Shalom:
Jüdisches Leben in Frankfurt
Die
Synagoge im Westend, das Jüdische Museum am Main, Michel Friedman im
Fernsehen. Und sonst? Obwohl jeder 100. Frankfurter jüdischer Herkunft ist,
wissen viele der 99 übrigen kaum etwas über das Leben ihrer Mitbürger. Das
Journal Frankfurt hat sich auf die Suche
begeben und festgestellt, wie vielfältig der Alltag von Juden in Frankfurt
wieder, aber auch wie spannungsreich er noch immer ist.
Von Christian Sälzer und Harald Schröder (Fotos)
Erschienen in: Journal
Frankfurt 12, Juni 2005
Ein Tag Anfang Mai. Im "Stiberl" in der Westendsynagoge
üben sich zwei Talmudschüler im Zweierdisput. Einige Straßen weiter spricht
ein Vater die Beschneidung seines Neugeborenen mit dem Rabbiner ab. Während
in einem Geschäft auf der Hanauer die Regale nach dem Pessachfest wieder mit
Matze aufgefüllt werden und im Interconti eine koschere Abendveranstaltung
vorbereitet wird, treffen sich im Altenzentrum der Gemeinde
Holocaust-Überlebende zu Kaffee und Kuchen. Eine kürzlich aus Weißrussland
zugezogene Jüdin meldet sich im Bürgeramt an, und die Fußballer des TuS
Makkabi verlieren wieder mal ein Bezirksoberliga-Spiel.
"Wir sind ein gut funktionierendes 7000-Seelen-Dorf in der
Stadt", beschreibt Susanna Keval, leitende Redakteurin der Jüdischen
Gemeindezeitung, die Situation ihrer Gemeinde. Ein Dorf mit Alteingesessenen
und Neuzugezogenen, mit Orthodoxen, Liberalen und säkularisierten
Mitgliedern, mit Klatsch und Tratsch, mit internen Streitigkeiten und
innerem Zusammenhalt. Ein Dorf in der Stadt, so wie die Sossenheimer, die
Buddhisten oder die koreanische Community ein Dorf in der Stadt bilden, und
doch ganz anders. Keval: "Nach 1945 war es lange Zeit eine offene Frage, ob
man sich als Jude wieder mit einem Leben in Deutschland arrangieren konnte
und wollte."
Noch am 15. März 1945, mehr als zwei Monate nach der
Befreiung von Auschwitz, deportierte die Gestapo die letzten fünf
Frankfurter Juden, derer sie habhaft werden konnte, nach Theresienstadt. Als
elf Tage später die US-Truppen in Frankfurt einrückten, lebten noch 146 der
einst 30 000 Gemeindemitglieder in Frankfurt. Ihr Eigentum, ob Jung oder
Alt, Arm oder Reich, aus dem liberalen West- oder dem orthodoxen Ostend, war
auf 15 000 öffentlichen Versteigerungen "arisiert" worden, sämtliche
Einrichtungen waren zerschlagen und die großen Synagogen niedergebrannt.
Zwölf braune Jahre hatten das Frankfurter Judentum mit seiner
jahrhundertelangen Tradition ausgelöscht und jede Kontinuität unmöglich
gemacht. "Nie wieder Auschwitz", ja – aber "je wieder" ein Leben mit Kippa,
Thora und Kandelaber im Land der Täter?
"Die Nachkriegsgemeinde musste notwendig eine andere sein, da fast alle
Verbindungen zur Zeit vor 1933 gekappt waren", erklärt Michael Lennarz,
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Jüdischen Museum. Den meisten derjenigen,
die eine neue Jüdische Gemeinde gründeten, war Frankfurt fremd und
verdächtig. Sie stammten aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und
Rumänien und waren als Überlebende und Vertriebene in einem Camp für so
genannte Displaced Persons in Zeilsheim gestrandet. Menschen, die alles
verloren hatten, traumatisiert waren – und so schnell wie möglich weg von
hier wollten. Tausende zogen nach Israel und in die USA, und selbst die
wenigen, die blieben, packten ihre Koffer nicht aus. Feinfühlig und
misstrauisch gegenüber der Stadt und einer Bevölkerung, die noch immer
behauptete, von nichts gewusst zu haben, führten viele der neuen Frankfurter
Juden ein zurückgezogenes, weitgehend abgeschottetes Leben. Die Jüdische
Gemeinde ähnelte mehrere Jahrzehnte einem Schneckenhaus. Das änderte sich
erst dadurch, dass, wie Lennarz sagt, "auch sie ihr 68 erlebte".
