Antisemitische Semantik im öffentlich-rechtlichen Kossuth Rádió:
Die "Judenfrage" in Ungarn
Von Magdalena Marsovszky
Erschienen bei: http://igkultur.at/
In Ungarn wird der Antisemitismus vielfach mit dem
antisemitischen Begriff "Judenfrage" oder "jüdische Frage" umschrieben, so
z.B. auch in den öffentlich-rechtlichen Medien. Diese Bezeichnungen spiegeln
die in der ungarischen Bevölkerung vorherrschende Auffassung wider, dass der
Antisemitismus eigentlich das Problem einer "Minderheit" (nämlich der Juden)
sei. Obwohl der Begriff Antisemitismus als eine gegen Ende des 19.
Jahrhunderts von den Vertretern der Doktrin erfundene bewusste
Selbstbezeichnung ebenfalls nicht unproblematisch ist, hat sich in den
letzten Jahren in der Forschung ein Konsens um seinen Gebrauch
herausgebildet. Demnach können die Ansätze, in denen er geistig-strukturell
erkennbar ist, nur dann aufgedeckt werden, wenn man ihn als erweiterten
anthropologischen Begriff, z.B. als "kulturellen Code" (S. Volkov) oder als
"Weltanschauung" (K. Holz) interpretiert. Was heißt das genau?
Die anthropologische Verschiebung des Antijudaismus zum Antisemitismus im
Zuge der tiefgreifenden Säkularisierung der Aufklärung sowie die Bedeutung
Herders und die Vorstellung von Volk und Volkscharakter führten dazu, dass
Juden nicht mehr wegen ihrer Religion, mit Hilfe der Theologie, sondern
wegen ihres vermeintlich anderen Volkscharakters, mit Hilfe der
Anthropologie, abgelehnt wurden. Gleichzeitig verselbständigten sich die
jahrhundertealten, auf eine bestimmte, identifizierbare Gruppe zielenden
negativen Stereotype und konnten nunmehr auch auf Menschen oder Gruppen
angewandt werden, die mit der jüdischen Religion nichts gemein hatten. Auch
in Ungarn richtet sich der Antisemitismus nicht nur gegen Juden oder
vermeintliche Juden, sondern gegen all diejenigen, die im Gegensatz zum
Blut- und Bodenmythos den Kosmopolitismus, die Urbanität und die
Intellektualität verkörpern. Die ungarische Variante des Antisemitismus kann
also als "kulturelle Haltung" definiert werden und hängt in erster Linie mit
dem Kulturnationalismus des Landes zusammen.
Ungarns Kulturpolitik unterliegt ein – je nach Einstellung der Regierungen
unterschiedlich ausgeprägter – nationalistischer Kulturbegriff, dessen Basis
das romantische Ideal der Nation und ein ethnischer Volksbegriff bilden.
Dieser Kulturnationalismus basiert auf der Volks- und Kulturbodenthese,
wonach die 1920 infolge des Vertrags von Trianon abgetrennten Gebiete
kulturell noch immer zu Ungarn gehörten und die dort lebenden ungarischen
Minderheiten (symbolisiert durch die "Heilige Krone" St. Stephans aus dem
10. Jahrhundert) als "Magyarentum" zusammengefasst würden. Das auch unter
dem Einfluss der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich Ende des
19. Jahrhunderts entstandene völkische Denken in Ungarn, das die 45 Jahre
Realsozialismus – zwar in abgeschwächter Form, aber dennoch – überlebt
hatte, erlebte nach 1989/90 eine neue Blüte, und mit ihm taute der im
völkisch-konservativen Milieu des Landes traditionell vorhandene und im
Realsozialismus latent erhalten gebliebene Antisemitismus wieder auf.
Ausgehend von einem ethnisch definierten "Magyarentum" kämpfte bereits die
erste demokratisch gewählte nationalkonservative Regierung (1990-1994) um
eine "authentische" Werteorientierung und um die "Reinheit" der Kultur. In
der Zeit der zweiten nationalkonservativen Orbán-Regierung (1998-2002)
erfuhr der Versuch der kulturellen Homogenisierung eine Verschärfung: Nie
zuvor wurde politischem Marketing als Strategie im Transformationsprozess
des Landes ein ähnlich hoher Stellenwert beigemessen, und nie zuvor wurden
die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, für die operative
Kommunikation der Regierung so unmittelbar instrumentalisiert wie in diesem
Zeitraum.
