MEMRI Special Dispatch, 3.November 2005
"Die arabische Welt darf nicht schweigen":
Stimmen zum Mehlis-Bericht
Die Reaktionen in den arabischen Medien auf den am
21.10. vorgestellten Zwischenbericht der Mehlis-Kommission, die im
Auftrag der UN den Mord am libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq
Hariri untersucht, fielen uneinheitlich aus: Auf der einen Seite wurde
der Bericht vor allem von syrien-kritischen libanesischen Medien als
Meilenstein für eine demokratische Zukunft des Libanon und der Region
begrüßt. Auf der anderen Seite betrachteten ihn viele Kommentatoren als
Teil einer gegen Syrien gerichteten Strategie der USA. Darüber, so die
ägyptische Al-Jumhuriya, dürften die arabischen Länder nicht schweigen,
sondern müssten nun Syrien zur Seite stehen.
Während der Mitherausgeber der libanesischen Zeitung
Al-Nahar, Gebran Tueini, schon am Tag vor Veröffentlichung des Berichts
eine neue Zeit für Libanon, Syrien und die ganze Region heranbrechen
sieht, in der es keinen Platz mehr für Systeme wie das Baath-Regime
gebe, kritisierte ein Beitrag von Assam Na'man in der in London
erscheinenden pan-arabischen Zeitung Al-Quds Al-Arabi den syrischen
Präsidenten Assad dafür, dass er sich gegenüber den USA zu nachgiebig
zeige. Dabei würde mit dem Angriff auf Syrien doch nur die
Kolonialpolitik fortgesetzt: Der "Widerstand" in Palästina, Irak und dem
Libanon solle gebrochen und die Region zerstückelt werden. Ähnlich sieht
es auch die jordanische Al-Dustour in einem redaktionellen Beitrag, der
im Mehlis-Bericht und seiner - so der Vorwurf - politischen
Instrumentalisierung eine Bedrohung nicht nur für Syrien, sondern für
die gesamte Region sieht. Al-Dustour deutet dabei die Möglichkeit an,
dass die USA die ganze Entwicklung vom Mord an Hariri bis zur Herausgabe
des Berichts selbst inszeniert haben könnten.
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus Beiträgen der
Zeitungen Al-Nahar (Libanon, 20.10.2005), Al-Quds Al-Arabi (London,
26.10.2005) und Al-Dustour (Jordanien, 26.10.2005).
"Morgen beginnt eine neue Zeit"
"Morgen ist ein historischer und entscheidender Tag im Libanon, in Syrien
und der ganzen Arabischen Welt. Es ist der Beginn für einen neuen
Libanon, ein neues Syrien und einen neuen Mittleren Osten. Morgen wird
der Funke der Wahrheit vom Libanon, über Syrien in die Arabische Welt
überspringen und alle befreien, die von den totalitären Systemen
unterdrückt und von den Einheitsparteien erniedrigt wurden!
Wenn morgen die Wahrheit zu Tage tritt, wird zu Gunsten des Libanon und
der Arabischen Welt die letzte Maske der Kriminellen fallen! [...] Wir
müssen gar nicht mehr viele Worte über das [syrische] Regime verlieren,
dessen Tage gezählt sind. Viel wichtiger ist, über die Zukunft des
Libanon und Syriens zu reden, dessen Wegbereiter die syrische Opposition
ist."
[Im Folgenden bezieht sich der Autor auf die "Erklärung von Damaskus" (1),
die er als "erste gemeinsame Erklärung in der Geschichte des neuen
demokratischen Syrien" bezeichnet:]
"Die Erklärung der syrischen Opposition repräsentiert nach einem halben
Jahrhundert den Übergang in Richtung eines einheitlichen demokratischen
Syriens. Sie fordert die Stärkung der nationalen Einheit Syriens unter
Berücksichtigung der politischen und konfessionellen Vielfältigkeit im
Land. Ferner ruft sie zum Konsens über die Prinzipien von 'Demokratie',
'Freiheit' und 'Einheit' auf.
