Albanien:
Durch das Land der Skipetaren
Der nächste Urlaub ist noch nicht gebucht?
Wie wäre es mit Albanien?
Hanna Keller (Text) und Moritz Siebert (Fotos, siehe Jungle World) waren
dort...
Kann man in Albanien Urlaub machen? Ein Kinofilm bringt
uns auf die Idee, nach Albanien zu fahren. Ein blinder Fleck auf der dichten
Karte der mediterranen Urlaubsländer. Einen deutschsprachigen Reiseführer
gibt es nicht.
Wir machen uns im Internet schlau und lesen ein Buch von Christine von Kohl.
Sie zitiert mit Vorliebe ältere Reiseberichte von Ethnologen, die von
»stolzen und hoch gewachsenen Skipetaren« in engen Filzhosen fasziniert
sind. Auch weiß sie von archaischen Gesetzen und natürlich von der
Schreckensherrschaft Enver Hoxhas zu berichten. Unter ihm war das Land über
vierzig Jahre weitgehend isoliert und galt bis zum Jahr 1990 als letzte
Bastion des Stalinismus in Europa. Nach Stalins Tod und der neuen Politik
der sowjetischen Führung verbündete sich Hoxha mit dem China Mao Tse-Tungs,
kündigte aber auch diese Allianz Mitte der siebziger Jahre auf, um fortan
ganz auf sich selbst gestellt zu bleiben. Erst nach Hoxhas Tod im Jahr 1985
und im Zuge des Zusammenbruchs des Realsozialismus kam es auch hier zu einem
Umbruch der Verhältnisse.
Wie kommt man überhaupt nach Albanien? Am einfachsten wäre es natürlich,
direkt nach Tirana zu fliegen. Allerdings kostet das erheblich mehr als ein
Flug nach Ljubljana. Weiter geht es mit dem Zug. Wir machen einen
Zwischenstopp bei Freunden in Belgrad, die uns helfen, die Weiterreise nach
Montenegro zu organisieren. Während der neunstündigen Fahrt kann man alte
Frauen beim Schmuggeln beobachten. Kurz hinter der montenegrinischen Grenze
holen sie große Pakete aus den verschlossenen Waggontoiletten und werfen sie
aus dem fahrenden Zug in die Landschaft hinaus. An den Gleisen warten Leute,
um die Pakete aufzusammeln. Montenegro ist Eurozone und alles ist hier ein
bisschen teurer. Wir übernachten in Podgorica, einer hässlichen Stadt im
Dauerregen. Ich muss an Sizilien denken. Und an meine Mutter, die uns früher
immer erzählt hat, wie grau der Osten ist. Ich denke, dass der Osten
verregnet noch viel grauer ist.
Am nächsten Tag fahren wir weiter in einen kleinen Ort nahe der Grenze und
vereinbaren dort mit einem Taxifahrer, uns für 25 Euro bis ins albanische
Shkodra zu bringen. Die Grenze besteht vor allem aus einem wohlgenährten
Zöllner, der gern von allen Seiten freundliche Begrüßungen entgegennimmt,
sich dafür aber alle Zeit der Welt lässt. Unmittelbar hinter dem Schlagbaum
befinden sich die ersten drei der insgesamt 700 000 Bunker, die Enver Hoxha
in den siebziger Jahren zur Landesverteidigung errichten ließ. Kleine
kreisförmige Betonpilze, die das gesamte Land überziehen.
Auf der Fahrt nach Shkodra halten wir erfolglos nach hoch gewachsenen
Skipetaren in eng anliegenden Filzhosen Ausschau. Dafür fallen die vielen
Mercedes auf, die uns entgegenkommen. Fast jedes zweite Auto, das auf den
unbefestigten und vom Regen der letzten Tage völlig aufgeweichten und
überschwemmten Straßen unterwegs ist, trägt den begehrten Stern auf der
Motorhaube. Ein Bild, das sich fortan bestätigen wird.
