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Pauschalreise zu Gott:
Moderne Pilgerfahrten zu den chassidischen Wurzeln

Von Jan Zappner
Erschienen in: Jüdische Allgemeine 13/05

Lezajsk (n-ost) - Die groben Kieselsteine knirschen unter den eiligen Schritten Chaim Weisfishs, als er den kleinen Berghügel in Richtung Grabkammer hinauf läuft, vorbei an den Spendenbüchsen der Gemeinden aus Israel und Amerika. Kurz reinigt er sich am provisorischen Wassertisch wie vorgeschrieben dreimal die Hände, bevor er sich zu den anderen Männern in den mittleren Teil der Grabkammer hineindrängelt. Es ist der 21. Adar des jüdischen Kalenders und "Jahrzeit"- der Todestag des heiligen Zaddiks Elimelech Weissblum: Pilgertag für die ultraorthodoxen Chassiden nach Ostpolen.

"Ihr habt zwei Stunden Zeit", hatte ihr Reiseleiter ihm und den anderen Pilgern aus Jerusalem noch nachgerufen. Jetzt steht er in einem von Neonröhren bläulich erleuchteten Raum inmitten von Männern in schwarzen Hüten und Mänteln. Deren geringelte Schläfenlöckchen wippen im Rhythmus der Oberkörper nach vorn und wieder zurück. Laute Gebete hallen von den kahlen Wänden wider, die asynchron aus dem Talmud aufgesagt werden. Ab und zu bricht der leise Klingelton eines Mobiltelefons durch das Crescendo der Betenden hindurch und jemand schreit mit leuchtenden Augen ans andere Ende der Welt: "Ja, ich bin schon da! Es ist fantastisch."

Die Chassiden glauben, die Seele eines Toten kehre alljährlich zu seinem Todestag an den Platz zurück, an dem der Körper begraben liegt. Seit 1787 pilgern deshalb Menschen nach Lezajsk, um ihre Sorgen im Zwiegespräch mit der Seele von Zaddik Elimelech zu teilen. Diese fungiert dabei als Mittler zwischen den Gläubigen und Gott. "Nur ein Zaddik ist würdig genug, mit Gott direkt in Kontakt zu treten", erklärt Ben Stern aus New York, "deshalb ist es für uns so wichtig an diesem Tag hier zu beten." Ein mit Wünschen beschriebenes Stück Papier, der "Kvitel", wird deshalb nach dem Beten auf den Grabstein des Zaddiks geworfen. Er verleiht den Bitten nach Gesundheit für die Familie und Erfolg im Geschäft die nötige Festigkeit im Reich des Spirituellen.

Die Geburt des Chassidismus begann mit einer Katastrophe. Im Jahr 1648 brachten kossakische Horden während des Unabhängigkeitskampfes von Polen in einem Blutrausch 300.000 Juden in Galizien um. Auch Synagogen, Jeshiwas (jüdische Schulen) und Bibliotheken wurden dem Erdboden gleichgemacht und damit der Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens zerstört. Die Chance, Gott durch das Studium der Thora und des Talmuds näher zu kommen, wie es der "Rabbinismus" vorsieht, war den verarmten Gemeinden nun unmöglich geworden. Dieses Vakuum an Spiritualität füllte der Gründungsvater des Chassidismus Baal Shem Tov (1689 – 1760) mit der Erkenntnis, dass Gott überall sei und das ein religiöses Gefühl auch durch gemeinsame Gebete, Gesang und Tänze erlebt werden kann. Diese Lehre traf ins Herz der ungebildeten und verarmten Juden Galiziens, die damit wieder ihre Religion und Kultur entdeckten. Innerhalb kürzester Zeit sammelten die charismatischen Zaddiks Anhänger um sich. Ihre Zahl wuchs so schnell, dass die etablierten jüdischen Gemeinden in Litauen eine Gegenbewegung, die "Mitnagdim", formten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich die Chassiden jedoch in Galizien fest etabliert.


