist.
SCHON 1953, als er kaum 30 war, wurde er zum Generaldirektor des mächtigen
Verteidigungsministeriums ernannt. Das war eine erstaunliche Beförderung. Er
war der Protégé des allmächtigen David Ben Gurion, des Ministerpräsidenten
und Verteidigungsministers, der ihm die Kontrolle über das riesige
Verteidigungs-establishment überließ. Er hatte damit rechnen können, dass
der alte Mann ihm im Lauf der Jahre das Büro des Ministerpräsidenten
übergeben werde. In der Zwischenzeit, 1959,wurde er in die Knesset gewählt
und zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt.
Und dann wurde er vom Unglück verfolgt: 1963 wurde Ben Gurion aus dem Amt
des Ministerpräsidenten – buchstäblich – in die Wüste geschickt. Peres blieb
hängen. Er machte sich beim Nachfolger Levy Eshkol beliebt, der
Ministerpräsident und Verteidigungsminister wurde. Er war eifrig darum
bemüht, seine Stellung zu halten - als der Stein wieder aus seinen Händen
entwischte. Ben Gurion kehrte plötzlich aus der Wüste zurück und gründete
eine neue Partei, Rafi. Peres konnte sich nicht weigern, sich ihr
anzuschließen. Offensichtlich widerwillig gab er seinen Posten auf und
verließ die Laborpartei (damals Mapai genannt) . Aber er hoffte, dass er mit
Ben Gurions Sieg die Spitze erreichen werde.
Er stürzte sich in die Arbeit, um die neue Partei aufzubauen, errichtete
lokale Filialen und führte die Wahlkampagne. Er war sich sicher, dass eine
Partei, die von dem legendären alten Mann angeführt wurde, unter Teilnahme
des ruhmreichen Moshe Dayan und mehrerer anderer Generäle einen großartigen
Sieg erringen werde. Wie könnte es anders sein? Aber der Wahltag im November
1965 brachte eine bittere Enttäuschung: Rafi gewann nur 10 von 120
Knessetsitzen. Und ihre Platzierung auf der politischen Karte verurteilte
sie zur Irrelevanz. (Dieses Beispiel erscheint nun in Träumen von
Likudfunktionären, die hoffen, dass Sharon dasselbe passieren würde, der ein
ähnliches Abenteuer begonnen hat.)
Nach zwei Jahren wurde Rafi ein Rettungsring zugeworfen. Der Retter war
niemand anderes als der ägyptische Führer Gamal Abd-al-Nassar, der seine
Armee in der Sinaiwüste aufmarschieren ließ und Israel bedrohte. Das Land
wurde von Panik ergriffen. Rafi wurde darum gebeten, sich einer
Notstandsregierung anzuschließen, und
sein Vertreter wurde Verteidigungsminister. Aber es war nicht Peres, der
sich so hart für Rafi eingesetzt hatte, sondern Moshe Dayan, der keinen
Finger für sie gerührt hatte. Der phantastische Sieg im Sechstagekrieg
machte Dayan zum Idol der Massen, während Peres an den Rand gedrängt wurde.
Der Stein war wieder vom Hügel hinuntergerollt.
Peres wurde klar, dass er als Mitglied in einer kleinen Partei keine Chance
hat, die Spitze zu erreichen. Er führte Rafi wieder in die Laborpartei
zurück – die jetzt Ma’arach genannt wurde – und er erhielt als Trostpreis
das unwichtige Ministerium des Transportwesens. Ben Gurion betrachtete
diesen Akt als Verrat seines Protégé und gründete eine neue kleine Partei:
„die Staatsliste“.
