Avi Dichter:
Vorwärts zum Rückzug
Auszüge aus einem Bericht von Amos Harel,
Ha'aretz, 10.06.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Avi Dichter teilt die apokalyptischen Vorhersagen seines
Freundes, Generalleutnant der Reserve Moshe "Bogey" Ya'alon, nicht. Vor
einer Woche war der frühere Stabschef in einem Ha'aretz-Interview mit Ari
Shavit der Meinung, nach der Abkopplung werde ein "dritter Terrorkrieg" in
der Westbank ausbrechen, ein Krieg, der die Städte in Israels Zentrum und im
Norden des Landes gefährden werde.
"Ich hörte seine Einschätzung", sagt Avi Dichter, der frühere
Leiter des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet. "Doch ich kenne keine
Geheimdienstinformationen, die sie stützen. Ich kenne auch keine Logik, die
sie stützt. Einer unserer Fehler ist, dass wir uns weigern, eine komplette
Analyse des ganzen Problems zu machen. Wir sehen auf die Zermürbung, die wir
durch diesen Krieg erlebt haben, und auf unsere Schlussfolgerungen, und wir
weigern uns zu sehen, wie es den Palästinensern ergangen ist."
Die relative Ruhe in den Territorien kommt nicht von
ungefähr. Davon ist er überzeugt. Der Eindruck immenser Stärke, den Israel
während seines Krieges gegen den Terror hinterließ, wird nach dem Rückzug
aus dem Gazastreifen nicht sofort verblassen. Und obwohl sein Haus in einer
südlichen Stadt fast in Reichweite der aufgerüsteten palästinensischen
Kassam-Raketen liegt, hört sich Dichter nicht besonders besorgt an über das,
was im Gazastreifen nach Israels Rückzug geschehen mag. Wenn Gegner des
Abkopplungsplans hofften, seine Kritik als Munition für ihren Kampf benutzen
zu können, werden sie umdenken müssen.
Das Gespräch mit Dichter macht eine Reihe von vorgefassten
Meinungen zunichte. Drei Wochen nach seiner Pensionierung als Leiter des
Geheimdienstes –einen Posten, den er 5 Jahre lang innehatte-, zeigt Dichter
eine Ansicht, die sich insgesamt von derjenigen Ya'alons unterscheidet. Wo
sich der frühere Stabschef bitter, verletzt und pessimistisch anhört und
offenbar abrechnen möchte, ist Dichter zufrieden und beinahe optimistisch.
Er äußert manche spitze Bemerkung über die Palästinenser, doch er erwartet
nicht zwangsweise einen dauerhaften Krieg mit ihnen. Er ist nicht gegen die
Abkopplung vom Gazastreifen (und Teilen der Westbank), sondern sieht eher
einigen Nutzen in ihr. Bezüglich seiner Entlassung hat er nicht das Gefühl,
vor die Tür gesetzt worden zu sein. ("Aus organisatorischen Gründen wäre es
nicht richtig gewesen, länger in diesem Job zu bleiben.") Er äußert Lob für
Premierminister Ariel Sharon, ist stolz auf seine eigenen Errungenschaften
und zufrieden mit seinem Nachfolger Yuval Diskin. Und er denkt definitiv
darüber nach, in die Politik zu gehen.
Gefahren in der Westbank
Dichter sieht die Abkopplung nicht als ein Davonlaufen an.
Natürlich werde jeder Palästinenser die Abkopplung als Vertreibung Israels
aus dem Gazastreifen präsentieren, so wie die Hisbollah den Rückzug der
israelischen Armee aus dem Libanon als Vertreibung darstellte. Doch die
Wahrheit über das Nachlassen der palästinensischen Gewalt sei bekannt, sagt
er. In Judäa und Samaria (Westbank) habe die terroristische Infrastruktur
einen bedeutenden Schlag erlitten. Seit September 2003 habe die Hamas in
Samaria keinen wesentlichen Terrorangriff mehr hervorgebracht. Auch der
islamische Dschihad habe eine schwierige Zeit durchgemacht. In Gaza hatte
man die Bewegungsfreiheit der Mitglieder deutlich vermindern können. Sie
sahen, wie weit Israel nach einem Beschuss durch palästinensische
Kassam-Raketen vordringen konnte, und sie realisierten, dass sich die
palästinensische Bevölkerung auf Grund des israelischen Vordringens letzten
Endes gegen den islamischen Dschihad selbst wenden würde. Und so
informierten seine Mitglieder auf eigene Initiative hin die palästinensische
Autonomiebehörde (PA) über ihre Bereitschaft, die Gewalt einzuschränken.
