Siedler-Proteste im Gazastreifen:
Ein Band teilt das Land
An den Farben sollt ihr sie erkennen: Die Siedler tragen Orange,
Befürworter des Abzugs Blau – der Fabrikant Roni Razor verdient auf beiden
Seiten.
Von Thorsten Schmitz -
sueddeutsche.de
Tel Aviv, 19.Juli – Roni Razor sitzt in kurzen Hosen und
mit einer schweren Goldkette um den Hals in seinem Büro, eine altersschwache
Klimaanlage scheppert gegen die Hitze an, pausenlos klingelt eines seiner
drei Handys.
Razor entschuldigt sich für den „Balagan“ um ihn herum, für das Chaos in
seiner Textilfabrik, und dass er nicht anständig angezogen sei: „Ich hab
einfach für nichts mehr Zeit“, sagt er und bittet eine Angestellte um zwei
Tassen Kaffee.
Er schlürft, zieht seine Nase geräuschvoll hoch und fragt: „Von welcher
Zeitung bist du noch mal? Ich kann mir einfach nichts merken.“ Roni Razor
ist schon jetzt der Gewinner des für Mitte August geplanten Abzugs Israels
aus dem Gaza-Streifen, womöglich sogar der Einzige, und deshalb ein viel
gefragter Mann.
Die Entscheidung der israelischen Regierung, die 8000 jüdischen Siedler aus
dem Gaza-Streifen herauszuholen (um so viele der 250.000 Siedler im
Westjordanland halten zu können), setzt Roni Razor in Geld um.
In seiner Textilfabrik in Jaffa südlich von Tel Aviv stellen seine zehn
Angestellten in Akkordarbeit Farbbänder her, die seit Wochen im ganzen Land
von Autoantennen und an Rucksäcken wehen.
Die 80 Zentimeter langen und vier Zentimeter breiten Polyesterbänder sind in
zwei Farben erhältlich, in Neonorange (Abzugsgegner) und in Kobaltblau
(Abzugsbefürworter).
Die Bänder werden vorzugsweise an Straßenkreuzungen verteilt. Nach Angaben
von Siedlersprechern wehen inzwischen zwei Millionen orangefarbene Bänder
von Balkonen und Antennen, an Brautsträußen und an Maschinen-Gewehren –
obwohl Soldaten, die das tun, mit einem Disziplinarverfahren rechnen müssen.
Drei Millionen Stoffstreifen Wenn man
Roni Razor fragt, wie viel er mit der Herstellung der Bänder verdient, lehnt
er sich mit einem breiten Lächeln zurück, faltet die Hände hinter seinem
Kopf und gibt zurück: „Wozu ist das denn wichtig?“
Weil er auch die blauen Bänder herstellt, ist die Frage nach seiner Position
zum Gaza-Abzug geradezu zwingend, aber auch hier möchte er sich nicht
festlegen. An seine Autoantenne habe er einen orange-blauen Mix gezurrt.
Er empfinde mit den Siedlern, auch wenn sie in diesen Tagen mit ihren
Massenprotesten das Land lahm zu legen versuchen und Razor erst vorgestern
zwei Stunden in einem Stau stand, der von Siedlerjugendlichen mit einem
Sitzstreik verursacht worden war. „Die Siedler sind
wunderbare Menschen, findest du nicht? Sie haben im Auftrag der Regierungen
Aufbauarbeit geleistet. Jetzt sollen sie ihre Häuser räumen, natürlich tut
das weh.“
Um nicht in den Ruf zu geraten, auf Seiten der Siedler zu stehen und seine
„blauen“ Auftraggeber von der Friedensbewegung „Peace now“ zu verlieren,
schiebt Razor nach: „Aber so, wie wir uns dem Gesetz fügen müssen, müssen
sich auch die Siedler daran halten.“
Deren Gewalt gegen Soldaten und Polizisten müsse gestoppt werden. „Aber
müssen wir wirklich über Politik reden?“ sagt Razor. Schön sei doch, dass er
für die Produktion der Millionen Stoffstreifen drei arbeitslose Israelis
habe einstellen können, und jetzt sogar Nachtschichten eingelegt würden.
Am Rande des großen politischen Geschehens, das in diesen Tagen mit
Terror-Anschlägen, Vergeltungsoperationen und Siedleraufmärschen
Schlagzeilen macht, treibt der bevorstehende Abzug Israels aus dem
Gaza-Streifen skurrile Blüten – witzige, aber auch traurige, unverschämte.
