Nach der Abkoppelung:
Scharon, die Siedler und die Räumung
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Die verbreitete Ansicht, dass Ministerpräsident Ariel
Scharon den Gazastreifen geräumt habe, um seinen "Griff auf das
Westjordanland" zu festigen, ist nicht logisch. Er ließ auch vier Siedlungen
im Norden des Westjordanlandes räumen ließ.
Mark Regev, Sprecher des Außenministeriums, erklärte auf
Anfrage: "Mit der Räumung der vier Siedlungen in Samarien wollte die
Regierung signalisieren, dass es nicht allein bei Gaza bleibe. Das
freigeräumte Gebiet in Samarien ist dreimal so groß wie der Gazastreifen.
Noch ist kein Datum für dessen Übergabe an die Palästinenser festgesetzt.
Die Armee wird in dem Gelände bleiben. Aber entsprechend dem Verhalten der
Palästinenser im Gazastreifen, vor Allem die Zerschlagung der
Terror-Infrastruktur, könnte Israel jederzeit den Palästinensern ein
weiteres zusammenhängendes Territorium als Geste übergeben." Das
widerspricht freilich nicht Scharons Erklärungen, vorläufig nichts mehr
räumen und bestehende Siedlungen, die Israel ohnehin behalten will,
auszubauen und zu festigen. Auch die
Behauptung, dass Scharon die Fernsehbilder eines schmerzhaften Abzugs
benötige, um der Welt zu beweisen, dass Israel nicht die Kraft zu einem
weiteren Rückzug im Westjordanland habe, entbehrt der Logik. Denn die
Räumung vollzog sich schneller und gewaltloser als geplant oder befürchtet.
Scharon brachte mit seinem Rückzugsbeschluss die
Siedlerbewegung, den rechten Flügel seiner Likudpartei und die
nationalreligiösen Kreise gegen sich auf. Die Hetze gegen den früheren
"Vater der Siedler" übertraf die Diffamierungen Jitzhak Rabins. Scharon
wurde Verbrecher und Hochverräter geschimpft. Wie bei Rabin veranstalteten
fromme Extremisten Zeremonien mit Todesflüchen. Scharon wurde mit Hitler
gleichgestellt und in einer Siedlung schaufelte man ihm sogar ein Grab neben
symbolischen Gräbern der schlimmsten Judenverfolger: Pharao, Hitler und
Arafat. Unter diesen Umständen ist undenkbar, dass der Rückzug eine
Verschwörung der Siedler, der Presse und Scharons war, um den Griff auf das
Westjordanland zu festigen. Auch wenn
manche Abschiedsszenen reines Theater für die Kameras waren, so gab es doch
bei vielen Siedler große Wut auf die eigene Regierung, verschaukelt worden
zu sein, ohne palästinensische Gegenleistung und ohne Hoffnung auf Frieden.
Trotz Verständnis für den Schmerz der Siedler, aus ihren
Häusern vertrieben worden zu sein, machte sich die Siederbewegung bei der
israelischen Bevölkerung zunehmend unbeliebt. Es begann mit der
Verunglimpfung der Schoah durch das Tragen eines gelben Davidsterns an der
Brust. Die Sperrungen der Hauptverkehrsadern stießen auf wenig Gegenliebe
bei tausenden Autofahrern im stundenlangen Stau. Die Wut steigerte sich, als
Öl und Nägel auf Autobahnen verschüttet wurden.
Während der Räumung begaben sich die Siedler weiter ins
Abseits. Der Missbrauch von Kindern und Babies als "Schutzschild" gegen die
Räumtrupps löste instinktiv Abscheu aus. Die Kleinkinder sind von ihren
herzlosen Eltern als politische Kampfmittel trainiert worden. Das Ansehen
der nationalistischen Siedlerbewegung erlitt den schwersten Schaden durch
die ungezügelten verbalen Attacken auf die zur Räumung abkommandierten
Soldaten und Polizisten. Denn die Rückzugsgegner verunglimpften die Nation
und jene, die eine demokratisch abgesegnete Regierungspolitik vollziehen
mussten. Mit dem verbrennen, zerreißen und zertrampeln der Nationalflagge
stilisierten sich die einst feurigen Patrioten zu Staatsfeinden hoch. Die
Siedlerführer veröffentlichten keine Distanzierung für symbolische Akte der
schlimmsten Feinde Israels. Bei allem
Streit in Israel gibt es einen Konsens, an dem niemand zu rütteln wagte: die
Armee. Im Prinzip wird jeder eingezogen, Männer wie Frauen. Deshalb
empfinden die meisten Israelis eine Verunglimpfung der Armee auch als eine
persönliche Beleidigung. Das Verhältnis zu den Soldaten ist in Israel
persönlicher als in Ländern mit Berufsarmeen oder in Deutschland, wo "Mann"
nur 18 Monate dient und viele freigestellt werden. In Israel dienen Männer
drei und Frauen zwei Jahre. Hinzu kommt der jährliche Reservedienst. Deshalb
gibt es kaum eine Familie, in der nicht gerade ein Sohn, Bruder oder Vater
Uniform trägt. Jetzt, nach dem Abzug
machen sich die Siedler zusätzlich unbeliebt. Hunderte Familien verweigerten
von der Regierung angemietete Wohnung, verschmähten in aller Eile errichtete
provisorische Wohnsiedlungen, zogen demonstrativ in Zeltlager und stellten
finanzielle Forderungen. Wegen Intifada und Wirtschaftskrisen lebt ein
Drittel der Israelis unter der Armutsgrenze. Nur wenige bringen Verständnis
für die umgesiedelten Siedler auf. Jahrelang lebten sie fast kostenlos in
subventionierten Villen und jetzt erpressen sie schamlos den Staat.
Gerade weil Scharon den Abkopplungsplan als einseitigen
Schritt und nicht als Friedensgeste konzipiert hat, dürfte eine israelische
Bereitschaft zu weiteren Räumungen weitgehend von der palästinensischen
Reaktion im geräumten Gazastreifen abhängen.
© Ulrich Sahm / haGalil.com
hagalil.com 24-08-2005 |