Für die innere Kommunikation des Kossuth Rádiós, des meistgehörten unter den
drei landesweit (und auch über die Landesgrenzen hinaus) ausgestrahlten
öffentlich-rechtlichen Programmen des Nationalsenders Magyar Rádió bedeutete
das die Verfolgung des 1993 von der Regierung aufgestellten und inzwischen
zum Slogan gewordenen Prinzips:
"Mehr-junge-Redakteure-mit-gesundem-ländlichen-Verstand-in-den-Rundfunk!",
was 1999 bereits konkret dazu führte, dass "Neonazis in die sorgfältig
entjudeten Schlüsselpositionen der öffentlich-rechtlichen Medien" (so G.M.
Tamás in einem Artikel in der liberalen Tageszeitung Magyar Hírlap) gesetzt
wurden. Eine Minderheit von andersdenkenden Redakteuren und Redaktionen wird
seitdem permanentem Druck ausgesetzt.
Die in der Zwischenzeit (1994-1998) sowie seit 2002 regierenden
sozialistisch-liberalen Regierungskoalitionen vermochten und vermögen dem
nicht viel entgegenzusetzen. Erstens, weil sie keinen alternativen
(demokratischen) Kulturbegriff anbieten können. Zweitens, weil sie offenbar
fürchten, dass jede – so auch eine demokratisch orientierte – Einmischung
den Verdacht der Zensur und damit einer möglichen Nähe zu den ehemaligen
realsozialistischen Machthabern wecken könnte. Drittens, weil sie auf eine
gestaltende Kultur- und Medienpolitik verzichten. Da Kulturpolitik im
Realsozialismus für die "Erziehung des sozialistischen Menschen" zuständig
war, ist sie kein Gegenstand progressiver örtlicher politischer Diskurse.
Die sozialistisch-liberalen Koalitionen überlassen deshalb die
öffentlich-rechtlichen Medien vielfach dem Druck der Quote und des Marktes.
Die nationalkonservative Rechte betreibt demgegenüber zusammen mit der
Intendantin des Magyar Rádiós an der Frontlinie eine konsequent durchdachte
Kultur- und Medienpolitik "zum Schutz des Magyarentums". Da in Ungarn
nicht-kommerzielle Lokalsender äußerst rar sind und in großen Teilen des
Landes (außer dem Fernsehen) nur das öffentlich-rechtliche Radio empfangen
werden kann, ist sein Einfluss im gesellschaftspsychologisch geteilten Land
Ungarn erheblich. Trotz zurückgehender Einschaltquote in den letzten Jahren
blieb das Kossuth Rádió der meistgehörte Hörfunksender Ungarns.
Die Basis der Gesamtkommunikation des Senders wird seit etwa 15 Jahren durch
den erwähnten Kulturnationalismus gebildet, der wiederum Teil des
ethnozentrischen Homogenisierungsversuchs der ungarischen nationalen Kultur
nach (vermeintlich) ethnischen bzw. völkischen Gesichtspunkten ist. Dies
spiegelt sich in vielen Sendungen des Kossuth Rádiós wider, das sich im
Großen und Ganzen als Vertreter der "Rechten" und der "wahren Magyaren"
versteht, die tiefe mentale Gräben von den "Linken", den "hungarophoben
Feinden des Volkes", den "nicht-ungarischen Vaterlandsverrätern" trennen.
