Argentinien:
Am Ende eines neuen Lebens
Etwa 40 000 Juden flohen zwischen 1933 und
1941 nach Argentinien. Lennart Laberenz hat einige der letzten noch lebenden
Auswanderer besucht.
Reportage von Lennart Laberenz
Jungle World
43 v. 26.10.2005
"Wir sind die letzten", sagt Edith Silber und hält einen
Moment inne. "Mit uns sterben die letzten aus dem bürgerlichen deutschen
Judentum." Die 91jährige sitzt im Garten von "Vidalinda", einem Haus, das
deutsche Juden vor 35 Jahren in Buenos Aires für ihresgleichen gebaut haben.
Einen angenehmen und selbstbestimmten Lebensabend sollten die Älteren hier
verbringen können.
Mit seinen 15 Stockwerken ist "Vidalinda", zu Deutsch: "schönes Leben", ein
kleines Hochhaus. Er befindet sich ein paar Blocks von der Bahnstation
Belgrano R entfernt, wo die Gebäude modern sind und der Verkehr dicht ist.
Der Doppelturm von "Vidalinda" hat eine Fassade aus rotem Backstein mit
Balkons aus grauen Betonplatten. Ein funktionaler Bau, dessen
Inneneinrichtung im Stil der sechziger Jahre dekoriert ist. Die 105
Wohnungen haben jeweils Küche, Schlaf- und Wohnzimmer, dazu gibt es
Gemeinschaftsräume. Die Bewohner können die Mahlzeiten im Speisesaal zu sich
nehmen oder das Essen in die Wohnung bestellen.
Der Frühlingswind wirbelt durch Edith Silbers weiße Haare und weht ihr immer
wieder Strähnen ins Gesicht. Das bürgerliche Judentum in Deutschland, damit
meint sie Leute wie ihre Eltern und Großeltern, die sich als Deutsche
fühlten, im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee kämpften und über
Hitler lachten, wie etwa der Vater: "Was will ein dahergelaufener
Österreicher uns sagen, wer Deutscher ist?" empörte sich der einstige
Frontsoldat. "Wie konnten wir uns nur so sicher fühlen?" fragt Edith Silber
heute, "die Emanzipation von Juden in Deutschland war nicht einmal 100 Jahre
alt".
Die zerstörte Idylle
Geboren wurde sie im Jahr 1914 im niederrheinischen Lobberich. 1933
absolvierte sie als eine der letzten ihr Abitur in jüdischer Religionslehre.
Was bedeutet Heimat, was bedeutet Deutschland für sie, die 1938 Deutschland
als Verfolgte verlassen musste? "Als Verfolgte? Vielleicht als
Hinausgeschmissene!" erwidert sie energisch. "Eine Heimat habe ich nicht",
sagt sie dann zögerlich, "höchstens eine Erinnerung." Es sind Erinnerungen
an den Hof der Großeltern, an den dortigen Obstgarten, an das Dorf
Lobberich, das heute zu Nettetal gehört, an die ländliche Familienidylle und
den Kurzwarenladen, den ihre Eltern führten. Der Vater war ein geachteter
Mann im Dorf. Katholiken, Protestanten, die Wohlfahrt – alle erhielten von
ihm die Jahresspende. Er war eine Dorfgröße, setzte sich sogar erfolgreich
für die Änderung des Zugfahrplans ein, damit die Schüler und Arbeiter zwar
pünktlich nach Krefeld kamen, aber nicht mehr ganz so früh aufstehen
mussten.
1933 ändert sich alles. Noch im selben Jahr schließt sich Edith Silber einer
Jugendgruppe an, dem "Schwarzen Fähnlein", die über den Zionismus
diskutiert. Mit ihren zumeist neu gegründeten Vereinen versuchten die Juden,
das zu ersetzen, was ihnen das nationalsozialistische Deutschland nicht mehr
erlaubte. "Wir wollten vor allem die geistigen und kulturellen Lücken
auffüllen, die dadurch entstanden, dass viele von uns ihre Schulen verlassen
mussten und nicht mehr an kulturellen Veranstaltungen und Vorträgen
teilnehmen durften." Edith Silber kümmert sich um die Jüngeren. "Die meisten
Eltern hatten plötzlich so viele Probleme, dass sie keine Zeit fanden, sich
mit den Schwierigkeiten ihrer Kinder zu beschäftigen." Sie liest den Kindern
Geschichten vor, hört ihnen zu, berät sie in alltäglichen Dingen.