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Vor dem Krieg war Lezajsk ein typisch galizisches "Schtetl". Von den 5000 Einwohnern waren 3000 Juden. Der Großvater von Greg Stein aus Antwerpen war einer von ihnen. Ihm gehörte damals ein ganzer Häuserblock am Marktplatz. Sein Enkel, der dieses Jahr das erste Mal zu den Wurzeln der Familie zurückgekehrt, ist gleich nach seiner Ankunft zu den Häusern gelaufen und hat sie auch ohne Schwierigkeiten gefunden. Es ist alles noch so wie in den Erzählungen seines Großvaters, der nie wieder hierher kommen wird. Zuviel schmerzvolle Erinnerungen liegen in dieser Erde begraben, als dass er noch mal einen Fuß auf polnischen Boden setzten könnte. Vielen Überlebenden des Holocaust fehlt diese Kraft. Die nachfolgende Generation jedoch, ohne die unmittelbare Erfahrung des Krieges aufgewachsen und mit den Erzählungen der Alten im Kopf, bricht jetzt langsam auf, das Land ihrer Vorväter zu erkunden. Greg Stein steht inzwischen nachdenklich mit dem Rücken zur Grabkammer und schaut mit starrem Blick in Richtung Stadt. "Hier", und bei diesen Worten rammt er seinen Fuß wie eine Fahnenstange in den weichen Schnee, als ob er diesen Boden durch einen offiziellen Akt in Besitz nehmen müsste, "Hier trifft unsere spirituelle Vergangenheit auf ein junges, forschendes Judentum, das im Begriff ist, seine Wurzeln in Polen neu zu entdecken" sagt er versonnen. Andere jüdische Stätten der Umgebung wird er sich heute auch noch anschauen. Nicht nur, um Präsenz in einem Land zu zeigen, in dem nur noch 10.000 von ehemals 3 Millionen Juden leben. Vor allem, weil er es diesmal sein möchte, der seinem Großvater Geschichten aus Galizien erzählt.

In der Grabkammer haben sich mittlerweile hunderte Pilger eingefunden. Ein weiterer Bus von Chaim Weissfishs Gruppe ist eingetroffen und seine Insassen drücken die letzte kalte Luft aus dem überfüllten Raum. Es ist eng, so eng, dass das Gebetsbuch auf dem Rücken des Vordermanns aufgelegt werden muss. Einige versuchen am Ende ihres Gebets, das golden schimmernde Gitter zu berühren, das das Grab des Zaddiks umgibt. Dafür bahnen sie sich unter Einsatz des ganzen Körpers eine Schneise durch die Betenden, die sich sofort hinter ihnen schließt und sie zu verschlucken scheint. Andere reichen ihre "Kvitel" über die Köpfe der anderen, die diese Wunschzettel dann hinter die Absperrung werfen. Chaim steht versunken am Rand, streicht sich während des Betens immer wieder durch seinen weißen Rauschebart und hält sich im Vergleich zu den anderen in Sachen Lausstärke und Körpereinsatz zurück. In regelmäßigen Abständen übernimmt ein Vorbeter die Führung im Gebet, in das dann alle übrigen gemeinsam einstimmen. Viele Fragen und Probleme hätten ihm auf der Seele gelegen, erklärt Chaim später. "Das Gebet reinigt deine Gedanken. Nach zwei Minuten fühlst du dich leer und zum Schluss, nach zwei Stunden, vollgepumpt mit Glauben und Hoffnung." Er hätte jetzt das Gefühl alles schaffen zu können, sagt er mit strahlenden Augen, die gepaart mit seinem feinen Lächeln einen Eindruck von friedlicher Seeligkeit vermitteln. Warum dieser Ort so besonders sei könne er nicht erklären. Das sei nur zu spüren, mit Worten aber nicht einzufangen.


Fotos: © Jan Zappner

In der zweiten Etage des unscheinbaren weißen Hauses am Rand des Friedhofs haben sich Männer zum Essen versammelt. Es ist die Synagoge, die mit Unterstützung der Stiftung Nissenbaum aus Warschau gebaut wurde. In dem schmucklos eingerichteten Raum glänzt weißes Plastikgeschirr hell vor dem satten Schwarz des dicken Samtstoffes des Gebetsschreins, der an die Seite gerückt wurde. Am Kopfende der Tafel aus Biertischen sitzt gebückt und alt Rabbi Mi Lelov, dem ständig neu hinzukommende Männer mit einem Handkuss ihre Ehre erweisen. Auch heute noch sind die Rabbis zentralen Punkt einer jeden chassidischen Gemeinde. Sie werden bedingungslos verehrt bis zu ihrem Tod. Manche von ihnen erreichen schon zu Lebzeiten eine derartige spirituelle Kraft, dass sie nunmehr Zaddiks genannt werden. Diese können nur außerhalb des Friedhofs von Zaddik Elimelech beten. Wie bei zwei Magneten, die mit ihren positiv geladenen Enden aneinander gehalten werden, stoßen sich die heiligen Männern durch ein spirituelles Kraftfeld von einander ab. Rabbi Mi Lelov tanzt derweil überraschend behend mit seinen Anhängern laut singend um die Tische und beendet damit das Essen. Zurück bleibt ein Schlachtfeld aus halb leer gelöffelten Suppen und Fischgerippen - natürlich alles koscher.