Von Shkodra sind es im Minibus noch zwei Stunden Fahrt nach Tirana. Draußen
ziehen schmucklose Dörfer vorüber; jede Menge Müll, Autowracks und
halbfertige Bauruinen zieren die ansonsten hübsche Landschaft. Auch frisch
errichtete Kirchen und Moscheen sind zu sehen – unter Hoxha war Albanien ein
»atheistischer Staat«, in dem jede Religionsausübung streng verboten war und
mit dem Gefängnis bestraft wurde. Je näher wir der Stadt kommen, desto
dichter wird der Verkehr. Zwischen den vielen Mercedes und Jeeps tummeln
sich Pferdegespanne und Eselskarren, am Straßenrand verkaufen Menschen
Benzin in Plastikflaschen. An einem riesigen chaotischen Platz endet die
Fahrt. Sind wir in Tirana?
Je weiter wir Richtung Zentrum laufen, desto ordentlicher und ansehnlicher
wird das Stadtbild. Grünstreifen, Mülleimer, Straßencafés und jede Menge
bunte Hausfassaden. Da ist sie also tatsächlich, die Handschrift des
Bürgermeisters und bildenden Künstlers Edi Rama, der sich seit seinem
Amtsantritt bemüht, die Hauptstadt ein wenig hübscher zu gestalten.
Persönlich entwirft er die Hausfassaden: bunte Muster, Streifen, Kreise und
Dreiecke. Mit seiner Politik möchte er erreichen, dass sich die Einwohner
der Stadt wohler fühlen und sich für die Gesellschaft engagieren, wofür er
regelmäßig auch Partys und Großveranstaltungen organisiert. Kritiker werfen
ihm vor, »Fassadenpolitik« zu betreiben. Uns gefallen die bunten Häuser
trotzdem.
Am Abend gehen wir mit Edwin und Kola aus, die im August das erste Hostel
für Backpacker in Tirana eröffnet haben, wo wir untergekommen sind. Im
Blockviertel, in dem früher abgeschirmt die Angehörigen der Nomenklatura
lebten, reihen sich heute Bars und Diskotheken. Kola betreibt am anderen
Ende der Stadt eine Kneipe, eine der wenigen »alternativen«, die es in
Tirana gibt. Edwin verdient sein Geld als Sprecher bei einem privaten
Nachrichtensender. Wie so viele war der 30jährige Anfang der neunziger
Jahre mit seinen Eltern nach Italien ausgewandert. Nach dem Schulabschluss
entschied er sich jedoch zurückzukehren, weil er »kein Bürger zweiter
Klasse« sein wollte. Seine Eltern hat er seither nicht besucht, weil er
nicht auf der Botschaft für ein Visum anstehen will. Überhaupt will er nur
noch in diejenigen Länder reisen, für die er kein Visum benötigt – immerhin
Mazedonien, Montenegro, die Türkei und Malaysia.
Edwin findet es bedauerlich, dass so viele junge Menschen das Land
verlassen. »Es ist doch wichtig, dass wir dieses Land aufbauen, dass wir
hier eine verantwortliche Zivilgesellschaft schaffen.« Nach dem Ende des
albanischen Sozialismus sei ein ungezügelter Kapitalismus ausgebrochen, an
das politische System glaube niemand mehr. Dass der gerade zum
Premierminister gewählte Sali Berisha irgendetwas besser machen werde als
sein abgewählter Rivale Fatos Nano von der Sozialistischen Partei, glaubt
auch Edwin nicht. Berisha, der der rechts der Mitte stehenden Demokratischen
Partei angehört, war schließlich bereits von 1992 bis 1997 Staatspräsident,
bis er wegen des Pyramidenskandals, in den er verwickelt war, zurücktreten
musste. »Die größte Hoffnung vieler Leute hier ist die Aufnahme in die EU.
Aber die Leute hoffen nur darauf, weil sie glauben, dass sie dann weggehen
können.« Wie alle anderen Balkanstaaten ist auch Albanien in das
Assoziationsabkommen mit der EU aufgenommen. Beitrittsverhandlungen aber
liegen allenfalls in weiter Ferne.