Besonders auffällig ist dies im "Sonntagsmagazin", der meistgehörten
Magazinsendung des Programms. Seine ungewöhnliche Sendezeit (morgens ab 6
Uhr) geht auf die reformkommunistischen Anfänge 1987 zurück, als es als
oppositionelles Programm eigentlich ins Abseits gehörte. Eine redaktionell
erstellte Konzeption der Sendung wird zwar bestritten, dennoch trägt sie
erheblich zur völkischen Bewegung Ungarns bei, in der
Magyarentums-Organisationen in den Nachbarstaaten lebende ungarischsprachige
Minderheiten kulturell an das Mutterland anzubinden versuchen. Das Programm
wird daher konsequent im Zeichen des nationalen Mythos der Stephanskrone,
des Symbols eines "christlichen Großungarn", gestaltet. Die grundsätzliche
Aufgabe von nationalen Mythen wie auch eines homogenen Kulturverständnisses
ist jedoch die "Inklusion" und "Exklusion". So werden im Inneren des Landes
Feindbilder im Verhältnis zur vermeintlich kulturell und ethnisch homogenen
Gemeinschaft ausgemacht. Als "innere" Feinde des "Magyarentums" erscheinen
der Liberalismus und die kosmopolitische, internationale und urbane
Lebenswelt, der Kapitalismus, der Sozialismus und der Universalismus, durch
die die authentische Kultur verwestlicht und fremden Einflüssen ausgesetzt
werde. Der wurzellose "Fremde", der Zerstörer der nationalen Kultur, der
keine Identität hat, müsse daher ausgegrenzt werden.
Die "Ethnisierung" des "Magyarentums" sowie die Ausgrenzungstendenzen gegen
die "Fremden" erfuhren inzwischen durch das Auftauchen biologistischer und
rassistischer Elemente in der Sendung eine völkisch-rassistische Zuspitzung.
So wurden z.B. die Sozialisten "internationale Menschen", "Zerstörer des
Magyarentums und der Nation" und "Vasallen der Globalisierung" genannt, die
"entartet" seien. Die "wahren Magyaren" werden dagegen als höhere
"Menschenart" und "Rasse" bezeichnet, und der "wirtschaftliche Lebensraum im
Karpatenbecken" (so Viktor Orbán am 27.1.2002) wird als positive Vision
gezeichnet. Wollte man das Ziel dieser permanenten "Magyarisierungskampagne"
und Mobilisierung zusammenfassen, so hieße es kurz: "Rettung des
Magyarentums". Gemeint ist in erster Linie eine Rettung im kulturellen Sinn,
denn nach der Auffassung vieler würden die kulturellen Eigenheiten des
Landes nach der EU-Integration in einem kulturellen "Einheitsbrei" aufgehen.
In zweiter Linie wird die Rettung aber als Schutz der "wahren Magyaren", die
sich auch als "wahre Christen" definieren, vor den "Feinden der Nation" im
eigenen Land verstanden. Das ist aber die gesamte ungarische politische
Linke. So fielen auch schon die Ausdrücke "Nationalsozialismus" und
"heutiger ungarischer Genozid", jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Man
meinte damit die Ausgrenzung der Magyaren aus der eigenen Kultur durch die
"Kosmopoliten". Suggeriert wird eine gradlinige Kontinuität von der
stalinistischen Diktatur bis zu der gegenwärtigen sozial-liberalen
Regierung, den "Postkommunisten", wie sie genannt werden, und man spielt
permanent auf die Fremdbesetzung Ungarns durch die eigene Regierung an.
Nicht zuletzt blühen auch Verschwörungstheorien. So wird der antisemitische
Diskurs durch einen "postkolonialen", gegen die EU gerichteten Diskurs
potenziert; beide treffen z.B. im Ausdruck "Eurozionismus" aufeinander, der
für eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung mit der EU steht. Da alles,
was vom nationalkonservativen Diskurs abweicht, als existenzielle Bedrohung
empfunden wird, artet die als gerecht empfundene Selbstverteidigung immer
wieder zum metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse aus, und der
traditionelle Ethnonationalismus wird zu einer Art Ethnoreligion. Daraus
schöpfen die kulturell-nationalistischen "Bürgerrechtsbewegungen" ihre
Kraft.