Tatsächlich sind im Windschatten des langjährigen
Gemeindevorsitzenden Ignatz Bubis peu à peu Nachkommen der
"Erlebnisgeneration" in den Vordergrund gerückt, denen eines gemeinsam war:
Sie legten die Scheu ihrer Eltern ab und mischten sich in öffentliche
Debatten ein. Deutlich sichtbar wurde das erstarkte Selbstbewusstsein Mitte
der Achtzigerjahre bei den Protesten gegen das Theaterstück von Rainer
Werner Fassbinder "Der Müll, die Stadt und der Tod" und gegen die Zerstörung
der bei den Bauarbeiten für das neue Gebäude der Stadtwerke gefundenen
Überreste der historischen Judengasse. Vor allen Dingen aber streifte diese
Generation das schlechte Gewissen der Eltern ab, nicht nach Israel
ausgewandert zu sein, und stellte die gepackten Koffer in die Ecke. Diese
Perspektive brachte vieles in Bewegung – nach innen wie nach außen: die
Eröffnung des Jüdischen Museums, der Start der alljährlichen Jüdischen
Kulturwoche, die Restauration der Westendsynagoge oder die Einrichtung des
Fritz-Bauer-Institutes zur Erforschung der Wirkungsweise des Holocaust.
Symbolischer wie faktischer Höhepunkt aber war 1986 die Eröffnung des von
Salomon Korn entworfenen neuen Gemeindezentrums im Westend. Die Botschaft
war klar: Frankfurt sollte nicht mehr nur Übergangsstation sein, sondern ein
Zuhause werden. Für viele
wurde es das auch. Längst stellt Frankfurt wieder ein Zentrum jüdischen
Lebens in Deutschland dar. Internationale zionistische Organisationen wie
die Jewish Agency for Israel und Keren Hayesod mit dem neuen Vorsitzenden
Michel Friedman, die in der Diaspora den Aufbau Israels unterstützen, haben
ihren Sitz ebenso am Main wie die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in
Deutschland. Vier jüdische Zeitschriften werden hier herausgegeben. Das Wort
der "Frankfurter" hat im Berliner Zentralrat Gewicht. Kern der hiesigen
jüdischen Community aber ist das Gemeindezentrum, in dem eine Vielzahl
sozialer und kultureller Einrichtungen untergebracht ist, von einem Hort
über ein koscheres Restaurant bis zur Isaak-Emil-Lichtigfeld-Schule. Und
längst reicht der Platz nicht mehr, denn die Gemeinde wächst rasant. Nicht
aus sich heraus, sondern durch den Zuzug von außen.
Seit 1990 gestattet ein Erlass der Bundesregierung Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion, dauerhaft nach Deutschland zu kommen. Mehr als hunderttausend
sind gekommen, auch in Frankfurt stellen die so genannten
Kontingentflüchtlinge inzwischen die Hälfte der Gemeindemitglieder. "Ohne
diese Zuwanderung wären wir kulturell verarmt und in wenigen Jahren
demographisch ausgestorben", beschreibt die Leiterin der Sozialabteilung,
Dalia Moneta, diese Entwicklung. Unumstritten ist sie gleichwohl nicht.
Moneta: "Die Religiösen waren enttäuscht, weil die neuen Mitglieder nicht
freudig in die Synagoge liefen. Und alteingesessene Holocaust-Überlebende
waren irritiert darüber, welch ungebrochenes Verhältnis zu Deutschland sie
haben." Plötzlich gab es Juden, die sich ohne zu zögern einbürgern ließen,
und einen anderen Bezug zu den Jahren zwischen 33 und 45 haben: In der
Tradition der Roten Armee kommen sie als stolze Sieger von einst. Damit aber
ist die in der Gemeinde bislang vorherrschende Erinnerungskultur
durcheinander geraten. Während die einen am 9. November der Opfer der
Reichspogromnacht gedenken, begehen die anderen am 9. Mai die erfolgreiche
Niederwerfung von Nazi-Deutschland.
Sie haben die Nazis besiegt:
Rote-Armee-Veteranen am 9. Mai
im Gemeindezentrum Ist
die Thora unmittelbar Gottes Wort und damit unveränderbares Gesetz oder darf
sie an die jeweiligen Zeitumstände angepasst, also "modernisiert", werden?
Der Streit zwischen orthodoxer und liberaler Auslegung hat im
Rhein-Main-Gebiet Tradition. Von Frankfurt aus strahlte das Reformjudentum
im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis in die USA hin aus, in Offenbach wurde
gar die erste Rabbinerin weltweit ordiniert. Im Gegensatz dazu bestimmte die
Orthodoxie die Nachkriegsgemeinde. Dies zum einen deshalb, weil die Mehrzahl
der Gründungsmitglieder im "orthodoxen Osteuropa" aufgewachsen waren. Zum
zweiten, weil sich innerhalb der jüdischen Überlebendengeneration eine
Deutung der Geschichte durchgesetzt hatte, derzufolge die liberale Anpassung
an nichtjüdische Lebensweisen und religiöse Beliebigkeit die Vernichtung mit
möglich gemacht hätten. Entsprechend kehrten die Nachkriegsgemeinden zu
alten konservativen Werten zurück. So kommt es, dass der Gottesdienst in der
Westendsynagoge bis heute einem traditionellen Ritus in hebräischer Sprache
folgt und Frauen getrennt von den Männern auf der Empore Platz nehmen
müssen. Und so kommt es auch, dass sich die Gemeinde mit Veränderungen lange
Zeit sehr schwer getan hat.