Unter reinen Sicherheitsaspekten betrachtet sei der Rückzug
aus dem Gazastreifen nicht anders als der Rückzug aus dem Südlibanon, sagt
Dichter. "Die Bedrohung durch die Kassam-Raketen wird nach der Abkopplung
nicht anders sein wie jetzt. Im Gegenteil. Wenn wir heute nach Beit Hanun
gehen, um uns mit dem Kassam-Raketen-Problem auseinanderzusetzen, bekommen
wir Mörsergranaten nach Gush Katif geschossen. Nach dem Rückzug werden die
Zielmöglichkeiten, die den Palästinensern zur Verfügung stehen, drastisch
weniger sein. Nach der Abkopplung wird es leichter sein, gegen die
Kassam-Raketen vorzugehen, weil wir die Bewohner des Gush nicht in Gefahr
bringen."
Im Gegensatz zum Standpunkt von Verteidigungsminister Shaul
Mofas und den Spitzen der israelischen Verteidigung ist Dichter dagegen, die
Häuser der Siedler intakt zurückzulassen. Man könne sie nur dann intakt
zurücklassen, wenn sie über einen Mittelsmann an die Palästinenser verkauft
werden könnten. In diesem Fall werde die PA ihr Eigentum zu schützen wissen.
Doch wenn die Häuser zum Zeitpunkt des Rückzugs noch jüdisches Eigentum
seien, sollten sie niedergerissen werden. Sonst würden die Palästinenser ein
Plünderungs-Fest veranstalten. Und der palästinensische Polizist, der sich
der feiernden und plündernden Masse in den Weg stelle, müsse erst noch
geboren werden. Der Gedanke, eine internationale Truppe zum Schutz in die
Territorien zu schicken, sei einfach nur lächerlich, weil sich auch Hans und
Josef nicht gegen die Massen stellen würden, meint Dichter.
Seine Bedenken hinsichtlich des Rückzugs betreffen
Sicherheitsvorkehrungen nach der Abkopplung von Nord-Samaria. "Hier besteht
eine Meinungsverschiedenheit mit der israelischen Armee. Die Armee spricht
von einem Rückzug aus dem Gebiet, nicht nur aus vier jüdischen Siedlungen.
Der Shin Bet betrachtet dies unter derzeitigen Bedingungen als
unkalkulierbares Risiko. Wenn wir in der Gegend von Dschenin nicht handeln,
wird dort ein Vakuum entstehen, und die Möglichkeiten, dass
Terrororganisationen an Stelle des PA-Apparates dieses Vakuum füllen,
bestehen. Soweit die Terrororganisationen betroffen sind, ist die
Kombination von Informationen, die aus dem Gazastreifen fließen werden und
den in der Westbank vorhandenen Möglichkeiten, alles, was sie sich nur
wünschen können. In der Westbank müssen wir vorsichtig sein und dürfen nicht
voreilig handeln."
Insgesamt betrachtet äußert sich Dichter misstrauisch über
die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Westbank-Städten an die
PA. Der Shin Bet und die israelische Armee weisen diesbezüglich Unterschiede
in der Haltung auf. "In der Armee sind sie der Meinung, dass wir das Problem
nehmen und den Palästinensern hinwerfen sollten. Sie sollen damit umgehen.
Sie werden für die Städte verantwortlich sein und alles, was geschieht, wird
ihr Problem sein. Unsere Meinung ist, dass unsere Aufgabe nicht darin
besteht, uns der Verantwortung zu entledigen sondern Sicherheit zu
garantieren." Im Jahr 2003 habe man versucht, die Verantwortung für die
Sicherheit in Bethlehem an die Palästinenser zu übergeben. Die Palästinenser
taten jedoch überhaupt nichts, weshalb Israel einen hohen Preis in Form von
ausgeführten Terroranschlägen in Jerusalem bezahlen musste. Aus diesem Grund
ist Dichter der Meinung, dass die Verantwortung für die Sicherheit in den
Städten nur dann an die Palästinenser übergeben werden soll, wenn diese
bereit sind, etwas zu tun. Derzeit sieht er keinerlei Zeichen, dass die
Palästinenser in der Westbank ihren Verpflichtungen nachkommen, weder in der
Zusammenlegung der Sicherheitszweige noch in der Überwachung von gesuchten
Männern.
