Der Schwächling und der Held:
Notizen zu "Paradise Now"
Von Matthias Küntzel
"Für
die Besucher des Kinos in Ramallah ist "Paradise Now" ... nicht nur ein
guter, sondern auch ein wichtiger Film", schreibt Henryk M. Broder. " Kein
Film, der Terroristen als Märtyrer verherrlicht, sondern sie als junge
Männer zeigt, die sich und anderen letztlich ein Rätsel bleiben." (1)
Tatsächlich? Ich habe große Zweifel.
Selbstverständlich macht der Film gewisse Zugeständnisse an das europäische
Publikum. Da ist zum einen die Szene, in der Said den ersten Bus verschont,
weil er darin ein kleines jüdisches Mädchen sieht. Dieser suggestive Trick
macht es leichter, Saids Entschlossenheit am Ende des Films, als er sich in
einem überwiegend mit Soldaten besetzten Bus in die Luft sprengt, Beifall zu
zollen, ohne von moralischen Skrupeln angekränkelt zu sein.
Dann gibt es jene Suha, die als Identifikationsangebot für Europäer jedoch
nur sehr bedingt in Frage kommt. Wer wollte schon im romantisierten Elend
von Nablus die Außenseiterin aus dem Viertel der besseren Leute sein?
Khaled ist für die Neutralisierung europäischer Bedenkenträger die
entscheidende Figur. Ihm wird als einzigem Akteur gestattet, glaubwürdig
menschliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen – besonders in der Schlussszene,
in der er um Said bitter weint. Zudem scheint Khaled in seinem letzten
Dialog mit Said dem Film die maßgebliche Botschaft zu verleihen: "Ich gebe
Suha recht. Auf diese Art werden wir nicht siegen. ... Der Widerstand ändert
die Dinge, nicht unser Tod. ... Ich erlaube nicht, dass du stirbst."
Beim zweiten Nachdenken erschließt sich jedoch, dass diese Filmdeutung nicht
stimmen kann. Denn eben jener Khaled wird vom Anfang bis zum Ende als das
negatives Gegenüber des eigentlichen Helden, Said, inszeniert. Diese
dichotome Struktur dürfte in der arabischen Welt, in der Männerehre und
Männermut einen höheren Stellenwert als in Europa genießen, noch stärker zum
Tragen kommen als hier.
Mich brachte ein Detail aus der Großaufnahme des weinenden Khaled auf die
dichotome Spur: Es ist wahrhaft hässlich zu sehen, wie ihm die Rotze nur so
runterläuft. Er wird in seinem Autositz nicht als tragischer Held
gezeichnet, sondern als Jammerlappen vorgeführt. Er flennt wie ein Kleinkind
und jeder ahnt, dass seine Zukunft in Nablus alles andere als rosig ist.
Wer von diesem Punkt ausgehend den Film noch einmal Revue passieren lässt,
wird feststellen, dass Khaleds schmählicher Abgang schon in jedem seiner
vorangegangenen Auftritte angelegt gewesen ist. Stichwort Jammerlappen:
Khaled ist es, der nach dem Scheitern der ersten Grenzüberquerung in größter
Hast zurück zum PKW des Organisators Jamal läuft.
Khaled ist es, der sich – eine menschliche Regung! - über den Schmerz
beschwert, den ihm das Abreißen des Pflasters bereitet, mit dem man den
Sprengstoff an seinem Körper befestigt hat. Er fordert von der Organisation,
beim nächsten Mal ein anderes Pflaster zu nehmen und wird mit dem
Verweis, dass Selbstmordattentäter derartige Pflaster in der Regel nicht
mehr zu entfernen brauchen, durchaus berechtigt lächerlich gemacht.
Khaled ist der Mensch mit dem weichen Herzen: Er widerspricht in einer
Nebenszene des Filmes der Auffassung, dass auch die Familie und die Nachbarn
von Kollaborateuren getötet werden sollten.
Khaled ist ein Mensch voller Ungeduld: Er ist schon genervt, wenn bei der
Aufzeichnung des Märtyrer-Videos die Technik nicht richtig funktioniert.
Khaled, der kaum seine Waffe richtig halten kann, offenbart sein von zivilen
Interessen angekränkeltes Herz, als ihm inmitten der heroischen
Videoaufzeichnung die Wasserversorgung für seine Mutter in den Sinn gerät.
Immer wieder folgt er seinen verrückt-emotionalen Eingebungen und scheint
somit für das "Große" einfach nicht geschaffen zu sein.