Angesichts einer geschätzten Arbeitslosigkeit von etwa 40 Prozent verwundert
es kaum, dass trotzdem schon heute viele Menschen eine Perspektive anderswo
suchen. Gemessen an der Bevölkerung hat kaum ein anderes europäisches Land
so viele Staatsbürger, die im Ausland leben. Albaniens Wirtschaft, vor allem
die ohnehin spärliche Industrie, ist nach 1990 sowie 1997 fast vollkommen
zusammengebrochen. Weniger als zehn Prozent aller in Tirana registrierten
Unternehmen sind Industriebetriebe. Der Arbeitsmarkt wird im Wesentlichen
durch kleinteilige Landwirtschaft sowie – oft informelle – Dienstleistungen
in den Städten bestimmt. Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von
umgerechnet etwa 150 Euro sind die Geldüberweisungen von Verwandten aus
dem Ausland enorm wichtig.
Mindestens ebenso beachtlich wie die Abwanderung ins Ausland ist die
Binnenmigration. Nach der Aufhebung der Zuzugsrestriktion, die zu Zeiten des
stalinistischen Regimes für die Hauptstadt bestand, ballt sich heute etwa
ein Drittel der Bevölkerung im Distrikt Tirana. Insbesondere aus der
nördlichen Landeshälfte wanderten die Menschen zu, da im Süden das
griechische Nachbarland die größere Anziehung ausübt. Lebte vor zehn Jahren
noch eine Viertel Million Menschen in Tirana, sind es heute rund 750 000.
Am nächsten Morgen fahren wir mit Edwin im Bus an den Stadtrand. Bald ist
vom neu erstrahlten Glanz des Zentrums nichts mehr zu sehen. Unverputzte,
marode Wohnblocks, dazwischen Brachflächen, auf denen sich zum Teil
Roma-Familien in zusammengezimmerten Hütten angesiedelt haben. Früher habe
die Stadt hier geendet, hier habe es nur Felder und Wiesen gegeben, erzählt
Edwin. Im Wildwuchs sind seitdem ganze Stadtviertel entstanden, die nach und
nach legalisiert werden. Noch immer ist die infrastrukturelle Versorgung
schlecht, oft fehlt es an Wasser- und Stromleitungen, Abwassereinrichtungen,
Müllentsorgungsmaßnahmen, bisweilen sogar an Straßen und Wegen. Unsere Fahrt
endet am ehemaligen Traktorenkombinat »Enver Hoxha«, einer jener zu neuem
Leben erwachten riesigen Industrieruinen an der Peripherie Tiranas.
Nach dem Ende des alten Regimes brachen hier erst die Produktion und später
die Hallen in sich zusammen. In den alten Verwaltungsgebäuden und Hallen
haben sich Menschen Wohnungen und Lager eingerichtet, an den lang gezogenen
Skeletten der Werkshallen und auf noch stehenden Zwischendecken kleine
Häuser gebaut. Es gibt kleine Läden und eine Schule; Obst- und Gemüsegärten
mit Hühnern machen das Bild eines kompletten Dorfes perfekt. Feride wohnt
mit ihrer Familie in einem kleinen Haus an der Wand einer Werkshalle. »Wir
sind zu spät gekommen. Die ersten hatten Glück und konnten in die alten
Verwaltungsgebäude einfach einziehen. Wir mussten selber bauen. Aber auf dem
Gelände gibt es ja genug altes Baumaterial.«
Mit ihrem Mann und zwei Kindern ist die junge Frau vor fünf Jahren aus dem
Norden in die Hauptstadt gekommen. Die Schwiegereltern und die jüngste
Tochter zogen nach, als der Hausbau abgeschlossen war. Während ihr Mann
täglich im Zentrum an einem Platz auf Arbeitgeber wartet und, wenn er Glück
hat, mit einem Tageslohn von 500 Lek – umgerechnet knapp vier Euro – nach
Hause kommt, schmiert Feride früh morgens Sandwiches, die sie vor der
angrenzenden Schule verkauft. »Wir kommen über die Runden, weil wir vieles
in unserem kleinen Garten selbst anbauen. Außerdem schickt der Bruder meines
Mannes regelmäßig Geld aus Amerika.« Eines Tages würde auch sie gern nach
Amerika fahren und dort leben. »Aber es geht uns nicht schlecht hier in der
Stadt, hier ist es besser als auf dem Land.«
Mit parallelen Systemen des urbanen Lebens und Arbeitens beschäftigt sich
auch die am nächsten Tag eröffnete Kunst-Biennale in Tirana, die zum dritten
Mal stattfindet. Die Arbeiten befassen sich mit Formen der informellen
Ökonomie und Architektur, sie beleuchten Überlebensstrategien des urbanen
Alltags und kritisieren die globalen Trends gegenwärtiger Stadtentwicklungs-
und Wirtschaftspolitik, aber auch Phänomene wie Frauenhandel und mafiöse
Strukturen. Am schönsten ist die Arbeit eines holländischen Filmemachers,
der das Leben von Straßenkindern in einem niederländischen Industriegebiet
dokumentiert. Wüsste man nicht, woher die Arbeit stammt, hätte man wohl an
Tirana oder einen anderen Ort fern der westlichen Wohlstandsinseln gedacht.