Sehr wichtig ist ihr die intensive Freundschaft zum Rabbiner Arthur Bluhm,
der oft Besuch von seinen Lehrern Leo Baeck und Martin Buber erhält. Bei den
Abendessen sitzt die junge Frau mit am Tisch. Als sie das Abitur bestanden
hat, legt Buber den Arm um ihre Schultern und sagt: "Warte noch ein Jahr,
bis der Spuk vorbei ist, dann kommst du nach Berlin zum Studium." Sie will
an die Hochschule für jüdische Wissenschaften. Doch der Spuk geht nicht
vorbei.
1935 gründet Kurt Julio Riegner in Krefeld eine Gruppe, die die Auswanderung
junger Juden organisieren will. Den Organisatoren fällt es nicht leicht, die
Älteren zu überzeugen. Als Edith Silber im Sommer 1936 von einem Angehörigen
der Gruppe gefragt wird, ob sie als Kinderbetreuerin mitarbeiten will,
verbittet sich auch ihr Vater jede Diskussion. "Wir sind doch Deutsche!"
ruft er. Die Gruppe bereitet sich zu dieser Zeit auf die Überfahrt nach
Lateinamerika vor. Edith Silber macht mit. "Ich wurde gebraucht", sagt sie
und zuckt mit den Achseln. Bis dahin sei ihr Leben in Deutschland erträglich
gewesen, "auch wenn wir immer mehr merkten, dass wir nicht dazugehören".
Mit dem Satz "Ich werde gebraucht" gelingt es ihr schließlich, sich gegen
den Widerstand ihres Vaters durchzusetzen. Nur Helmut, ihren kleinen Bruder,
den sie gerne mitgenommen hätte, muss sie zurücklassen. Als sie das
elterliche Haus im Herbst 1938 verlässt, verabschiedet sich ihr Vater kaum
von ihr. Er sitzt weinend im Wohnzimmer. "Ich versuchte, ihn zu beruhigen.
›Ich komme doch bald zurück‹, habe ich noch gesagt."
Edith Silber kramt aus einem Biedermeiersekretär ein paar handschriftliche
Notizen hervor. "Heute war also der heißerkämpfte Tag", steht unter dem
Eintrag vom 23. Oktober 1938. "Erkämpft, da es wirklich nicht einfach war,
Behörden und Eltern von der Notwendigkeit und dem Sinn unserer gemeinsamen
Auswanderung zu überzeugen. Jeder hatte das Gefühl: Ab heute bist du ein
Glied jener Kette von Menschen, die interessiert daran arbeiten, die
Auswanderung aus D. zu befördern."
Ein neues Leben
Von Berlin fahren die 50 Mitglieder der Gruppe nach Triest, von dort geht es
mit dem Dampfschiff weiter in Richtung Argentinien, obwohl die argentinische
Regierung begonnen hat, die jüdische Einwanderung aus Deutschland
einzudämmen. Bei einem Zwischenstopp in Rio de Janeiro lädt ein mitreisender
Geschäftsmann Edith Silber und eine Freundin zu einem Stadtbesuch ein. Hier
erfahren sie, was gerade in Deutschland geschieht. Es ist der 10. November
1938. Die Gruppe ahnt, dass sie vielleicht länger als geplant im Ausland
bleiben muss. "Wir bekamen Angst, weil wir nicht wussten, ob wir unsere
Familien wiedersehen würden." Ediths Silbers Kabine wird zur "Klagemauer",
hier spricht sie ihren Schützlingen Mut zu – eine Aufgabe, die sie lange
beibehalten soll.
Der Alltag in Buenos Aires dreht sich um die Arbeit und um die Hoffnung, die
Familien nachzuholen. Wie alle anderen besorgt Edith Silber Arbeitsverträge
und Referenzen, reicht Anträge beim Einwanderungsamt ein. Haarklein schreibt
sie ihren Eltern im Dezember 1941, wie sie sich auf dem Konsulat in
Düsseldorf verhalten, was sie anziehen müssten. Vergeblich, die Anträge
werden abgelehnt. "Hier gibt es schon zu viele Juden", entgegnet ihr ein
argentinischer Beamter. Ihrem älteren Bruder gelingt die Flucht nach London.
Kurz darauf werden die Eltern und ihr kleiner Bruder nach Izbica, ein
Außenlager von Auschwitz, deportiert. Von dort erhält sie 1942 einen Brief
zurück. "Nicht zustellbar" hat die Reichspost auf den Umschlag gestempelt.
