Vor dem Rückzug:
Was "im Prinzip" im Nahen Osten alles passiert
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Die Vorgänge in Nahost lassen sich nur noch mit den
Witzen des mythologischen "Radio Eriwan" beschreiben, eine Erfindung aus der
Sowjetunion, um die Widersprüche zwischen Ideologie und Wirklichkeit zu
erklären.
So gilt weiterhin "im Prinzip" zwischen Israel und den Palästinensern ein
Waffenstillstand, während beide Seiten zu ihrem früheren Kriegsgehabe
zurückgekehrt sind. Dabei gibt es eigentlich gar keinen Waffenstillstand. In
Scharm A Scheich haben beide Seiten einseitig "versprochen", Ruhe einkehren
zu lassen. Ohne ein Abkommen zu unterschreiben, versprachen die Israelis,
ihre "Liquidierungen" einzustellen und nicht mehr in palästinensische Städte
einzudringen oder automatisch auf jeden palästinensischen Beschuss zu
reagieren.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas versprach, die Extremistenorganisation
von weiteren Angriffen auf Israel abzuhalten. Zwar erwarteten die Israelis
von ihm, "Terroristen" zu verhaften und Waffen einzusammeln, aber Abbas zog
es vor, mit den Gruppen zu verhandeln und sie politisch einzubinden. So
haben die Palästinensern mit ägyptischer Vermittlung untereinander eine
"Tahidiya" (Ruhe) abgesprochen. Während sich also Israel und Palästinenser
"im Prinzip" in einem Zustand eines Waffenstillstandes befanden, brach unter
den Palästinenser im Gazastreifen ein gewalttätiger Machtkampf zwischen den
Sicherheitskräften des Mahmoud Abbas und den Extremisten aus.
Beide wollen die Macht und Kontrolle im Gazastreifen nach dem israelischen
Rückzug übernehmen. Während es sich also im Prinzip um einen internen Streit
unter den Palästinensern handelt, brachen die Extremisten die Waffenruhe und
schossen Kassamraketen auf israelische Siedlungen. In Wirklichkeit wollten
sie Mahmoud Abbas treffen.
So sprengte sich ein palästinensischer Selbstmordattentäter vor einem
Einkaufszentrum in Netanja und riss fünf Menschen in den Tod. Die Israelis
marschierten daraufhin in die "im Prinzip" unter palästinensische Kontrolle
gestellte Stadt Tulkarem ein, um die Drahtzieher dingfest zu machen. Ebenso
erneuerten sie ihre sogenannten "Liquidierungen", also das gezielte Töten
von gesuchten Terroristen, denen sie auf anderem Weg nicht habhaft werden
können.
Die radikalen palästinensischen Organisationen, vor allen Dschihad Islami
und Hamas, erneuerten daraufhin den Beschuss von Ortschaften in Israel und
Siedlungen im Gazastreifen mit Mörsern und Kassamraketen. In Netiv Haassara
in Israel wird eine junge Frau von einer Rakete getötet. In Sderot werden
Schwimmbad und Kinderhorte geschlossen, nachdem am Wochenende eine
Rekordzahl Raketen in der Kleinstadt explodierten. Mehrere Israelis wurden
teilweise schwer verletzt. Die Toten und Verletzten überschritten die
politische Schmerzgrenze Israels. Panzer und Bulldozer wurden nahe der
Grenze zum Gazastreifen zusammengezogen. Es ist der größte Truppenaufmarsch
seit Januar.
Unverholen droht Ministerpräsident Scharon mit einem Einmarsch im
Gazastreifen. "Ich habe den Militärs freie Hand gegeben, so zu handeln, wie
sie es für richtig halten, um den Terror zu beenden." Doch Scharon meint das
nur "im Prinzip". Denn die Militärs warten immer noch auf den Befehl der
Politiker, vorzurücken.
Das so erzeugte Chaos kann der Hamas dazu dienen, den "schwachen" Mahmoud
Abbas auszuschalten. Denn Scharon stellte an Abbas ein Ultimatum von nur 24
Stunden, die Ordnung wieder herzustellen und den Raketenbeschuss
einzustellen. Andernfalls "wird Israel selber für Ordnung sorgen". Der
angedrohte Einmarsch in den Gazastreifen alarmierte die Ägypter und sogar
die amerikanische Außenministerin. Condoleezza Rice will am Wochenende
persönlich dafür sorgen, dass Abbas nicht durch einen Einmarsch völlig
unglaubwürdig bei den Palästinensern werde und dass Israel ohne
palästinensischen Beschuss den Abzug in genau einem Monat vollenden kann.
"Radio Eriwan" produziert auch innerhalb Israels kuriose Sprüche. So sollte
am Montag (gestern) die größte aller Demonstrationen der Rückzugsgegner
stattfinden. Zehntausende wollten sich am Grab des Heiligen Baba Sali
treffen. Von dort wollten sie in den zum militärischen Sperrgebiet erklärten
Siedlungsblock Gusch Katif einmarschieren, um einen Rückzug unmöglich zu
machen. Die Siedlerorganisation weigerte sich, der Polizei den in allen
Medien groß und breit veröffentlichten Terminplan für die Demonstration
mitzuteilen. Daraufhin hat die Polizei im Prinzip den Marsch der
Rückzugsgegner verboten, aber dennoch zugelassen, um Zusammenstöße mit
Demonstranten zu vermeiden.
Während die rechtsradikalen Israelis glaubten, die Polizei übers Ohr zu
hauen und trotz des Verbots zu marschieren, waren die Ordnungshüter
(vorläufig) noch schlauer. Anstatt eine illegale Demonstration zu
zerschlagen, begaben sich Polizisten zu den allseits bekannten
Sammelstellen, wo angeheuerte Busse darauf warteten, die Demonstranten nach
Netivot zu bringen. Weil die Busfahrer "im Verdacht" standen, Beihilfe zu
einer "illegalen" Demonstration zu leisten, wurden ihnen kurzerhand die
Führerscheine abgenommen. "Im Prinzip können wir niemanden bestrafen, der
noch gar kein Vergehen begangen hat", sagte ein Polizist. "aber wir werden
schon ein Gesetz finden, das es uns erlaubt, die verbotene Demonstration gar
nicht erst zustande kommen zu lassen."
Unter Berufung auf britische Notstandsgesetze aus den zwanziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts wurde das Grenzgebiet zum Gazastreifen zu einem
"militärischen Sperrgebiet" erklärt und in diesem Rahmen kann die Polizei
tatsächlich vorgehen, wie das in einem normalen Rechtsstaat "im Prinzip"
eigentlich undenkbar wäre. Denn im Prinzip sind nur Verstöße gegen das
Gesetzstrafbar, nicht aber die "Absicht".
© Ulrich Sahm/haGalil.com
hagalil.com 20-07-2005 |