[...] Dass wir also offenbar die gleiche Sprache sprechen wie die syrische
Opposition, ist die beste Garantie für die Entwicklung bester
Beziehungen zwischen dem Libanon und dem neuen Syrien. Das wäre wie
1920, 1943 und 1954 – den Zeiten von Demokratie und nationaler Einheit
in Syrien. Damals waren die Beziehungen zum Libanon besser und
positiver. Mit dem Zerfall der Demokratie und der Errichtung des bis
heute regierenden totalitären Baath-Regimes haben sie sich
verschlechtert.
All das zeigt, dass Stabilität nur in freien und demokratischen Systemen
und nicht von militärisch-totalitären Systemen garantiert werden kann
und steht im Gegensatz zu solchen Stimmen, die behaupten, dass nur die
Baath-Partei politische Stabilität, soziale Sicherheit, nationale
Einheit, ein [friedliches] und gleichberechtigtes Zusammenleben, Schutz
vor Extremismus und Fundamentalismus bieten könne. Der Werdegang dieser
Partei in Syrien und der Arabischen Welt hat genau das Gegenteil
erwiesen.
Ohne Demokratie gibt es keine Stabilität im Mittleren Osten. Und es wird
solange keine Demokratie in der Arabischen Welt und vor allem nicht im
Irak geben, solange man nicht einen demokratischen Libanon schützt und
Syrien sich vom Einparteiensystem zu einer Demokratie entwickelt, wie es
die syrische Opposition in ihrer historischen Erklärung fordert. Das
muss der Weltbevölkerung bewusst sein und dafür muss sie sich mit ganzer
Kraft einsetzen, indem sie die Vereinten Nationen und vor allem den
Sicherheitsrat in Bewegung setzt.
In ihrer Erklärung betont die syrische Opposition, dass die Alternative
zur Baath-Partei und seiner Agenda eben nicht islamischer
Fundamentalismus oder Extremismus ist. Sie spricht sich eindeutig für
den Pluralismus der syrischen Gesellschaft aus. Auch die Position der
Muslimbrüder ist erstaunlich: Sie erklärten, keine Ambitionen zu haben,
die Macht in Syrien zu übernehmen, selbst wenn sie die Mehrheit
repräsentieren würden, was sie nicht täten. Vielmehr streben sie nach
einer Regierung, an der alle gleichwertig beteiligt sind.
Diese Haltung widerlegt alle Behauptungen des Baath-Regimes, das die
Bevölkerung oft zu erpressen versuchte, indem es von der Gefahr der
Machtübernahme durch die Fundamentalisten sprach. [....]
Wenn morgen früh die Wahrheit enthüllt wird, dann ist das eine Befreiung
für die Libanesen, die arabische und die ganze Welt, weil es dann keine
Barriere mehr zwischen uns und Recht und Gerechtigkeit geben wird.
Morgen schlagen wir eine neue Seite in der Geschichte unserer Nation und
unserer Region auf. Damit geht eine Ära zu Ende und im Namen der
Nationen, der Völker und der Menschlichkeit beginnt eine neue, in der
kein Platz für Verbrecher oder verbrecherische Regime ist." (Al-Nahar,
Libanon, 20.10.2005)
Ganz anders sieht das ein Artikel in der für ihre
arabisch-nationalistischen Positionen bekannten pan-arabischen Zeitung
Al-Quds Al-Arabi:
'Getroffen werden sollen Syrien und der Widerstand'
"Die Haltung der UN lässt sich aus dem Bericht von Detlef Mehlis in sechs
Worten zusammenfassen: Es ist eine Anklage gegen Syrien. In
unterschiedlicher Form formulierten das auch George Bush, Condoleeza
Rice und John Bolton so, und auf dieser Basis fordert Washington nun die
internationale Gemeinschaft auf, Sanktionen gegen Syrien zu verhängen.
[...] Und was Amerika von Syrien will, ist bekannt: Wie bei allen
arabischen Ländern geht es um die Integration in Amerikas Kurs in der
Region. Das heißt, es geht um die Zusammenarbeit von Damaskus mit
Amerika bei der Bekämpfung des irakischen Widerstands, der Ausschaltung
des palästinensischen Widerstands und der Entwaffnung des libanesischen
Widerstands durch die Hizbullah.