Natürlich hätte der Regisseur gerade ihn, den kleinen Chaoten mit dem großen
Herz, zum Sympathieträger des Filmes aufbauen können. Doch das Gegenteil
geschieht:
Khaled wird in der entscheidenden Phase des Films, als sich Said dem Verhör
durch Organisationschef Abu Karam unterzieht, als unschlüssige Primadonna
gezeichnet. Sein Gesicht ist durch eine Nasenverletzung entstellt, er
reagiert mimosenhaft auch auf diesen Schmerz. Seine mentale Verfassung ist
durch Unentschlossenheit charakterisiert: Er weigert sich, ohne Said
die Frage nach der Fortsetzung der Suicide-Mission zu beantworten.
Der Regisseur hat Khaled als einen Schwächling und einen Versager ins Spiel
gebracht, damit der wahren Märtyrer sich um so markanter von ihm abheben
kann. Dies zeigt sich in der Schlussszene des Films: Hier werden alle
Akteure - Jamal, Abu Karem, Suha, Saids Mutter und Said selbst - ein letztes
Mal gezeigt: mit einem traurigen, strengen und gleichzeitig entschlossenen
Gesicht. Aus dieser Gruppe von Menschen fällt nur Khaled heraus: Als
Abtrünniger ist nur mit verheulter Schniefnase zu sehen.
Said hingegen wächst im Verlauf des Filmes über sich hinaus. Wenn auch sein
Irrweg durch Nablus mit dem Bombergürtel am Leib, den er nicht entfernen
kann, Elemente des Slapsticks enthält, bleiben seine Entscheidungen doch
rational: Er versucht erst den Terrorchef und dann Khaled zu finden.
Schließlich will er (vermutlich in Anbetracht der "demütigenden" Tatsache,
dass ein jüdischen Mädchen ihn vom Massenmord hatte abhalten können) am
Grabe seines Vaters Selbstmord verüben. Weder Khaled noch Sura sind in der
Lage, ihn aufzufangen und zu stabilisieren. Sein Selbstvertrauen gewinnt
Said erst durch die Organisation zurück – eine Organisation, die in vielen
Details an die Hamas erinnert. Die Funktionäre dieser Gruppe werden, soweit
es Said betrifft, nicht negativ gezeichnet, sondern positiv. "Jamal ist
immer willkommen", sagt Saids Mutter über denjenigen, der Said für das
Selbstmordattentat rekrutierte. So hat sich Jamal stets treu und ergeben um
Saids Familie gekümmert, deren Oberhaupt als Kollaborateur vor vielen Jahren
getötet worden war. Jamal wird uns zudem als ein Lehrer präsentiert. Wenn er
im Film erklärt: "Ausbildung bedeutet Zukunft", so könnte dies eine Parole
aus dem laufenden Hamas-Wahlkampf sein. Said aber, der dieser Organisation
angehört und sich mit seinem Mantra "Wenn Gott es will" als ein Gläubiger
erweist, entwickelt sich nach dem letzten Gespräch mit dem Chef seiner
Organisation zur heldenhaften Verkörperung des islamistischen Shahid. Zuvor
wird er wiederholt auf die Probe gestellt.
Seinen ersten Sieg erringt Said gegen den Fotografen, der ihn lächelnd
aufnehmen will, obwohl sich das Lachen für einen wahren Kämpfer gegen Israel
nicht ziemt. Saids Entscheidung folgt jenem "Lach-Verbot", das die Charta
der Hamas in Artikel 19 wie folgt formuliert: "All dies sind ernsthafte
Fragen und keine spaßigen. Denn die umma im Djihad kennt keinen
Spaß." (2) Der lebensfrohe Khaled, dessen Freude
an Musik und Tanz aus islamistischer Perspektive einem Sakrileg gleichkommt,
kann demgegenüber kein wirklicher Kader sein. Dies zeigt schon die kleine
Szene, die seinem Tanzauftritt vorangeht: Khaled weist den kleinen Teejungen
mit eben jener Handbewegung ab, mit der zu Beginn des Filmes der israelische
Soldat die Grenzübergänger abwies. In dieser frühen Szene sind somit die
wichtigsten Essentials der Kritik an Khaled aus islamistischer Sicht
integriert: Er erscheint als ein individueller Spinner (Tanz) und
Genussmensch (Musik), der sich vom Volk (Teejunge) entfernt hat und die Züge
des Feindes (Handbewegung) kopiert.