Ein Haus weiter, im Wirtschaftgebäude der Synagoge, bereitet seit einer Woche ein Vorauskommando die Grundlagen für die koschere Versorgung der über 1000 Pilger. Stundenlang sitzen zwei Frauen auf kleinen Holzhockern vor zwei Plastikschüsseln mit weißen Bohnen. Geduldig nehmen sie jeweils eine Handvoll aus der einen Schüssel, streichen sie auf der Handfläche glatt, begutachten mit geübtem Blick, ob schwarze Verunreinigungen vorhanden sind, klatschen sie zur Überprüfung der Unterseite mit einer schnellen Bewegung auf die andere Hand, entfernen schlechte Exemplare und lassen den Rest in die zweite Schüssel fallen bevor sie die Prozedur stoisch wiederholen. Neben ihren Füßen an der Wand stapeln sich die Plastikbehälter mit bereits geprüften Nahrungsmitteln. "Kein Pilger wird mit hungrigem Magen aus Lezajsk aufbrechen", sagt eine der Frauen erschöpft aber mit Stolz in der Stimme.

Die Früchte ihrer Arbeit läßt sich Chaim Weisfish in einer provisorisch mit Bierbänken umgebauten Garage schmecken. Der Raum hallt von babelschem Sprachgewirr wider. Neben Chaims Gruppe aus Israel sitzen orthodoxe Juden aus Belgien, hinter ihm verrät ein rollendes "r" Südamerikaner aus Chile, in der linken Ecke hat es sich eine Gruppe aus den USA bequem gemacht, während sich vorn am Eingang Ungarn zum Aufbruch vorbereiten. Der Reiseleiter von Chaim steht plötzlich am Tisch und schaut ein wenig vorwurfsvoll herunter. "Ich habe euch überall gesucht", sagt er kurzatmig, "alle anderen sind schon im Bus und das Flugzeug wartet nicht!" Nach knapp zwei Stunden Aufenthalt in Lezajsk wird Chaim über Warschau direkt nach Jerusalem fliegen. Ganze Gemeinden buchen heutzutage ihre Pilgerfahrt pauschal über spezielle Reiseagenturen. Immer häufiger wird dabei auch ein individuelles Rahmenprogramm zusammengestellt. Seit der Öffnung Polens ein florierendes Geschäft.

Chaims schnelle Schritte klopfen hart auf den Asphalt der Straße. Er läuft an den polnischen Schaulustigen vor dem Friedhof vorbei, Richtung Parkplatz. Einmal bleibt er kurz stehen, dreht sich um und schaut zum Hügel hinauf. In einem Jahr wird er wieder zur Seele des Zaddiks Elimelech beten.

Jan Zappner ist freier Journalist aus Berlin mit Arbeitsschwerpunkt Osteuropa, Mitglied im Korrespondentennetzwerk n-ost und bei "Cafe Babel". Veröffentlichungen in der Jüdischen Allgemeinen, Märkische Oderzeitung, Leipziger Zeitung, Sächsische Zeitung, Ostsee Zeitung. http://www.janzappner.de/

Die jüdische Schule in Vilnius:
Ein Toleranzzentrum im Herzen Litauens

Es sind vielfältige Gründe, auf die einzige jüdische Schule in Litauen zu gehen. Mal werden Kinder auf den staatlichen Schulen aufgrund ihrer Herkunft von Mitschülern unterdrückt, ein anderes Mal ist die Neugier auf seine eigene Geschichte und Tradition ausschlaggebend...


Jüdische Jugend- und Studentenorganisationin Vilnius:

Aktionen gegen die Stille
Für eine Gemeinde mit ca. 4500 Mitgliedern, die in ganz Litauen verstreut sind, ist es nicht gerade einfach, das historische Erbe der Litvaks, der litauischen Juden, zu übernehmen. In der Vereinigung sind ungefähr 350 Kinder und 250 Jugendlich bis 30 Jahre eingetragen...

hagalil.com 30-06-2005

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