Die Abkopplung wird geschehen
Dichter ist der Meinung, dass die Abkopplung in der Tat
vorwärts schreiten wird. "Sharon ist entschieden, sie auszuführen. Am Ende
wird es geschehen, trotz des Widerstandes. Es gibt Extremisten und
Hooligans, die keine Hemmungen haben, auf einen Soldaten oder Polizisten zu
schießen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Und in Gush Katif haben die
Bewohner Angst vor diesen Extremisten. Es kommt nicht von ungefähr, dass man
sie rausschmeißt. Deshalb haben sich die Extremisten im Hotel am Strand von
Neveh Dekalim eingerichtet. Letztlich wird es mit diesem Hotel so enden wie
mit dem Bunker damals in Yamit auf dem Sinai. Extreme Szenarien sind
möglich, doch die Mehrheit der Kritiker unter den zu Evakuierenden wird sich
passiv widersetzen. Es wird schwierig und unangenehm werden, und im
Fernsehen wird es nicht gut aussehen, doch wir werden es überstehen. Wenn
man an den Schaden denkt, den die Extremisten anstellen können, denkt man
manchmal an Phänomene, die vor zwei- oder dreitausend Jahren auftraten, und
man fängt an, sie zu verstehen. Dies sind Menschen, die sich in
Halluzinationen verrennen und nach Entscheidungen von Rabbinern suchen, die
vage genug sind um das, was die Extremisten tun, als gerechtfertigt
hinzustellen. Und wenn sich ein Rabbiner weigert, eine solche Entscheidung
zu treffen, gehen sie zum nächsten."
Gefährdung der Juden in der Diaspora
Die Sorge des Shin Bet über ein Attentatsversuch auf den
Premierminister oder einen Anschlag auf die Moscheen auf dem Tempelberg
nimmt mit der Annäherung an die Stunde Null des Abkopplungsplans zu. Als
sich die besorgniserregenden Informationen über die Absicht, die Moscheen
auf dem Tempelberg zu treffen, häuften, ging Dichter zu einer Gruppe
einflussreicher Rabbiner. "Ich sagte ihnen, der leitende Sicherheitsbeamte
des Projektes (Tempelberg) habe angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen
sein Möglichstes getan. Doch der Tempelberg sei nicht gegen
Panzerabwehrraketen oder gegen Drohnen geschützt. Ich erklärte ihnen, dass
ich weniger besorgt sei über das, was hier in Zion geschehen könnte, falls
ein unverantwortlicher jüdischer Extremist versuchen werde, einen
Terroranschlag auf dem Tempelberg auszuüben. Denn in Israel haben wir
bereits gelernt, uns gegen die Wellen des Terrors zu verteidigen. Wir
wissen, wie damit umzugehen ist. Doch dieser Extremist weiß nicht, wie sehr
er mit seiner Tat die Juden in der Diaspora gefährdet. Die
Verteidigungsbehörden in anderen Ländern haben nicht die Mittel, die
jüdischen Gemeinden zu schützen. Und zu der Zeit, wenn sie die Bedeutung
eines solchen Vorfalls auf dem Tempelberg realisieren, wird es bereits zu
spät sein. Im Ausland werden wir uns einer schrecklichen Welle von
Terroranschlägen ausgesetzt sehen, die ähnlichen Ausmaßes wie der Anschlag
auf das jüdische Gemeindezentrum in Argentinien sein werden. Dies ist ein
beinahe sicheres Szenario. Und keiner dieser Rabbiner könnte behaupten,
seine Hände seien rein."
Der Shin Bet hat keine konkreten Geheimdienstinformationen
über die Absicht, ein Attentat auf den Premierminister auszuführen. "Doch
unser Einsatz an Leibwächtern ist immens und basiert auf der Analyse der
Möglichkeiten. Im Gegensatz z. B. zum Präsidenten der Vereinigten Staaten
von Amerika schläft und arbeitet Sharon nicht am selben Ort. Mindestens
zweimal pro Tag fährt er zwischen seinem Wohn- und Arbeitsplatz hin und her.
Und es gibt auch verschiedene Veranstaltungen, Hochzeiten,
Bar-Mizwah-Feiern, die er besucht. Potentiellen Attentätern stehen viele
Möglichkeiten zur Auswahl."
Sharon kooperiert voll und ganz mit den Leibwächtern. "Wir
sollten ihm wirklich einen Preis als 'Liebling der Leibwächter' verleihen.