Seinen zweiten und vielleicht wichtigsten Pluspunkt handelt sich Said mit
seinem Widerstand gegen die Künste der weiblichen Verführung ein. Sein Sieg
über die Sinnlichkeit erscheint um so imposanter, als der Film erkennen
lässt, dass seine Distanz gegenüber der schönen Suha gegen eigene Zweifel
erkämpft werden muss. Said besteht auch seine zweite Prüfung gegen die
Weiblichkeit, als er der Versuchung widersteht, sich seiner Mutter zu
zeigen. Stattdessen verlässt er sie stillschweigend und für immer. Welch’
ein Unterschied auch in dieser Hinsicht zu Khalid, der sich bereits durch
sein erstes Gespräch mit Suha überreden und vom "großen Ziel" abbringen
lässt!
Sein drittes islamistisches Diplom erringt Said, als es in der nächtlichen
Auseinandersetzung mit Suha um das Thema Kino geht. Im Gegensatz zu Suha,
deren Person auch die Gefahr der Verführung durch westliche
Kulturerzeugnisse, wie z.B. Filme, verkörpert, blickt Said nur auf einen
einzigen Kino-Besuch zurück: Er besuchte es mit dem einzigen Ziel, das Kino
in Flammen aufgehen zu lassen, was ihm und seinen Freunden auch gelang. Die
regelmäßige Zerstörung von Kinos und anderen "Tempeln der Sünde" gehört aber
zur islamistischen Praxis, seit es Islamisten gibt.
Auch im Charakter ihrer Kommandoerklärungen wird der Kontrast zwischen
Khaled und Said evident. Da gibt es einerseits die Szene, in der die
Terrororganisation die testamentarischen Videos der beiden "Märtyrer"
inszeniert. Hier kommt in erster Linie Khaled zum Zuge. Er liest seine
Erklärung ohne innere Bewegung vom Blatt ab und muss "zur Strafe" erleben,
wie man die von seiner Mutter vorbereiteten Brote vor seinen Augen
verspeist. Said begründete demgegenüber seine Tatmotive erst in jener Szene,
in der er gegen Ende des Films den Terrorchef Abu Karem von seiner
Lauterkeit zu überzeugen sucht. Hier wird dem Kinopublikum mit suggestiver
Eindringlichkeit das Selbstmordattentat als Notwendigkeit verkauft. Viele
Filmkritiker haben sich darüber amüsiert, wie Regisseur Abu-Assad die
Kommandoerklärung von Khalid in der zuerst genannten Szene persifliert. Als
später aber Said seine Beweggründe in eine echte Filmkamera spricht, gibt es
keine Panne, keine Verfremdung und kein bisschen Humor.
In der Schlussszene wird Said endgültig als der Sieger portraitiert. Er
bringt es fertig, das emotionale Band zu zerreißen, dass ihn fast ein Leben
lang mit Khaled verband und besteht so auch die schwerste der ihm
vorgelegten Prüfungen. Said täuscht Khaled inmitten von Tel Aviv. Mit der
Lüge, dass auch er die Selbstmord-Mission abbrechen wolle, schüttelt er den
Zweifler, den Störenfried, die humane Instanz ab. Khaled durchschaut diesen
Trick zu spät. Sein Lächeln, mit dem er in den Wagen steigt, schlägt im
Bruchteil einer Sekunde in Raserei um. Wir sehen Said als denjenigen, der
zuletzt lacht. Mit dieser Szene dürfte die unbewusste oder bewusste
Bewunderung für die Hauptfigur ihren Höhepunkt erreicht haben. Said lacht
über Khaled, weil er jetzt endlich sich selbst und die Insassen des Busses
töten kann.
Anders, als von Henryk M. Broder angenommen, ist dieser Film in seiner
Gegenüberstellung von Khalid und Said nicht ambivalent, sondern er ergreift
Partei. Während Khaleds Weg im Unglück endet, überwindet Said alle
Schwierigkeiten und erledigt die ihm aufgetragene Mission. Hany Abu-Assad
führt keine jungen Männer vor, "die sich und anderen ein Rätsel bleiben."
Stattdessen will er zeigen, dass nur "die Besten" für das Priesteramt – den
suizidalen Massenmord zur "Befreiung" aller – geeignet sind.
Zur "Paradise
Now"-Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung:
Selbstmord "für ein
höheres ideelles Gut"?
In allen Kinos, die "Paradise Now"
zeigen, gibt es sie kostenlos: Die 24-seitige Broschüre der Bundeszentrale
für Politische Bildung über jenes Selbstmörderdrama, das mit dem Prädikat
besonders wertvoll für Jugendliche ab 14 Jahre empfohlen wird....
Anmerkungen:
Henryk M. Broder, Das Paradies in der Hölle, in: Der Spiegel 39/2005.
Matthias Küntzel, Djihad und Judenhass, Freiburg 2002, S. 110.
hagalil.com 06-10-2005 |