9. November 1969:
Das abgespaltene Attentat
1969 wollten West-Berliner
Linksradikale die "Reichskristallnacht" nachinszenieren. Bislang
existierte für diese Tat kein Ort im Gedächtnis der Linken.
Von Stefan Reinecke
Am 9. November 1969 deponiert ein junger Mann im
Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße in Berlin eine Bombe.
Sie soll um 11 Uhr 30 explodieren. Aber die Bombe funktioniert
nicht. Ein Draht ist verrostet.
Der Täter wurde seitdem im Dunstkreis des
Kommune-1-Gründers Dieter Kunzelmann und der antizionistischen
Linken vermutet. Ein Flugblatt der "Tupamaros West-Berlin"
verkündete, dass solche Aktionen "nicht mehr als rechtsradikale
Auswüchse zu diffamieren sind. Aus den vom Faschismus vertriebenen
Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem
US-Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen." Kunzelmann
schreibt ein paar Tage später: "Fest steht: Palästina ist für die
BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben
das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknacks." Die Bombe stammte
aus dem Arsenal des Berliner Verfassungsschutzes, namentlich des
V-Manns Peter Urbach. Diese
Fakten haben Jahrzehnte später noch etwas Schwindel erregendes. 31
Jahren nach der "Reichskristallnacht", in der der Nazi-Mob jüdische
Synagogen angezündet hatte, sollte ein jüdisches Gemeindehaus
brennen. Die Bombe legten deutsche Antifaschisten, die, unterstützt
von einem V-Mann, das Pogrom nach inszenieren wollten.
All das ist lange bekannt. Gleichwohl existiert für
diese Tat - ebenso wenig wie für das mutmaßlich von Linksradikalen
verübte Attentat auf ein israelitisches Altersheim in München, das
1970 sieben Menschen das Leben kostete - kein Ort im historische
Gedächtnis der Linken. Diese Taten überschritten nie die
Wahrnehmungsschwelle zum Bedeutsamen, Signifikanten. Sie waren in
ein merkwürdiges Dämmerlicht getaucht, überblendet vom RAF-Terror,
der ein paar Monate später begann - und auch davon, dass man sich
keinen Reim darauf machen konnten, dass der bundesdeutsche
Linksterrorismus mit einem antisemitischen Anschlag begonnen hatte.
Der Politologe Wolfgang Kraushaar hat das Geschehen
untersucht und aus der /twilight zone/ des Abgespaltenen befreit.
Spektakulärstes Resultat ist die Ermittlung des Täters: Albert
Fichter, jüngerer Bruder des SDS-Aktivisten Tilman Fichter, der zu
den SPD-Intellektuellen zählt. Albert Fichter flüchtete 1969,
unterstützt von Tilman, der ihn aus Kriminalität und Drogenkarriere
retten wollte, ins Ausland. Es war jene Zeit, in der es manchmal nur
Zufall war, ob jemand auf einem Fahndungsplakat der RAF landete oder
beim Parteivorstand der SPD.
Kraushaar zeigt, dass Kunzelmann, der in seiner Biografie 1998
leugnete, mit der Aktion etwas zu tun gehabt zu haben, der Spiritus
Rector der Aktion war. Er stützt dies auf plausibel klingende
Aussagen von Albert Fichter und Annekatrin Brunn, die damals zu
Kunzelmanns Gruppe gehörten. Die Tupamaros West-Berlin darf man sich
demnach als eine von Kunzelmann dominierte Gruppe vorstellen, die
von zwei Dynamiken angetrieben wurde: Drogen und einer radikalen
Überbietungslogik. Fichter berichtet, dass er 1969 und 1970 über 200
LSD-Trips nahm, was die Realitätswahrnehmung erschwert haben dürfte.
Zudem ging es darum, durch möglichst militante Aktionen zu beweisen,
dass man zur Gruppe gehörte. Hinzu kam Kunzelmanns Antisemitismus.
So kam es zu dem Anschlag am 9. November 1969.
Muss man nun die Geschichte von "68" umschreiben?
Muss man gar die Deutung der ins Neonazilager abgewanderte
Ex-APO-Aktivisten Horst Mahler und Bernd Rabehl für erwägenswert
halten, die ihre eigenen Verwandlung auf die Bewegung
rückprojizieren und den SDS als deutschnationale Jugendbewegung
übermalt haben? Nein.
Überraschen dürfte der 9. 11. 1969 nur jene, die "68" für einen
ordentlichen Aufstand der Aufklärung gehalten haben, in dem die
Reaktion Kraft des besseren Argumentes niedergerungen wurden. So war
es nicht. Die Motive der Bewegung war vielfältiger, auch
abgründiger. Nach Lektüre von Kraushaars Buch sieht man das
Irrationale der 68er schärfer, die frei gesetzte
Verzweiflungsenergie, die bodenlose Wut, die aus enttäuschter
Sinnsuche rührte, die Hybris, die in der Selbsterfindung des von
allen Wurzeln befreiten Revolutionärs liegt. Die Vokabel vom "linkem
Antisemitismus" macht das Ganze handhabbar, aber kaum klarer. Die
Radikalisierung der Ränder der Bewegung kann man nur als Echo der
postfaschistischen Leere der Bundesrepublik verstehen.
Anschaulich macht dies zum Beispiel die Vita von
Albert Fichter, der noch 1967, geprägt durch eine antifaschistische
Erziehung, in einem Kibbuz in Israel bei der Ernte half. Dort geriet
er mit der zionistschen Ideologie über Kreuz. Nur 24 Monate später
übt Fichter in Jordanien mit Al-Fatah-Kämpfern, wie man Bomben baut,
ein paar Wochen darauf deponiert er eine im Jüdischen Gemeindehaus.
Auf die Überidentifikation mit Israel folgt ein weltanschaulicher
Reißschwenk. Darin offenbart sich eine Orientierungslosigkeit, die
ohne den Bankrott aller Autoritäten 1945 kaum begreifbar ist. Die
Suche nach Vorbildern, die die Elterngeneration aus vielen Gründen
nicht bot, hatte in der deutschen /second generation/ etwas
Hysterisches. Noch die Inbrunst mit der die Linke Che und Rudi zu
Ikonen modellierte, war ein Echo jener Suche. Die Linke muss wieder
mal das 68er-Pantheon leer räumen? Falsche Frage. Wer "68" produktiv
verstanden hat, für den war das Pantheon schon immer leer.
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