Er zeigt eine endlose Geduld und machte auch schon professionelle
Vorschläge, die in ihrem Scharfsinn beeindruckend sind. Es liegt mir fern,
ihn zu bewerten. Doch meiner Meinung nach ist er eine wirkliche
Führungsperson."
Seine meist zitierte Aussage machte Dichter im Dezember 2003
während der Herzliya-Konferenz, als er zugab: "Wir haben versagt. Wir haben
den israelischen Bürgern keine adäquate Sicherheit geliefert." Dichter sagt
hierzu: "Es gab eine kritische Verzögerung in zwei wesentlichen Punkten, dem
Bau des Sicherheitszauns und dem Beginn der Operation "Schutzschild"." Etwa
die Hälfte der israelischen Toten sei bei Terroranschlägen gestorben, die
von der Westbank aus ihren Anfang nahmen. 90% von diesen waren ermordet
worden, bevor der nördliche Teil des Zauns im August 2003 fertig gestellt
worden war. Angesichts dieser Zahlen frage man sich, wie viele Israelis
heute noch leben könnten, wären diese zwei Dinge rechtzeitig getan worden.
Was die Operation "Schutzschild" angehe, habe man sich Sorgen über das
Risiko für die Soldaten gemacht, doch man habe wertvolle Monate
verschwendet.
Man kann sich von Dichter kaum vorstellen, dass er in der
nahen Zukunft die Aussagen vier seiner Vorgänger teilen wird, nach denen die
Besatzung korrupt macht. Er ist unbefangen, was die Politik der gezielten
Tötungen angeht und ist überzeugt, dass diese Politik die Hamas zur
relativen Ruhe zwang, die heute vorherrscht. In diesem Krieg gibt es kein
"Fairplay", glaubt er, und wenn ein Kampfflieger einen Selbstmordattentäter
oder dessen Boten treffen könne, ziehe man dies der Gefährdung von Truppen
bei einem Bodeneinsatz vor. Und trotz mancher Meinungsverschiedenheiten
schätzt Dichter die Zusammenarbeit mit der israelischen Armee, insbesondere
deren Luftwaffe.
Im Gegensatz zu Ya'alon ist Dichter der Meinung, dass der
Konflikt mit den Palästinensern gelöst werden könne und dass die beiden
Völker nicht bis in alle Ewigkeit gegeneinander kämpfen werden. Diese
Ansicht mindert jedoch nicht seine Kritik an den Palästinensern. Er ist der
Meinung, dass Herz und Mund von Abu Mazen (Mahmoud Abbas), dem Vorsitzenden
der palästinensischen Autonomiebehörde, eine Sprache sprechen. "Doch ich
denke, es gibt Risiken, die wir nicht in Kauf nehmen sollten, um sein
Gesicht zu wahren. Er versteht, was das Problem ist (der anhaltende
Hamas-Terror, das Scheitern der Waffenübergabe), aber mit allen möglichen
Entschuldigungen verschiebt er ständig den Umgang mit diesen Problemen. Doch
niemand wird es an seiner Stelle tun."
"Es gibt kein Land auf dieser Erde, das solch enorme
finanzielle Hilfen bekommen hat wie die PA und doch nichts daraus gemacht
hat. In all den Jahren war unser größtes Problem, dass es auf
palästinensischer Seite keinen mutigen Partner gegeben hat. Und Abu Mazen
ist ziemlich allein. Jibril Rajoub und Mohammed Dahlan sind nicht in Eile,
Autorität und Verantwortung zu übernehmen. Jibril blieb ein Berater und
Dahlan ist Minister für zivile Angelegenheiten, was immer das auch heißen
mag. Zu sagen, dass Innenminister Nasser Yousef die Reform der
Sicherheitsorganisationen vornimmt, ist ein Witz. Von ihm können wir keine
Erlösung erwarten. Yousef ist wie ein Kind, das die Großen nach vorne
geschubst haben und das nicht weiß, was es eigentlich tun soll. Er ist ein
Beduine aus Jordanien. Er spricht literarisches Arabisch. Die Palästinenser
verstehen ihn selbst nicht."
Dichter ist froh darüber, dass Israel hinsichtlich der
Zaun-Sache zur Vernunft gekommen ist und verstanden hat, dass eine physische
Grenze notwendig ist und dass Jerusalem von einer Barriere umgeben werden
muss bis eine diplomatische Lösung gefunden wird. "Es ist unwahrscheinlich,
dass diese Situation keine Lösung hat. Natürlich verlangt sie eine Menge
guten Willens auf beiden Seiten", meint Dichter.
hagalil.com 14-06-2005 |