Dem Kurator und Direktor Edi Muka geht es vor allem darum, einen
»gesellschaftlichen Dialog« zu initiieren. »Kritische, selbstreflexive
Debatten sucht man in Albanien vergeblich. Es herrscht eine totale
Vermeidungshaltung vor, wenn es um gesellschaftliche Probleme geht. Jeder
ist nur mit sich beschäftigt. Das ist das Erbe des kommunistischen Systems.«
Auf die Frage, wie viele Menschen er erreichen könne, weiß er allerdings
nicht so recht zu antworten. Gerade einmal sechs Besucher zählen wir am
Eröffnungstag in den Ausstellungsräumen der Nationalgalerie.
Nach einigen Tagen machen wir uns mit Reiseempfehlungen unserer
Hostelmitbewohner – außer uns noch eine Französin und ein Holländer, die
gerade an Reiseführern arbeiten – auf den Weg an die südliche ionische
Küste. Weil von Saranda an der Grenze zu Griechenland nur ein Bus täglich
die Küste aufwärts fährt, versuchen wir, in das uns empfohlene Dorf zu
trampen. Doch kaum Auto ein fährt vorbei, so dass wir in den Genuss einer
Wanderung entlang der atemberaubenden gebirgigen Küste kommen. Die mit
Olivenbäumen bewachsenen Berge fallen steil in das türkisgrüne Meer hinab,
Ortschaften gibt es dazwischen nur selten. Der erste, der uns mitnimmt, ist
Brenga. Stolz zeigt uns der 19-jährige seinen Ausweis mit einem Visum für
Deutschland, das er für den diesjährigen katholischen Weltjugendtag in Köln
erhalten hat. Seine Augen glänzen, als er vom Papstbesuch erzählt.
Er arbeitet auf einer Baustelle in Griechenland. 1 500 Euro im Monat
verdient er dort und hat sich kürzlich einen gebrauchten Mercedes gekauft.
Damit fährt er allerdings nicht ins Nachbarland. »In Griechenland hat nur
der Präsident einen Mercedes. Wenn du dort mit einem teuren Auto auftauchst,
gibt das nur Anlass für schlechtes Reden über uns Albaner. Dass wir unsere
Autos mit hart erarbeitetem Geld kaufen, geht nicht in die Köpfe der
Griechen rein.« Etwas später nimmt uns Viktor mit. In seinem Lieferwagen
fährt er neue und aufgearbeitete Reifen aus. »Bei den schlechten
Straßenverhältnissen hier sind Reifen eine Goldgrube.« Als Geschäftsmann
kann er regelmäßig nach Italien reisen. Auch wenn es ihm und seiner Familie
gut geht, plant er langfristig die Auswanderung. »Bei meinen Touren sehe ich
ja, wie viel besser alles in euren Ländern ist.« Viktor fährt uns in das
Dorf, in dem wir uns ein bisschen Urlaub erhoffen. Doch die Saison ist
vorbei. In den drei Pensionen ist niemand mehr außer einem Wächter. Andere
Unterkünfte gibt es nicht. Enttäuscht verlassen wir den wunderschönen Ort
und nehmen uns vor, ein andermal im Sommer wieder zu kommen.
hagalil.com
11-12-2005 |