Der Sieg von Saad Hariri:
Toter Libanese beliebter als roter
Im Libanon hat ein langer Wahlprozess
begonnen. Der größte Teil der Ergebnisse steht bereits vorher fest. Auch
sonst scheint sich durch den Abzug der Syrer nicht viel zu ändern.
Von Alfred Hackensberger, Beirut
Jungle World 22 v.
01.06.2005
Bis spät in die Nacht fuhren am vergangenen Wochenende
Autokorsos mit Fahnen und Musik durch Beirut. Fast hätte man meinen können,
nicht Liverpool, sondern ein libanesischer Club hätte die Champions League
gewonnen. Doch bejubelt wurde der Sieg von Saad Hariri und seiner
"Rafik-Hariri-Märtyrer-Liste" – und das schon einige Tage vor dem Beginn der
Parlamentswahlen am Sonntag. So verfrüht, wie man annehmen könnte, waren die
Feiern nicht. Schließlich stand ein großer Teil der Ergebnisse fest, noch
ehe das erste Kreuz gemacht wurde.
Der Sohn des im Februar ermordeten früheren Premierministers Rafik Hariri
wird wohl dessen Amt übernehmen. Aus Mangel an Gegenkandidaten waren der
"Märtyrer-Liste" neun der insgesamt 19 Mandate sicher, die im Wahlkreis
Beirut zu vergeben sind. Dass sie auch die restlichen zehn einfährt, dürfte
reine Formsache sein.
Diese Liste ist keine Partei, sondern ein zweckorientiertes Wahlbündnis, das
für den Libanon typisch ist. Entsprechend dem Abkommen von Taif aus dem Jahr
1989, werden die 128 Parlamentssitze jeweils zur Hälfte an Christen und
Moslems, zu denen auch die Drusen gehören, vergeben. Die jeweils 64 Sitze
sind zudem penibel nach den Konfessionen unterteilt. So lautet die
Verteilung für die christlichen Mandate: 34 für die Maroniten, 14 für die
Griechisch-Orthodoxen, acht für die griechischen Katholiken, fünf für die
armenischen Orthodoxen und jeweils einen für armenische Katholiken,
Protestanten und andere Minderheiten.
Zwar sollten derlei Regelungen helfen, nach dem Bürgerkrieg die Spannungen
zwischen den Bevölkerungsgruppen abzubauen. Andererseits verdeutlicht dieser
Proporz nicht nur, welch groteske Sache Wahlen in diesem Land sind, sondern
zeigt auch, dass dieses System die konfessionelle Trennung der Gesellschaft
fortschreibt, anstatt sie zu überwinden.
Um eine Chance auf diese konfessionsgebundenen Parlamentssitze zu haben,
muss man sich einer mächtigen und populären Liste anschließen, die alle
Religionen umfasst. Unabhängige Listen, wie sie die Kommunisten und die
"Neuen Linken Bewegungen" bilden, haben kaum Aussichten auf Erfolg. Bei den
meist sehr widersprüchlichen Allianzen spielen politische Programme,
Ideologien und Meinungen eine untergeordnete Rolle.
Unter den Kandidaten der "Märtyrer-Liste" befinden sich Vertreter der
drusischen Progressiven Sozialistischen Partei Walid Jumblatts oder auch der
bislang verbotenen rechten Lebanese Force, deren Führer Samir Geaga seit elf
Jahren wegen Kriegsverbrechen im Gefängnis sitzt. Außerdem kandidiert dort
ein Vertreter der Hisbollah sowie Solange Gemayel, die Witwe des 1982
ermordeten Präsidenten Bashir Gemayel, mit der sich ihr Listenkollege von
der Hisbollah nicht fotografieren ließ. Sie ist für das maronitische Mandat
vorgesehen und eine der drei Frauen, die über die Beiruter "Märytrer-Liste"
ins Parlament einziehen werden. Die vierte weibliche Abgeordnete wird Frau
Bahia Hariri sein, die "Schwester des Märtyrers", deren Mandat im Südlibanon
ebenfalls schon sicher ist. "Vier Frauen im Parlament sind viel zu wenig",
sagt Sana Solh von der libanesischen Frauenorganisation. Trotz allen
Proporzes gibt es selbstverständlich keine Frauenquote.
In den vergangenen Wochen wurde viel über eine Reform des Wahlrechts
diskutiert. Insbesondere die Maroniten, die größte christliche
Bevölkerungsgruppe, fühlt sich durch die großen Wahlkreise benachteiligt.
Nur 15 der 64 christlichen Mandate würden von einer christlichen
Wählerschaft bestimmt, die restlichen 49 seien von muslimischen Stimmen
abhängig.
