Israels Gaza-Kapitel beendet:
Beginn einer neuen Epoche?
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
In der Nacht zum Montag soll der letzte israelische Soldat
den Gazastreifen verlassen haben, vorausgesetzt es gibt keine
unvorhergesehene Pannen. Eine 38-jährige Ära endet. Möglicherweise beginnt
jetzt eine neue Epoche. Der
Gazastreifen ist keine historische Provinz, sondern das zufällige Ergebnis
von Kämpfen zwischen Israel und Ägypten 1948. Während die Grenze zwischen
Ägypten und dem von Türken besetzten Palästina schon 1906 durch einen Strich
auf der Landkarte in London festgelegt worden war, gelang es ägyptischen
Truppen, fast bis Beer Schewa in der Negev-Wüste vorzudringen. Die
israelische Armee warf die Ägypter nach schweren Schlachten zurück. Aber
einen kleinen Zipfel Palästinas hielten die Ägypter bis zum
Waffenstillstand. Daraus wurde der mit arabischen Flüchtlingen gefüllte
Gazastreifen unter ägyptischer Besatzung. In den fünfziger Jahren einigten
sich Ägypten und Israel auf einen Landtausch. Israel erhielt einen
Landstreifen im Norden, wo die Ortschaft Netiv-Haassara entstand, während
dem ägyptischen Gazastreifen im Süden Land zugefügt wurde, wo heute der
"Jassir Arafat Airport" steht.
Der 360 Quadratkilometer große Gazastreifen mit geschätzten 1,3 Millionen
arabischen Einwohnern ist ein 40 Kilometer langes und 10 Kilometer breites
Quadrat mit 40 Kilometern Mittelmeerküste, 51 Kilometern Grenze zu Israel
und 11 Kilometern zu Ägypten.
Die Grenze zu Ägypten entspricht der international anerkannten Grenze
zwischen Palästina und Ägypten, wie sie im Friedensvertrag von 1977
bestätigt wurde, als sich israelische Truppen aus der Sinaihalbinsel
zurückzogen, "bis zum letzten Sandkorn", wie der ägyptische Präsident Anwar
el Sadat sagte. Ägypten weigerte sich, auch nur einen palästinensischen
Flüchtling aus dem übervölkerten Gazastreifen zu übernehmen oder
Grenzkorrekturen zu akzeptieren.
Mit dem Rückzug erhalten die Palästinenser erstmals ein zusammenhängendes
Gebiet, während im Westjordanland die autonomen palästinensischen Städte und
Ortschaften voneinander abgetrennt sind durch israelisch kontrollierte
Gebiete und Straßensperren.
Ob die Palästinenser jetzt im Gazastreifen eine Zivilgesellschaft aufbauen
mit der Autonomiebehörde als einzige Autorität, ohne bewaffnete Gruppen und
Organisationen, die gemäß ihren jeweiligen Interessen das Geschehen
bestimmen, ist offen. Palästinenser sagen selber: "Die Alternative für Gaza
ist Hongkong oder Somalia." Mit internationaler Anerkennung des Endes der
Besatzung im Gazastreifen könnte die Waffenstillstandslinie zu einer
internationalen Grenze mutieren.
Attacken aus dem Gazastreifen auf Israel, etwa mit Kassamraketen oder
Mörserbeschuss, könnten dann nicht mehr als "legitimer Widerstand" gegen die
Besatzungsmacht gerechtfertigt werden. "Ein Angriff wäre dann ein Casus
Belli", sagt Verteidigungsminister Schaul Mofaz über den neuen
völkerrechtlichen Status. Dagegen wehren sich die Palästinenser mit
Zustimmung der Europäer. EU-Vermittler Marc Otte sagte kürzlich, dass Gaza,
das Westjordanland und Ost-Jerusalem eine "Einheit" seien. Ein Ende der
Besatzung gelte erst, sowie Israel sich aus allen besetzten Gebieten
zurückgezogen hätte. Die Palästinenser argumentieren, dass Israel Besatzer
bleibe, solang es den Luftraum und die Außengrenzen von Gaza kontrolliere
und sich nicht auf die Waffenstillstandslinie von 1949 zurückgezogen habe.
Grenzkorrekturen der fünfziger Jahre wollen die Palästinenser nicht
akzeptieren.
Solange nur Minister Muhammad Dahlan diese Ansprüche erhob, glaubten die
Israelis, das ignorieren zu können. Doch nachdem sich auch
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas dieser Forderung anschloss, war neues
Konfliktpotential entstanden: "Da ist noch Land im nördlichen und östlichen
Gazastreifen unter Okkupation. Wir müssen über die Details verhandeln, um
zurück zur ursprünglichen Grenze zu gelangen." Das bedeutet akute Gefahr
einer Forstsetzung der Kämpfe mit allen bekannten Folgen, darunter auch
einem erneuten israelischen Einmarsch.
Nach israelischer Auffassung wurde die Grenze mitsamt der Korrekturen mit
der Unterschrift Arafats unter die Osloer Verträge akzeptiert. Eine Rückkehr
zur Waffenstillstandslinie von 1949 wäre ein gefährlicher Präzedenzfall.
Zwischen dem Westjordanland und Israel wurde mit Jordanien ebenfalls ein
Landtausch vollzogen. Die dichteste Konzentration israelischer Araber,
darunter die Stadt Umm-El-Fachem mit 30.000 Einwohnern, wurde einvernehmlich
von Jordanien an Israel abgetreten. Eine Übergabe dieses arabischen
"Dreiecks" mit zehntausenden arabisch-israelischen Staatsbürgern an den
künftigen palästinensischen Staat dürfte auf erhebliche Widerstände stoßen,
trotz arabischer Klagen über Diskriminierung in Israel.
© Ulrich Sahm / haGalil.com
hagalil.com 11-09-2005 |