Nun sieht es so aus, als weigere sich die Regierung Syriens unter Führung
von Baschar Al-Assad nur ein Instrument zur Verwirklichung dieser drei
Forderungen zu sein. Assad ist also bereit, mit Amerika in Verhandlungen
zu treten und die Schädigung amerikanischer Interessen in der Region
durch die drei Widerstandsbewegungen abzuwenden, wenn Syrien dafür nicht
in den fortdauernden Krieg gezogen wird, den Bush auf Verlangen Israels
und unter Schweigen der benachbarten arabischen Regierungen gegen Syrien
führt.
Aber Baschar al-Assad und seine Genossen können den Forderungen von Bush
gar nicht gehorchen – täten sie es, würden sie die politische
Legitimität bei der großen Mehrheit der syrischen Bevölkerung verlieren,
denn diese Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit patriotisch, national und
sunnitisch gesonnen. Kurz gesagt: Assad weigert sich nationalen
Selbstmord zu begehen, nur weil er damit Bush und seinen Anhängern unter
den zionistischen Arabern und Nichtarabern einen Gefallen täte.
Es sieht so aus, als würde Washington mit Syrien so verfahren wie mit dem
Irak am Vorabend des Krieges. Über einen Sicherheitsratbeschluss wird
das Land zur Kooperation mit dem Untersuchungsausschuss aufgefordert und
[...] soll zugeben, dass hochrangige syrische Offizielle bei der Planung
und Durchführung der Ermordung Hariris mitgewirkt haben. [...]
Tatsächlich aber glauben die Stützen des syrischen Systems ohnehin
nicht, dass irgendein Entgegenkommen [wörtl.: Lösegeld] Amerika
zufrieden stellen könnte. Denn der Beschluss, das System auf die eine
oder andere Weise zu stürzen, ist in Washington bereits gefallen. Da
bleibt dann nur die Konfrontation: Denn wenn der Sturz schon
unvermeidlich ist, dann ist es besser, Amerika und Israel patriotisch
und würdevoll gegenüberzutreten, als ihrem politischen und
wirtschaftlichen Druck schuldbewusst und gebückt zu weichen. Trotzdem
glauben die meisten Beobachter nicht, dass es so weit kommen wird.
[...]"
[Im Folgenden stellt der Autor u.a. Überlegungen an, welchen Strafen
Syrien ausgesetzt werden könnte, wenn es nicht kooperiert. Als worst
case wird ein Szenario skizziert, in dem die US-Politik zu einem
neuerlichen Bürgerkrieg im Libanon führen würde.]
"Dabei interessiert Amerika und Israel nicht, was dieses gefährliche
Szenario für Syrien und den Libanon an menschlichen und ökonomischen
Schäden bedeuten würde. Ganz zu schweigen vom politischen Zusammenbruch,
der zu einem zunehmenden Zerfall und am Ende wie im Irak zur Forderung
nach Einführung des Föderalismus führen würde. Die Bush-Regierung
billigt ganz offen das Chaos und betrachtet es bei der Verfolgung ihrer
strategischen Ziele im Mittleren Osten als Alternative zu einer absurd
und - wie in Afghanistan und dem Irak zu sehen – unmöglich gewordenen
militärischen Herrschaft.
Müssten sich da die arabischen Nachbarstaaten, angeführt von Ägypten und
Saudi-Arabien, nicht darum kümmern und alles versuchen, um die USA (und
Großbritannien) von ihrem zerstörerischen Vorhaben abzubringen?