1974 KAM eine große Gelegenheit, ein paar Monate nach dem Yom-Kippur-Krieg.
Der Krieg sah wie ein großes nationales Unglück aus, und die beiden dafür
verantwortlichen Personen, Golda Meir und Moshe Dayan, - bis dahin die
beiden Nationalikonen - wurden verabschiedet. Der Weg war frei für einen
neuen Ministerpräsidenten, und es schien, als ob das Amt wie eine reife
Frucht in Peres’ Schoß fallen würde. Aber im letzten Augenblick tauchte aus
dem Nirgendwo Yitzhak Rabin auf, ein politisch völlig unerfahrenes
Greenhorn, und pflückte die Frucht. Er war von der Partei gewählt worden.
Peres, bis ins Innerste verletzt, war gezwungen, sich mit dem
Verteidigungsministerium zufrieden zu geben. Er verbrachte die nächsten drei
Jahre damit, Rabin schonungslos zu unterminieren, der ihn später einen
„unermüdlichen Verschwörer“ nannte. Zu diesem Zweck und um die Sympathien
derjenigen vom rechten Flügel zu gewinnen, gründete Peres Kedumim, die erste
Siedlung mitten in der arabischen Bevölkerung der Westbank.
Die grausamen Götter entschieden sich, sich noch einmal über ihn lustig zu
machen. Rabin wurde in eine unbedeutende Affäre verwickelt - im Widerspruch
zum bestehenden Gesetz hatte seine Frau vergessen, ein Bankkonto aufzulösen,
das er inne hatte, während er als Botschafter in Washington war – und legte
sein Amt nieder. Endlich wurde Peres Parteivorsitzender. Zu Beginn der
Wahlkampagne 1977 war sein Sieg so gut wie sicher. Er war schon dabei, seine
Minister auszusuchen, als das Unvorstellbare geschah: Menachem Begin, der
ewige Oppositionsführer, der in einer Wahlkampagne nach der anderen besiegt
wurde, gewann und wurde Ministerpräsident. Peres musste die Verantwortung
tragen, Rabin blieb sauber. Der Stein war wieder nach unten gerollt.
Bei den nächsten Wahlen, 1981, spielten die Götter einen noch sadistischeren
Trick. Als die Wahlurnen geschlossen waren, verkündeten die
Meinungsforscher, dass Labor gewonnen habe. Vor Glück strahlend, erklärte
sich Peres als der nächste Ministerpräsident. Und dann wurde klar, dass
Begin doch gewonnen hatte.
Die Fortsetzung wurde bitter. Begin nahm den Rat seines neuen
Verteidigungsministers Ariel Sharon an und überfiel den Libanon. Am Tag
bevor die Panzer rollten, verkündete Peres öffentlich seine Unterstützung
der Invasion. Dann folgten die Besetzung von Beirut, die Massaker von Sabra
und Shatila, die Entlassung von Sharon, der psychische Zusammenbruch von
Begin. Die Öffentlichkeit begann, den Krieg zu hassen. Peres war sich
sicher, dass er dieses Mal gewinnen würde. Aber der Gewinner wurde Begins
Nachfolger Yitzhak Shamir.
IN DEN NÄCHSTEN JAHREN ging es auf und ab. Immer wieder erreichte Peres
beinahe die Spitze. Einmal wurde er sogar für eine Zeitlang
Ministerpräsident, aber nur dank einer besonderen israelischen Erfindung,
der Rotierung des Amtes des Ministerpräsidenten in einer „Regierung der
nationalen Einheit“, nach einem unentschiedenen Wahlergebnis. Als
Ministerpräsident hatte er zusammen mit einem begabten Finanzminister Ytzhak
Moida’i einen wirklichen Erfolg: er brachte die Inflation von 400% auf
normale Höhe hinunter.
Aber der Drang, mit eigener Anstrengung Ministerpräsident zu werden, war zu
stark: er organisierte einen Putsch in der Regierung der nationalen Einheit,
um Shamir zu ersetzen, und war schon dabei, mit Hilfe der religiösen
Minister die Macht zu ergreifen. Aber im letzten Augenblick verrieten sie
ihn, sodass er die Regierung ganz verlassen musste. Rabin nannte die Episode
in seinem unnachahmbaren Stil „Peres’ Stinkübung“.
