Lesung:
"Sehr liebes, Kleines..."Nach
fast 70 Jahren ist die Korrespondenz eines jungen Ehepaares aus dem
Gefängnis- bzw. Zuchthausalltag der Jahre 1936 - 1939 noch vollständig
erhalten und nun erstmals in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
veröffentlicht. Tanja Girod und Björn Knacke lesen "Genia und Günter Nobel:
Haftbriefe".
Eugenie
Schmerling wird am 13. Dezember 1912 als Tochter einer wohlhabenden
russisch-jüdischen Unternehmerfamilie in Moskau geboren. Die Famile verlässt
nach der Oktoberrevolution Russland und kommt über die Türkei und Paris 1923
nach Berlin-Charlottenburg. Genia stirb am 7. August 1999 in Berlin.
Günter Nobel wird am 9. März 1913 in Filehne in der Provinz Posen als Sohn
einer streng religiös-jüdischen Familie geboren. Sein Vater Israel Nobel
wird als Rabbiner 1924 nach Berlin versetzt, die Familie zieht nach
Berlin-Moabit. Günter lebt heute 92jährig in Berlin-Johannisthal.
Genia
und Günter lernen sich im Herbst 1931 während fast alltäglicher
Auseinandersetzungen zwischen nationalsozialistischen Studenten auf der
einen und Kommunisten, Sozialdemokraten, Linkssozialisten und linken
Katholiken auf der anderen Seite an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin
kennen. Trotz aller politischen Differenzen wird diese frühe
"Einheitsfront-Erfahrung" das weitere Leben des jungen Paares prägen.
Beide treten zunächst der SAP bei - die Kommunisten scheinen ihnen in ihren
Positionen zu extrem, die Sozialdemokraten zu wenig konsequent. Nachdem die
KPD ihre Sozialfaschismus-Doktrin in Bezug auf die Sozialdemokratie aufgibt,
werden beide Mitglieder der KPD, für die sie später illegal die "Rote Fahne"
für den Bezirk Charlottenburg herstellen. Am 28. Juli 1936 werden sie von
der Gestapo in ihrer Wohnung in der Lauenburger Straße 7b in Wilmersdorf
verhaftet, nachdem ihre illegale Tätigkeit von zwei zuvor verhafteten
Kurieren an die Gestapo weitergegeben wurde.
Im Prozess wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" vom 29. November bis 1.
Dezember 1937 werden beide zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt,
die Genia in Lübeck-Lauerhof und Günter in Brandenburg-Görden antritt, Genia
wird nach einem Jahr nach Jauer verlegt, was ihre Haftbedingungen und ihre
gesundheitliche Situation verschlechtert. Der Briefwechsel ist nur begrenzt
möglich, während der Haftzeit erhält Günter von Genia 25, Genia von Günter
24 Briefe. In den Schreiben geht es nicht nur um persönliches Befinden -
auch wenn naturgemäß der Haftalltag eine nicht unwesentliche Bedeutung hat,
die Ernährung, die Gesundheit, Außenarbeit, die Gefängnisbibliothek...
Politische Fragen spielen ebenfalls eine Rolle - verschlüsselt natürlich, um
der Zensur zu entgehen. Im letzten Haftjahr gewinnt in der Korrespondenz
zunehmend die Frage der Emigration an Bedeutung...
Günter
Nobel bei der Veranstaltung, Foto: M. Reisinger
1939 gelingt ihnen als Juden unmittelbar nach der Entlassung die Flucht aus
Deutschland. Aus dem Exil in Shanghai kehren sie 1947 in die SBZ zurück, um
am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuwirken.
Günter Nobel wird bei der Veranstaltung anwesend sein und stellt sich gern
den Fragen des interessierten Publikums.
Eine gemeinsame Veranstaltung des Jüdischer Kulturvereins Berlin und der
Berliner VVN-BdA e. V. 20. November 2005, 16,00
Uhr
Jüdischer Kulturverein Berlin, Oranienburger Straße 26, Berlin |