"Das Wahlgesetz ist ungerecht", meint der maronitische Kardinal Nasrallah
Sfeir. Michel Aoun, der Führer der Freien Patriotischen Bewegung, der vor
kurzem nach 15 Jahren Exil aus Frankreich zurückgekehrt ist, nennt das
Wahlrecht "eine legale Fälschung, die keine Erneuerung des demokratischen
Lebens" bringe.
Das sehen die Parteien und Gruppen des antisyrischen Oppositionsbündnisses
ähnlich. Zumindest galt dies bis kurz vor den Wahlen. Dann erklärte
plötzlich der Drusenführer Walid Jumblatt, dass er mit dem Reglement
zufrieden sei. Ebenso Saad Hariri, der nach dem Tod seines Vaters Rafik zum
einflussreichsten Mann des Landes aufgestiegen ist. Ein Bündnis aller
oppositionellen Parteien hat sich damit erledigt.
Nach dem ersten Wahlgang in Beirut wird an den nachfolgenden Sonntagen im
Süden und Norden, im Mount Lebanon und schließlich im Bekaa-Distrikt
gewählt. Insgesamt sind zwei bis drei Millionen Libanesen über 21 Jahre
stimmberechtigt. Genaue Zahlen gibt es nicht, die letzte Volkszählung liegt
Jahrzehnte zurück. Wer im Libanon wählen will, muss sich erst bei der
zuständigen Gemeinde registrieren lassen.
Zu den Wahlen ist eine hundertköpfige Kommission der EU angereist, die "eine
detaillierte Analyse des Wahlprozesses" erstellen und das "Vertrauen der
libanesischen Stimmbürger in die Wahlen" stärken will. Viel wird es nicht zu
analysieren geben. Die Sitzvergabe ist den Religionen und Konfessionen
entsprechend exakt vorgeschrieben.
Ein Sieg der Oppositionsparteien gilt als sicher, nachdem die meisten
prosyrischen Politiker, wie etwa der ehemalige Premierminister Omar Karami,
auf eine erneute Kandidatur verzichtet haben. Nach dem Sieg von Saad Hariri
und seiner "Märtyrer-Liste" in Beirut wird es auch in den nächsten beiden
Wahlgängen keine großen Überraschungen geben. Im Süden mit einer
schiitischen Bevölkerungsmehrheit ist der Triumph des Bündnisses von
Hisbollah und Amal gewiss, ebenso im Bekaa-Tal.
Einzig in den Distrikten Mount Lebanon und Nordlibanon ist noch unklar, wie
viele der christlichen Sitze auf die Liste Michel Aouns entfallen werden.
Der ehemalige General hat mit nahezu allen Gruppierungen Gespräche geführt,
aber alle scheiterten daran, dass niemand ihm so viele Mandate geben wollte,
wie er verlangt. Zuletzt hat er auch mit Jumblatt verhandelt, da der Mount
Lebanon eine drusische Bastion ist. Aber auch er wollte dem ehemaligen
General keine 14 Parlamentssitze versprechen.
Aouns Freie Patriotische Bewegung ist nun mit Talal Arslan alliert, dem
direkten drusischen Gegner Jumblatts. Im Norden ist ein Bündnis mit der
Liberalen Nationalen Partei von Dory Chamoun geplant. Beide sind prosyrische
Politiker. Für Aoun, der nach dem Ende des Bürgerkriegs von den Syrern
verbannt wurde, spielt das offenbar keine Rolle. "Auch Jumblatt war lange
Zeit ein Freund Syriens", sagt er. "Wie die gesamte politische Szene des
Libanons irgendwann einmal auf der Seite Syriens stand."
Der EU-Kommission wird es nicht leicht fallen, das "Vertrauen in die Wahlen"
zu stärken. Es wird nicht erwartet, dass viel mehr als nur jeder zweiter
Libanese sich an den Wahlen beteiligt. Besonders viele junge Menschen sind
bereits von Wahlen enttäuscht. "Unseren Politikern geht es nur um ihre
eigenen Interessen. Sie kümmern sich nicht um die Anliegen der Menschen, sie
sind wie Schauspieler", sagt eine Studentin der Libanesischen Universität.
Von der Euphorie der Massendemonstrationen gegen die prosyrische Regierung
und die syrische Besatzung im Februar ist nichts übrig geblieben. Die
antisyrische politische Elite, die nun das Sagen hat, macht nichts anderes
als die alte: die eigene Herrschaft sichern und dann sehen, was übrig
bleibt.
hagalil.com 02-06-2005 |