Am Abend der 1992-Wahlen sahen Peres’ Aussichten gut aus. Die Öffentlichkeit
hatte von der Likud die Nase voll. Der Laborpartei winkte der Sieg. Wieder
wurde ihm die Frucht weggeschnappt: die Partei nominierte Rabin. Peres
musste sich mit dem 2. Posten zufrieden geben, mit dem Außenminister, der in
Israel weniger wichtig ist als der Verteidigungs- und der Finanzminister.
Leute, die damals mit Peres sprachen, hatten den Eindruck, dass er es
schließlich aufgegeben habe, auf der Höhe des Hügels anzukommen. Es war das
erste Mal, dass er wirklich mit Rabin kooperierte – und beide schafften
zusammen das Wunder von Oslo. Beide hatten lange Zeit die „Jordanische
Option“ verfolgt – aber die Intifada überzeugte sie schließlich davon, dass
man das palästinensische Volk anerkennen und mit der PLO ein Abkommen
schließen müsse. Als entschieden worden war, dass Yitzhak Rabin und Yasser
Arafat den Friedensnobelpreis erhalten sollten, bewegte Peres Himmel und
Erde, um mit eingeschlossen zu werden. Da der Preis höchstens an drei
Personen gegeben werden konnte, blieb der vierte Partner, Mahmoud Abbas,
ungerechterweise ausgeschlossen.
ABER DIE GÖTTER waren unbarmherzig. Im November 1995 wurde Rabin ermordet.
Der Mörder wartete am Fuße der Treppe und ließ Peres an sich vorbeigehen. Er
wurde von der Partei als Nachfolger Rabins zum Ministerpräsidenten bestimmt.
Das war die Gelegenheit seines Lebens. Er konnte neue Wahlen ausrufen und
auf der Woge der öffentlichen Wut über den Mord sicherlich einen
überwältigenden Sieg erlangen. Aber Peres wollte nicht dank des Gedenkens an
Rabin gewählt werden. Er schob die Wahl um einige Monate hinaus, während
dieser er einen
kleinen Krieg im Libanon anfing, der in einer Katastrophe endete – in dem
Massaker der Flüchtlinge durch ein Versehen. Dann genehmigte er den Mord an
einem Hamasmilitanten, dem legendären Bombeningenieur Yihyeh Ayash, und
provozierte so eine Serie von Racheselbstmordangriffen, die Peres’ Chancen
ruinierten.
Am Wahltag wiederholten die Götter ihren sadistischen Trick: es sah aus, als
ob Peres gewinnen würde. Spät am Abend wurde klar, dass das Gegenteil
eingetreten war: Ein neuer Slogan war entstanden: „Wir gingen mit Peres
schlafen und wachten mit Netanyahu auf!“
Bei einem Parteitreffen stellte Peres das, was man eine rhetorische Frage
nennt: „Was, bin ich ein Verlierer?“ und war entsetzt darüber, als ihm ein
Chor einstimmig zurückrief: „Ja! Ja!“
Es sah so aus, als hätten die Götter das Interesse verloren. Binyamin
Netanyahu kam zur Macht und wurde bald von der Öffentlichkeit verabscheut.
Die Regierung fiel, und Labor gewann die Wahlen. Aber der Held war nicht
Peres, sondern Barak, ein früherer Generalstabschef, dessen Wahl große
Begeisterung auslöste, die sich schnell in große Enttäuschung wandelte, in
Hoffnungslosigkeit und den Kollaps der Linken. 2001 wurde Barak von Sharon
mit einem überwältigenden Sieg geschlagen. Die Parteileuchten konnten sich
über einen Nachfolger nicht einig werden und baten Peres, die Parteiführung
„vorübergehend“ als Notlösung zu übernehmen. Wie gewöhnlich begann er
sofort, das „vorübergehend“ in ein „permanent“ zu verwandeln.