Im 20. Jahrhundert wurden die Araber von den Führern Großbritanniens und
Frankreichs mit den Parolen von 'Freiheit' und 'Unabhängigkeit'
getäuscht, um sie im I. Weltkrieg auf ihre Seite gegen die Türken zu
ziehen. Das Ergebnis war die Bestätigung der Aufteilung [der arabischen
Welt] durch das Sykes-Picot-Abkommen. Heute werden die Araber von
Amerika und Frankreich mit Slogans zum Krieg gegen den Terror und mit
Parolen über Freiheit und Demokratie getäuscht, damit die Aufteilung zu
einer totalen Zerstückelung wird – so wie es Israel verlangt, um seine
Grenzen für immer zu sichern. [Da stellt sich die Frage:] Sind die
arabischen Verantwortlichen dumm, feige oder unfähig?" (Al-Quds
Al-Arabi, 26.10.2005)
In einem redaktionellen Beitrag kommentierte auch die jordanische
Al-Dustour den Mehlis-Bericht vor allem als politisches Instrument gegen
Syrien:
"Die politischen Auswirkungen des Mehlis-Berichts auf Syrien und die
Region!!"
"[...] Im Sicherheitsrat verheimlichen die USA gar nicht, dass sie diesen
Bericht als Druckmittel in ihrer Kampagne gegen Syrien und dessen
politisches System verwenden wollen. Vor allem beschuldigen sie Syrien,
am zunehmenden Widerstand im Irak beteiligt zu sein. Die USA sind daran
interessiert, den Bericht darauf zu reduzieren, Syrien des Terrorismus
anzuklagen [...] und würden Syrien auch gerne mit der im Irak wütenden
Gewalt in Verbindung bringen. Dabei ignorieren sie, dass der Widerstand
der irakischen Bevölkerung, das Blutbad im Irak und jede Art der Gewalt
eine Antwort auf die Besatzung darstellen und nur durch deren Beendigung
gestoppt werden kann. [...]. Aber Amerika intensiviert seine Besetzung
des Irak und setzt alles daran, sie von dort auf Syrien auszuweiten
[..]. So ist der Bericht der internationalen Untersuchungskommission
einerseits zwar sehr wichtig, andererseits können die Folgen dieses
Berichts aber nicht einfach ignoriert werden: Es ist offensichtlich,
dass man es auf Syrien abgesehen hat und dass der Druck auf Syrien der
Fortführung des Irak-Krieges dienen soll, der jetzt schon die ganze
Region erschüttert!! [...]
"Für die USA ist der Bericht ein Ausgangspunkt für einen internationalen
Schulterschluss gegen Syrien. Sie versuchen dem Sicherheitsrat
irgendeine Art der Schuldzuweisung an Syrien zu entreißen, um
internationale Rückendeckung für die Erhöhung ihres Drucks auf Syrien zu
erhalten, was laut US-Außenministerin Condoleeza Rice ein militärisches
Vorgehen nicht ausschließt. [...]
Wenn die Politik nun dem gerichtlichen Urteil vorgreift, dann lief das
Ganze vielleicht von vorn herein darauf hinaus – angefangen mit dem Mord
bis zur Herausgabe des Berichts, so dass sich von der Hand weisen lässt,
dass es eine Verbindung zwischen Vorgeschehen und Resultat geben könnte.
Insbesondere wenn wir daran denken, dass die Verabschiedung der
Resolution 1559 des Sicherheitsrates auf amerikanischen Einfluss
zurückging und im Zuge amerikanischer Beschlüsse erfolgte, die der
Abrechnung mit Syrien, der Anklage und der Erhöhung des Drucks seitens
der US-Regierung dienten, die ihren Angriff auf Syrien ja bereits vor
zweieinhalb Jahren direkt nach der Besatzung des Irak begonnen hat. Die
größte der Gefahr, die sich aus diesem Bericht ergibt, droht Syrien und
schließt die anderen Länder der Region nicht aus." (Al-Dustour,
26.10.05)
Anmerkung:
[1] In der "Erklärung von Damaskus" vom 16.10.2005 fordern oppositionelle
syrische Gruppen wie die Muslimbrüder, linke und kurdische Parteien
sowie Privatpersonen u.a. die Aufhebung der im Land seit 1963 geltenden
Notstandsgesetze und einen demokratischen Wandel. Gleichzeitig wendet
sie sich entschieden gegen den Westen, insbesondere die USA: Eine "von
außen angetragene Veränderung" wird ausdrücklich abgelehnt.
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hagalil.com 07-11-2005 |