Die ungarische Variante des Antisemitismus kann als Identitätsproblem der
Mehrheitsgesellschaft bestimmt werden. Es geht in ihm um die "Sorge" um das
eigene "Volk", aus der heraus den "Fremden" die Fähigkeit zur nationalen und
kulturellen Strukturzugehörigkeit abgesprochen, ihre kulturelle, soziale,
religiöse und moralische Minderwertigkeit behauptet und in ihrem Wirken eine
Schädigung nationaler und ethnischer Strukturen erblickt wird. Die
Denkstrukturen dieses "strukturellen Antisemitismus" richten sich gegen
alle, die außerhalb geltender Normen vermutet werden, so z.B. auch gegen
Roma und Homosexuelle. Aus dieser "nationalen Verteidigungshaltung" heraus,
zur Stabilisierung des "nationalen Selbstbewusstseins", entsteht auch das
"patriotische Kulturkonzept" des Kossuth Rádiós und dessen kriegerische
Psychose.
Die Ursachen des heutigen Antisemitismus in Ungarn haben, wie Forschungen
beweisen, sehr viel mit dem bisherigen Prozess der EU-Integration zu tun,
weil dabei vor allem die ökonomischen Gesichtspunkte und viel weniger die
Stabilisierung der neuen Demokratien beachtet wurden. Deshalb ist es
undenkbar, Gegenstrategien im Alleingang zu entwickeln. Es wäre vielmehr
wünschenswert, im kulturpolitischen Dialog zwischen "Ost" und "West"
Grundzüge und Rahmenbedingungen demokratischer Kultur- und Medienpolitiken
zu entwickeln, denn bleibt der Kulturbegriff als Basis undemokratisch, so
wird die Exklusion durch die auf sie aufbauenden kulturpolitischen
Strategien und operativen Maßnahmen automatisiert und immer wieder neu
produziert.
Magdalena Marsovszky ist Kunsthistorikerin und
Kulturmanagerin, lebt in München. Als freie Publizistin liegt ihr
Schwerpunkt auf Ungarns Kultur- und Medienpolitik sowie Antisemitismus als
kultureller Haltung.
Literatur:
Hermann von der DUNK (1999): Antisemitismus zur Zeit der Reichsgründung.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten: ein Inventar, in: Die Konstruktion der
Nation gegen die Juden, hrsg. von Peter ALTER, Claus-Ekkehard BÄRSCH, Peter
BERGHOFF, Wilhelm Fink, München, 65-91.
Klaus HOLZ (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer
Weltanschauung, Hamburger Edition, Hamburg.
Gáspár Miklós TAMÁS, 'Sírrablók és halottgyalázók' (Grabräuber und
Totenschänder), in: Magyar Hírlap (Ungarisches Nachrichtenblatt/ liberale
Tageszeitung), 16. 11. 1999.
Shulamit VOLKOV (2000): Antisemitismus als kultureller Code, C.H. Beck,
München.
Als wäre es gestern gewesen:
Die Erinnerung
von Überlebenden
Das "Schwinden der Erinnerung" können schon heute viele kaum
abwarten. Immer häufiger wird versucht diese Erinnerungen auszuradieren.
Dies stimmt auch für Ungarn...
Antisemitismus:
Ungarns Weg nach rechts außen
Die Medienpolitik der "positiven Diskriminierung" ermöglicht es Abgeordneten
vom rechten Rand, rassistisches und antisemitisches Gedankengut öffentlich
zu machen. Der Hass gilt Liberalen und "Interkosmopoliten"
Nur Polit - Folklore?
Der Antisemitismus
in Ungarn
Da dem Hass erfüllten
ungarischen Kulturkampf ein massiver Antisemitismus zugrunde liegt, der
jedes Mal wächst, wenn eine konservative Koalition das Land regiert, muss
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Hódmezövásárhelykutasipuszta:
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Ungarns Premier Orbán:
Zu
Gast bei den Rechtsradikalen
Regelmäßig besucht der ungarische
Ministerpräsident Viktor Orbán die Redaktion der rechtsradikalen Hetzsendung
,Vasárnapi Újság' (dt. Sonntagsmagazin) des öffentlich-rechtlichen ,Kossuth
Rádió Budapest', so zuletzt Ende Januar 2002...
hagalil.com 28-07-2005 |