Unterdessen geschah etwas anderes Unvorhergesehenes. Die Stelle des
Staatspräsidenten wurde vakant. Peres gierte nach dem Posten, der praktisch
ohne Inhalt ist, aber voller Prestige. Der Präsident wird vom Parlament
geheim abgestimmt. Die meisten Mitglieder sicherten Peres ihre Unterstützung
zu. Der Gegenkandidat war einer aus der 2. Reihe der Likudfunktionäre,
Moshav Katzav. Aber als die Umschläge geöffnet wurden, kam heraus, dass das
Unmögliche geschehen war: Peres hatte auch diesen Wettbewerb verloren.
Um seinen internationalen Stand zu halten, führte Peres seine Partei in die
Sharon-Regierung – und erhielt einen neu erfundenen Titel:
„Vize-Ministerpräsident“. Für diese leere Benennung verkaufte er die Seele
der Partei. Er nutzte sein internationales Prestige, um rund um die Welt den
Mann - Sharon - salonfähig zu machen, den man als Mann von Sabra und Shatila
in Erinnerung hatte. Für dies allein verdient Peres alles, was ihm geschah.
Die Minister von Labor unterstützten nicht nur den Abzug aus dem
Gazastreifen – an sich eine gute Sache – sondern auch alle Unterdrückung in
der Westbank: die Landenteignung, die Ausdehnung der Siedlungen, das
Festhalten an den „Außenposten“ (statt sie aufzulösen) , den Bau der
monströsen Mauer und die Kampagnen der gezielten Tötungen, während die
Palästinensische Behörde boykottiert wird. Peres selbst verurteilte die
thatcheristische Wirtschaftspolitik der Regierung als „schweinischen
Kapitalismus“, während er sie praktisch weiter uneingeschränkt unterstützte.
Das Ende - bis jetzt – kam vor ein paar Wochen. In der Vergangenheit hatte
Amir Peretz die Laborpartei verlassen und seine eigene kleine Arbeiterpartei
gegründet. Peres selbst überzeugte ihn, in den Schoß der Partei
zurückzukommen. Nun bewarb er sich um den Posten des Parteivorsitzenden –
und gewann. Um Rache an der Partei zu nehmen, verließ Peres sie zum 2. Male
in seinem Leben und schloss sich Sharon an, so wie er sich damals Ben-Gurion
angeschlossen hatte.
JETZT BENUTZT Sharon Peres als Köder, um Leute aus der Laborpartei zu
fischen, denkt aber nicht daran, ihn auf seine Liste der Parteikandidaten
für die Knesset zu setzen. Das würde eine Menge Likudmitglieder daran
hindern, sich ihm anzuschließen. Es ist zweifelhaft, ob er an seinem
Versprechen gegenüber Peres festhalten wird, ihm einen respektablen Job zu
geben, wenn er die Wahlen gewinnt – vielleicht den Posten des Präsidenten,
wenn die Amtszeit von Katzav beendet ist.
In dieser Geschichte liegt etwas Tragisches. Sein Leben lang hat Peres nach
Anerkennung der Öffentlichkeit geschmachtet – und jedes Mal wurde er
verschmäht. Dieser Mann, der seit seinem 18. Lebensjahr ein professioneller
und unglaublich fleißiger Politiker war, hat niemals eine Wahl gewonnen. Die
Israelis wundern sich, warum er sich in aller Welt so viel Ansehen erwerben
konnte. Der Rest der Welt fragt, warum er in Israel keine Wahl hat gewinnen
können. War es, weil er ein Immigrant in einer Zeit der Sabras war, die hier
im Land geboren wurden? War es sein polnischer Akzent, den er nie loswerden
konnte? Irgendetwas in seinem Charakter? Fehlt es ihm an Charisma? Die
Tatsache, dass er nie bei der Armee diente? Vielleicht alles zusammen.
Die Götter wissen es sicherlich.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |
hagalil.com 13-12-2005 |
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