Amerikanische Einschätzungen:
Der Tag nach dem Rückzug aus Gaza
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Israel wird sich aus dem Gazastreifen zurückziehen.
Das steht fest." Der ehemalige amerikanische Botschafter in Tel Aviv, Martin
Indyk, hat da keine Zweifel mehr, obgleich es in Israel Widerstand dagegen
gibt, Siedler noch auf ein Wunder hoffen und die palästinensische
Autonomiebehörde immer noch keine richtigen Anstalten macht, mit Israel alle
Einzelheiten einer geordneten Übergabe auszuhandeln.
Zehn Tage lang haben Indyk und Präsident Clintons
Nahostvermittler Dennis Ross mit israelischen wie palästinensischen
Politikern, Analytikern und Experten gesprochen, um zu erkunden, was am "Tag
danach" passieren werde. Vor Journalisten haben sie im Konrad Adenauer
Zentrum in Jerusalem ihre Erkenntnisse ausgebreitet.
Zu ihrem Erstaunen stellten sie fest, dass weder Israelis
noch Palästinenser eine echte Antwort liefern konnten, was "am Tag danach"
geschehen werde. Bis September werde der israelische Abzug aus Gaza und dem
Norden des Westjordanlandes perfekt sein. Für Israel bedeute das Ende der
Besatzung im Gazastreifen "eine historische Wasserscheide" und einen
Präzedenzfall. Für die Palästinenser bedeute es die erste Bewährungsprobe,
ein komplettes zusammenhängendes Gebiet ohne israelische Besatzung zu
beherrschen.
Da Israel den Rückzug als "einseitigen Schritt"
beschlossen habe, ohne "die Bereitschaft der Palästinenser abzuwarten, über
die Modalitäten zu verhandeln", bleibe das Schicksal der israelischen
Infrastruktur ungewiss. Die Siedlerhäuser sollen abgerissen werden, nicht
aber die Gewächshäuser, die Stromleitungen und Abwasserrohre. "Die könnten
den Palästinenser auf einen Schlag 15.000 Arbeitsplätze bieten", sagt Indyk.
Die "Dysfunktion" der palästinensischen Autonomiebehörde könnte jedoch dazu
führen, dass im Gazastreifen Warlords, Bandenchefs, Gangs, die Hamas und die
von Teheran gelenkte Dschihad Islami Organisation die Oberhand gewinnen.
Deshalb sei die Plünderung und Zerstörung der
Gewächshäuser und übrigen Infrastruktur im Siegesrausch der Hamas zu
befürchten. Das würde auf die internationale Gemeinschaft einen sehr
schlechten Eindruck machen, sowie die Palästinenser dann wieder Aufbauhilfe
erwarten. Dennis Ross widersprach an dieser Stelle Behauptungen der Hamas,
die Israelis mit Terror und Gewalt aus dem Gazastreifen "vertrieben" zu
haben. Der wahre Grund für Scharons Beschluss sei die Erkenntnis, dass die
Verantwortung als Besatzer für 1,3 Millionen Palästinenser, nur weil 8000
Siedler im Gazastreifen wohnen, nicht mehr im Interesse des jüdischen
Staates liege.
Problematisch sei auch die Unschlüssigkeit Israels, zum
künftigen Zugang zum Gazastreifen Beschlüsse zu fassen. Sollte der
Gazastreifen ein Gefängnis werden, ohne freien Zugang, wäre dessen
wirtschaftliche Zukunft gefährdet. Indyk deutete an, dass nach dem Rückzug
Amerikaner anstelle von Israelis die Kontrolle an der Grenze zwischen
Ägypten und dem Gazastreifen übernehmen könnten.
Scharon habe den Rückzug beschlossen, um den seit
September 2000 wütenden Krieg zu beenden, nicht um den Friedensprozess
wieder in Gang zu setzen, sagte Dennis Ross. Die von den Osloer Verträgen
ausgehende Vorstellung, dass Frieden Sicherheit bringen werde, sei durch die
Intifada zerstört worden. Jetzt freilich, so Ross, würden die Palästinenser
ein komplettes Gebiet kontrollieren können. "Nach dem Rückzug besteht null
Grund, weiterhin vom Gazastreifen aus Gewalt gegen Israel walten zu lassen",
behauptet Ross. Sollten dennoch Raketen in Richtung Israel fliegen, habe
Israel gemäß internationalem Recht, laut Paragraf 51 der UNO, ein volles
Recht zur Selbstverteidigung. Mit Gewalt würden die Palästinenser auch ihren
Anspruch auf einen Staat verspielen. Präsident Bush sehe mit der Vision
einer Zweistaatenlösung Frieden voraus und nicht eine Basis von Terror und
Krieg.
Die verbreitete Befürchtung, dass Scharon den Gazastreifen
verlasse, um seinen Griff im Westjordanland zu festigen, teilen die beiden
Amerikaner nicht. Aus demographischen Gründen, damit Israel "ein
demokratischer und jüdischer Staat bleiben kann", sehen sie auch einen
Rückzug aus weiten Teilen des Westjordanlandes voraus. "Sowie der Zaun und
die Mauer fertig sind, werden viele Israelis fragen, welchem Zweck die
Siedler jenseits der Grenzbefestigungen noch dienen." Wie im Falle der
Übergabe des Gazastreifens sagten beide amerikanischen Diplomaten auch zu
dem Verlauf des Grenzzaunes: "Verhandlungen und Absprachen zwischen
Palästinensern und Israelis wären natürlich von Vorteil, aber wenn es um die
Interessen Israels geht, mag Scharon nicht mehr dem Willen und den Wünschen
der Palästinenser ausgeliefert sein."
© Ulrich Sahm/haGalil.com
hagalil.com 06-07-2005 |