» Wir sind jetzt vorsichtig, nächsten Sommer
werden wir erst mal gar nichts Orangenes mehr in unsere Kollektionen
aufnehmen. « Sybil Goldfeiner, Chefin
eines Modeladens
|
Weil der Abzug von einem Massenaufgebot
von mehr als 3000 Journalisten begleitet und in alle Welt transportiert
werden wird, hat es sich eine gemeinnützige Soldatenvertretung zur
Aufgabe gemacht, 100.000 Hygiene-Taschen an die Zehntausenden Soldaten
und Soldatinnen zu verteilen. |
Kulturbeutel für die Soldaten
„Wir wollen, dass unsere Jungs frisch rasiert sind, wenn sie
vor laufenden Kameras die Siedler evakuieren“, sagt der Vereinsvorsitzende
Jitzchak Eitan. Im Frauen-Kulturbeutel stecken Shampoo der Marke „Hawaii“
für normales Haar, Flüssigseife, feuchte Tücher, Einwegrasierer, Zahnbürste,
Puder, Deo-Roller und Binden. Bei den Männern fast dasselbe, nur der
Deo-Duft sei „herber“.
Der Abzug ist das alles beherrschende Thema in Israel, in den ersten
Nachrichten am Morgen und den letzten am Abend, in den Kantinen und bei
Theaterpremieren, bei Geburtstagen und in Diskotheken. Wer ein
orangefarbenes T-Shirt trägt, setzt sich dem Verdacht aus, ein
Siedler-Sympathisant zu sein, selbst Ohrringe in Orange können nicht mehr
unbelastet getragen werden, wie eine Schmuckverkäuferin in Tel Aviv klagt.
Die Chefin des Modeladens „comme il faut“, Sybil Goldfeiner, sagt: „Alle
unsere orangefarbenen Kleidungsstücke sind in den Regalen liegen geblieben.
Wir sind jetzt vorsichtig, nächsten Sommer werden wir erst mal gar nichts
Orangenes mehr in unsere Kollektionen aufnehmen.“
Vorigen Donnerstag kamen Hunderte Jugendliche von Kopf bis Fuß in Orange
gekleidet im Disko-Tempel „Dome“ an einer Ausfallstraße Tel Avivs zu einem
„Anti-Abzugs-Rave“ zusammen. Unter dem schlagenden Motto „Ja zu Trance, Nein
zu Transfer“ und zu Hip-Hop-Klängen und House-Musik tanzten die Abzugsgegner
dagegen an, dass der Gaza-Streifen in Zukunft den Palästinensern gehören
soll.
Schai Meir, einer der Party-Macher, erklärte, mit dem Rave wolle man zeigen,
dass das Lager der Abzugsgegner nicht nur aus religiösen Siedlern bestehe,
sondern auch aus ganz normalen weltlichen Jugendlichen, die sich als
„Zionisten“ betrachteten und den Rückzugsplan für „kriminell“ hielten.
Krawall zur Ferienzeit Der Krieg
der Farben führt inzwischen zu fast schon hysterischen Reaktionen der
israelischen Regierung. Einem Parlamentsassistenten in Jerusalem, der seine
Haare aus Solidarität mit den jüdischen Siedlern orange gefärbt hatte, wurde
der Zutritt zur Knesset ebenso verwehrt wie einer Delegation indischer
Besucher.
Diese mussten ihre orangefarbenen Schals aus Delhi in der Polizeiwache vor
dem Parlament abgeben. Während die Abzugsbefürworter mit ihrem israelischen
Flaggen-Blau im orangefarbenen Meer quasi untertauchen, schaffen es die
Gegner, die Stimmung im Lande jeden Tag noch mehr aufzuheizen. Und alle
Mittel sind ihnen dabei recht.
Mehrfach haben sie zu Zehntausenden bereits den Verkehr auf den großen
Autobahnen entlang der Mittelmeerküste durch langsames Fahren blockiert oder
sich gleich auf die Straße gesetzt. Der Protest wird vor allem von
jugendlichen Siedlern getragen, die sich in den dreimonatigen Sommerferien
befinden und, so ein zynischer Kommentator der Tageszeitung Haaretz, „nichts
Besseres zu tun haben, als uns zu ärgern“.
Seit Sonntag versuchen nun die Siedler in einer Art letztem Gefecht, in den
jüdischen Siedlungsblock Gusch Katif vorzudringen, im Süden des
Gaza-Streifens gelegen und Noch-Heimat von rund 6000 Siedlern.
Dort wollen sie bleiben und versuchen, mit ihrer physischen Präsenz den
Abzug in letzter Minute zu verhindern. Seit die Armee das Gebiet jedoch zur
militärischen Sperrzone erklärt hat, ist es jedem untersagt, nach Gusch
Katif einzureisen, der dort nicht wohnt.