"Seitdem ist Deutschland für mich tot", sagt Edith Silber. Anfang 1953 fährt
sie geschäftlich zur Buchmesse nach Frankfurt, in den achtziger Jahren
besucht sie eine Schulfreundin. "Aber ich fuhr zu ihr, nach Deutschland bin
ich nie zurückgekehrt."
Das einzige, was sie weiterhin mit Deutschland verbindet, sind die Sprache
und die Literatur. Im Stadtzentrum von Buenos Aires eröffnet sie eine
deutsche Buchhandlung, wo sie argentinische Intellektuelle und Künstler wie
den Maler Antonio Berni oder den Schriftsteller Jorge Luis Borges kennen
lernt.
In den ersten Jahren bleiben die Mitglieder der Gruppe zusammen, sie müssen
das vorgestreckte Geld für die Überfahrt, die Visa und das Bestechungsgeld
erarbeiten. Irgendwann laufen die Lebenswege auseinander, auch Edith Silber
verlässt das Gemeinschaftshaus, "mein späterer Mann fand es nicht
schicklich", sagt sie mit einem ironischen Lächeln. Aber verloren hätten
sich die Gruppe und der Gruppengedanke nie.
Dreierlei Deutsche
Anfang der dreißiger Jahre lebten 30 000 Deutsche in Buenos Aires, darunter
etwa 400 deutsch-jüdische Familien. Bis 1933 waren sie in die recht
wohlhabende deutsche Gesellschaft integriert. Gleichwohl herrschte in der
Kolonie schon vor Hitlers Machtantritt eine deutschnationale Stimmung vor.
Die Weimarer Republik wurde verabscheut. Kaum hatten die Nazis in Berlin die
Macht übernommen, wurden die Juden aus den deutschen Vereinen, Schulen und
Organisationen ausgeschlossen. Die Deutsche Bank in Buenos Aires sperrte
jüdische Bankkonten. Die Deutschen blieben auch auf dieser Seite des
Atlantiks der Heimat treu ergeben.
"Auch in Argentinien war 1933 das Jahr der Rückbesinnung deutscher Juden auf
ihr Judentum", sagt der Psychologe Alfredo José Schwarcz, selbst ein Sohn
jüdischer Einwanderer. Die deutschsprachige Kolonie spaltete sich in drei
Teile: Neben der erzkonservativen oder nationalsozialistischen Mehrheit gab
es eine kleine Gruppe von Kritikern der Nazis – und die deutschsprachigen
Juden. Deren Anzahl stieg in den folgenden Jahren, 40 000 kamen zwischen
1933 und 1941.
Die deutschen Juden reagierten auf die Entwicklung in Deutschland und in der
deutschen Kolonie und begannen, eigene Vereine und Institutionen aufzubauen.
Ein wichtiger Schritt war die Gründung des "Hilfsvereins" im April 1933, der
sich später "Asociación Filantrópica Israelita" nannte. Der Verein
vermittelte Unterkünfte und Arbeitsgelegenheiten und half den
Neuankömmlingen im Alltag. "Man muss dazugehören", antwortet Edith Silber
auf die Frage, warum sie sich im Verein engagierte. Die gleiche Antwort
geben Ilse Smilg und ihr Mann José, der mit seinen 81 Jahren heute der
"Asociación Filantrópica Israelita" vorsitzt.
Normalsein, Anderssein
Um das Ehepaar Smilg zu besuchen, läuft man am besten die wenigen
Häuserblocks von Belgrano R zu Fuß. Der Weg führt auf die andere Seite der
Bahnlinie, durch ein Stadtviertel, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von
deutschen und britischen Einwanderern erbaut wurde, vorbei an
Gründerzeitvillen mit prächtigen Stuckfassaden, an grünen Vorgärten und
efeubewachsenen Backsteinhäusern. Vor der deutschsprachigen
Pestalozzischule, die einige Deutsche und Schweizer im Jahr 1934 als
Reaktion auf die "gleichgeschalteten" deutschsprachigen Gymnasien aufbauten,
planen Teenager in Schuluniform das Wochenende. Sie reden Spanisch. Auf den
breiten Gehsteigen häuft sich Laub.
Ilse Smilg, 76 Jahre alt, öffnet die Haustür des Mietshauses, ihr Mann hat
auf dem gläsernen Wohnzimmertisch einige Dokumente ausgebreitet. Es gibt Tee
und Facturas, süßes Gebäck. Couch, Beistelltisch, Vorhänge: Im Wohnzimmer
sind die sechziger Jahre lebendig. Von der Hauptstraße dringt wenig Lärm
herein, während die Smilgs erzählen.