Immer mehr Mitglieder aber graben die liberale Tradition
wieder aus. 1994 hat sich etwa die Gruppe Egalitärer Minjan gegründet, die
jeden zweiten Freitag einen gleichberechtigten Gottesdienst feiert, bei dem
es beispielsweise auch Frauen gestattet ist, den jeweiligen Thora-Abschnitt
vorzulesen. Inzwischen darf die Gruppe ihren Gottesdienst in Gemeinderäumen,
nicht aber in der Synagoge abhalten.
Die Auseinandersetzung darum, wie viel Unterschiedliches
unter dem Gemeindedach Platz findet, hat gerade erst begonnen. Doch ob
orthodox-konservativ oder liberal-reformerisch, die entsprechende Haltung
schlägt sich nur selten in der konkreten Lebensführung nieder. Lediglich
eine Minderheit besucht regelmäßig die Synagoge, wenige befolgen die
Schabbatgebote und nur einzelne Fromme tragen Schläfenlocken. Auch die
Jüdische Gemeinde hat sich säkularisiert. "Jüdisch zu sein ist heute vor
allem ein Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit", sagt Susanna Keval. Manche
haben die jiddische Musik für sich wieder entdeckt, andere lernen Hebräisch
oder wie man koscheres Essen zubereitet, dritte interessieren sich für
deutsch-jüdische Tradition. In Deutschland ist das auch ein persönlicher
Kampf gegen die Geschichte. "Es gibt schon so eine Art Trotz zu zeigen, dass
auch Juden in der Stadt leben", erzählt Dalia Moneta.
Auch der in Zeilsheim lebende Daniel Kempin hat diesen Kampf
geführt. Als Christ aufgewachsen, erfuhr er erst als Erwachsener, dass seine
Mutter jüdisch war, sich in der Nazi-Zeit aber hatte taufen lassen, um der
Deportation zu entgehen. Daraufhin kehrte er zum jüdischen Glauben zurück.
Heute gibt er Konzerte jiddischer Lieder für ein jüdisches wie ein
nichtjüdisches Publikum. Und er ist überzeugt: "Je freier man seine eigene
Identität entwickeln kann, umso leichter fällt es auch, Brücken zu bauen."
Durch solche interkulturellen Veranstaltungen und unzählige persönliche
Begegnungen sind viele Ressentiments abgebaut worden.
Immer wieder aber werden alte Wunden aufgerissen und neue
Verunsicherungen ausgelöst – sei es durch die Rede von Martin Walser in der
Paulskirche vor einigen Jahren über die "Moralkeule Auschwitz", sei es, dass
Spieler vom TuS Makkabi antisemitisch beschimpft werden. Die langen Schatten
der Geschichte zeigen sich auch in vielen kleinen Momenten, die Nichtjuden
kaum bewusst sind. Etwa dann, wenn bei jüdischen Eltern die Frage aufblitzt,
was die Großeltern ihres christlichen Schwiegerkindes zwischen 33 und 45
gemacht haben. Oder die Sorge, Gedenkstätten oder Gräber könnten geschändet
werden. Oder die Scheu, hierzulande Antiquitäten zu erwerben, könnten diese
doch einst "Arisierungsbeute" gewesen sein.
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Sollten die 7000 Frankfurter
jüdischer Herkunft heute tatsächlich ein Dorf bilden, dann ist es ein sehr
buntes, in dem es wahrscheinlich 7000 unterschiedliche Bezüge zu der eigenen
Tradition, Religion und Israel gibt. Es ist ein Dorf, das sich rasant
vergrößert und verändert. Ein Dorf, das sich hier eingerichtet hat und
dessen Einrichtungen doch noch immer unter ständigem Polizeischutz stehen.
Das sich längst aus der dem Holocaust folgenden Starre gelöst hat, gleichsam
aber wachsam geblieben ist, ob sich die Zeichen der Zeit verändern. Bis zu
einer Zukunft, in der eine "deutschjüdische Normalität" ohne
Anführungszeichen auskommt, ist es auch in Frankfurt noch ein weiter Weg.
Aber viele Schritte sind gemacht.
Ein Tag Ende Mai. Vor der Westendsynagoge tritt ein Polizist
seinen Wachdienst an. Ein Mann ist irritiert über die Frage seines
Arbeitskollegen, ob er denn jüdischer Deutscher, deutscher Jude oder Jude in
Deutschland sei. Eine Initiative verfasst einen Brief, in dem zur Erinnerung
an einen ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiter die Umbenennung des
Günthersburgplatzes in "Norbert-Wollheim-Platz" gefordert wird. Und im
Riederwald erzählt der Transportunternehmer Dieter Carl auf Nachfrage eines
Journalisten, dass er immer weniger Aufträge erhält, Umzüge von Deutschland
nach Israel zu organisieren.
Fotos: © Harald Schröder, Journal Frankfurt
hagalil.com 07-08-2005 |