Die Siedlersprecher, allen voran Pinchas Wallerstein, warnen vor einem
Blutvergießen, sollte das Großaufgebot an Polizei und Soldaten die Massen
davon abhalten, in den Gaza-Streifen vorzudringen.
Landesweit haben Polizei und Soldaten Hunderte Busse mit Siedlern daran
gehindert, in die Nähe des Gaza-Streifens zu fahren. Viele Demonstranten
sind zu Fuß bis nach Netivot gelaufen, einer Kleinstadt nicht weit vom
Grenzübergang Kissufim.
Geduld nimmt ab Am Dienstag sind
es dann nicht die Polizei-Massen, die den Siedlermarsch stoppen – sondern
eine Hitzewelle. Wegen sengender Sonne kündigen die Protestler an, erst am
Abend weiterlaufen zu wollen.
Die Geduld der israelischen Bevölkerung mit den renitenten Gruppen aber
nimmt mit jedem Tag ab. Die Umfragewerte für einen Abzug steigen. Das liegt
auch daran, dass die Siedler bei ihrem verzweifelten Kampf Tote zumindest in
Kauf nehmen.
Vor zwei Wochen gossen sie Öl auf der Autobahn zwischen Tel Aviv und
Jerusalem aus, und nur durch ein Wunder, sagte ein Polizeisprecher, kam es
zu keinen Unfällen.
Bereits vier Mal haben Räumungsgegner Bombenattrappen an öffentlichen
Plätzen deponiert und damit Panik ausgelöst. Einmal wurde der Busbahnhof in
Jerusalem von der Polizei geräumt, weil eine – angebliche – Bombe in der
Toilette lag.
» Seht ihr denn nicht, dass ihr mit euren
unverschämten Aktionen den Rest Israels gegen euch aufbringt? « |
Als Sprengstoffexperten dem verdächtigen
Objekt nahe rückten und feststellten, dass es sich um eine Attrappe
handelte, fanden sie einen Zettel mit der Botschaft, der bevorstehende
Abzug werde mindestens so „explosiv“ sein wie eine echte Bombe. |
Der Drang der Siedler zum Tabubruch kennt
offenbar keine Grenzen. Immer wieder erzählen sie in Interviews, sie fühlten
sich wie im Holocaust, als Nationalsozialisten die Juden aus ihren Wohnungen
trugen.
Polizisten und Soldaten werden als Nazis beschimpft, Siedlermädchen brüllen
israelischen Soldaten ins Gesicht, nach der Absperrung des Gaza-Streifens
gehe es ihnen „wie im Ghetto“.
Die Radikalen schrecken auch nicht vor der Benutzung gelber Davidsterne
zurück, die sie auf ihre T-Shirts und Blusen pinnen. Und inzwischen malen
manche sogar ihre Ausweisnummer auf den linken Unterarm in Anspielung auf
die eintätowierten KZ-Nummern von Auschwitz.
Neues Leben in den Dünen
Vor einigen Tagen forderte der Leiter der Holocaust-Gedenkstätte, Avner
Schalev, von den Siedler-Rebellen ein Ende der Selbststilisierung zu
Holocaust-Opfern. Schalev nannte deren Taktik „pervers“ und warnte vor
Verunglimpfung der Schoah-Opfer.
Ebenso äußerte sich der Vorsitzende der strikt säkularen „Schinui“-Partei,
Tommy Lapid, selbst Überlebender des Holocausts. Die Instrumentalisierung
der Schoah gegen den Abzug aus Gaza ist für ihn schlicht „skandalös“.
Zugleich machte der eloquente Politiker die wütenden Siedler auf etwas
aufmerksam, was sie in ihrer Wut wohl übersehen haben: „Seht ihr denn nicht,
dass ihr mit euren unverschämten Aktionen den Rest Israels gegen euch
aufbringt?“
Ohnehin werden zusehends kritische Fragen danach gestellt, wie viel Geld die
Umsiedlung den Staat kosten werde. Ein Großteil der Familien aus Gaza wird
eine Heimat in dem unter Naturschutz stehenden Dünengebiet südlich von
Aschkelon am Mittelmeer finden.
Für einen Bruchteil des Marktwertes dürfen sie dort neue Häuser errichten.
Und um ihnen den Start in ein neues Leben so angenehm wie möglich zu machen,
soll der Ort Nitzan eine komplette Infrastruktur erhalten, mit
Bahn-Anschluss, Einkaufszentrum, Kindergärten, Schulen – und einem
Wellness-Center.
(SZ vom
20.7.2005)
hagalil.com 07-08-2005 |