Beide kamen als Kinder nach Buenos Aires, beide verließen im Jahr 1937 mit
ihren Familien Berlin. "Für uns war damit das Kapitel Deutschland
abgeschlossen", sagt José. Beide wuchsen in der deutschsprachigen jüdischen
Gemeinde auf. "Ich hatte gelernt, dass ich durch mein Judentum ›anders‹ war
als die meisten Deutschen, aber erst viel später, dass ich mich ebenso
›normal‹ fühlen durfte", berichtet Ilse.
Nach 1945 stellten sich die Deutschen in Argentinien nur langsam auf die
neuen Zustände ein, viele Nationalsozialisten beeinflussten noch lange das
Klima. Nicht nur Josef Mengele und Adolf Eichmann lebten hier unerkannt. "Es
blieb immer eine Trennung zu den Älteren hier. Erst als ich durch meine
Arbeit jüngere Deutsche kennen lernte, konnte ich ein wenig von meiner
Reserviertheit ablegen", sagt José.
Ob sie Argentinier sind? "Nein, Argentinien ist nur meine Heimat, wenn ich
im Ausland bin", sagt Ilse und denkt eine Weile nach. "Wir haben sehr viel
deutsche Mentalität mitgebracht." Das Befremden ist ihnen anzumerken, wenn
sie davon berichten, dass Argentinier Treffen und Veranstaltungen
kurzfristig planten und auch sonst eher "disziplinlos" seien. "Da sind wir
schon wieder anders, da sind wir deutsch", lacht José und stellt die
Teetasse mit dem Blümchendekor auf den Unterteller. Argentinische Freunde
haben sie nicht.
In dem Land, das sie aufgenommen hat, wechselten sich im Laufe der
Jahrzehnte autokratische Regierungen und Militärdiktaturen ab. Dennoch
überlegten die Smilgs nur einmal, Argentinien wieder zu verlassen. Das war
1973 bei der Rückkehr des Präsidenten Juan Perón. "Insbesondere seine erste
Präsidentschaft in den fünfziger Jahren trug deutlich faschistische Züge",
erinnert sich José. Aber sie warteten ab und blieben; auf Perón folgte
abermals eine Militärdiktatur. "Vielleicht wollten wir manches auch nicht
sehen, was um uns herum geschah", räumt Ilse ein. Man habe sich eben
zurückgezogen und "vielleicht die Augen verschlossen", sagt Edith Silber und
will über das Thema nicht weiter sprechen: "Ich bin gerne hier, und ich bin
dankbar, dass ich hier überleben konnte."
Epilog
Anfang dieses Jahres verstarb der letzte deutschsprachige Rabbiner der
Stadt, der ebenfalls mit Ediths Gruppe eingewandert war. "Es gibt keine
deutschsprachige jüdische Gemeinde mehr, mit uns gehen die letzten",
wiederholt Edith Silber. Sie geht schon lange zu einem spanischsprachigen
Rabbiner.
In "Vidalinda" werden längst auch osteuropäische und spanischsprachige Juden
aufgenommen. In "San Miguel", dem Altersheim, das die "Asociación
Filantrópica Israelita" bereits in den vierziger Jahren in der Nähe von
Buenos Aires gründete, wohnen inzwischen auch Nichtjuden. "Wir haben das
Heim vor Jahren geöffnet", sagt José Smilg und beugt sich über das salzlose
Mittagessen im Speisesaal, "vor allem aus finanziellen Gründen." In beiden
Institutionen ist das Ende des deutsch-jüdischen Lebens zu spüren. Die
Nachfahren der Einwanderer verstehen sich eher als jüdische Argentinier.
Edith Silber findet das gut. "Die einzelnen Gruppen der Diaspora mischen
sich ab der zweiten und dritten Generation allmählich."
Der Tee ist kalt geworden, es wird Zeit zu gehen. Edith Silber hat eine
bewundernswerte Kondition. Sie will jetzt lesen. Neben ihrem Ohrensessel,
hinter dem Biedermeierschrank, stehen, in Leder gebunden, ein paar der
wenigen Deutschen, denen sie stets vertrauen konnte: Thomas Mann, Friedrich
Schiller und Stefan Zweig. Draußen pulsiert eine andere Welt, die Menschen
sprechen eine andere Sprache.
hagalil.com 08-11-2005 |