Die Erinnerung bewahren:
"Wir sind nun die Zeugen"
Bericht von Mati Milstein, Ha'aretz, 04.05.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
schickt die israelische Armee (IDF) Soldaten und Offiziere zu
Treffen mit Schoah-Überlebenden in dem Wunsch, das Vermächtnis
derjenigen Generation, die eine Hauptrolle bei der Gründung des
Staates Israel gespielt hat, zu bewahren.
"Wir sind nun die Zeugen", sagt der Kommandeur des
Bildungskorps der IDF, Brigadegeneral Ilan Harari, gegenüber
Ha'aretz und bezieht sich damit auf den Plan, Treffen zwischen
jungen Soldaten und älteren Schoah-Überlebenden zu organisieren.
"Wir müssen unsere Kommandeure die Erinnerung an
die Schoah lehren. Im Vorfeld des Schoah-Gedenktages bringen wir so
viele Soldaten wie möglich zum Ghettokämpfer-Museum und nach Yad
VaSchem."
Im Rahmen des Programms "Eine Blume für einen
Überlebenden" besuchen Soldaten und Offiziere Schoah-Überlebende in
ganz Israel. Sie überreichen ihnen eine Ehrenurkunde, danken ihnen
für ihren Beitrag zum Aufbau des Staates und sitzen mit den
Überlebenden zusammen, stellen ihnen Fragen, lauschen ihren
persönlichen Geschichten und lernen von ihnen.
"Wir möchten diejenigen, die die Schoah überlebten
und nach Israel kamen, um hier eine neue Heimat aufzubauen,
würdigen. Es gibt Menschen, die sagen, dass wir ohne die
Schoah-Überlebenden heute keinen Staat hätten", sagt Harari.
Das Programm war vom Bildungskorps in
Zusammenarbeit mit dem Ghettokämpfer-Museum im Kibbutz Lochamei
Hageta’ot in Westgaliläa organisiert worden.
Es gibt heute schätzungsweise 300.000
Schoah-Überlebende in Israel. Der Wohlfahrtsfond für
Schoah-Überlebende und das Ghettokämpfer-Museum sorgen für etwa 800
Überlebende. Das Programm der IDF erreichte 750 von ihnen. Die IDF
erkannte, dass auf Grund der Tatsache, dass die Überlebenden im
letzten Stadium ihres Lebens sind, die Erinnerung an die Schoah
verstärkt und darüber hinaus institutionalisiert werden muss.
Die persönlichen Treffen zwischen IDF-Soldaten und
Schoah-Überlebenden sind überwältigend, sagt Harari. "Es gibt
tränenreiche Treffen. Ich traf eine Frau, die inzwischen 85 Jahre
alt ist und Auschwitz überlebte. Ich saß mit ihr zusammen und
unterhielt mich mit ihr. Nach unserem ersten Treffen habe ich
weitere zwei- oder dreimal mit ihr gesprochen. Ich lud sie zu
unserem Sederabend an Pessach ein und sie besuchte mich und meine
Familie."
Dieses neue Programm ist eine Vertiefung bereits
bestehender Bildungsprogramme und anderer Kontakte zwischen der IDF
und Überlebenden. Harari sagt, es gäbe viele Soldaten mit direkter
Verbindung zur Schoah. "Auf Grund von Schätzungen gehören zwischen
einem Drittel und der Hälfte der Generalstabsoffiziere der Zweiten
Generation der Überlebenden an. Wir haben eine Verbindung."
Dorka Sternberg ist Schoah-Überlebende und eine
der Gründerinnen des Kibbutz Lochamei Hageta'ot. Sie arbeitet im
Bildungsbereich des Ghettokämpfer-Museums und führte letzten Monat
Soldaten des Bildungskorps durch ein zweitägiges
Orientierungsprogramm. Es wurde entschieden, dass die Soldaten das
Programm mit dem Besuch aller Überlebenden im Kibbutz beginnen
sollten.
Gemäß Sternbergs Worten ist das Programm sehr
emotional, sowohl für die Soldaten wie für die Überlebenden selbst.
"Die Menschen im Kibbutz waren sehr aufgeregt. Es war ein Tag, an
dem Erinnerungen und Sehnsüchte nach dem, was nicht mehr ist,
hervorgeholt wurden."
Innerhalb dieses Programms wurde auch Sternberg
von den Soldaten besucht. "Ich wartete in meinem Haus auf sie",
erinnert sie sich. "Ein Soldat und eine Soldatin kamen zu mir. Sie
waren so liebenswürdig. Ich sagte zu mir selbst: 'Sechzig Jahre sind
vergangen. Niemals habe ich mir träumen lassen, dass ich nach
sechzig Jahren im Land Israel sitzen und zwei freie, junge,
verständnisvolle Menschen bei mir zu Gast haben würde, denen ich
erzähle, was mir geschah.' Es tut mir gut. In meinem Alter gibt es
diese Art von Sehnsucht, dieses Verlangen zu erzählen und zu
begründen, was ich tat."
Sternberg sagt, dass ihr andere Überlebende, die
an dem Programm teilnahmen, ähnliche Dinge gesagt haben. "Es machte
mich sehr froh als ich sah, dass die Jugendlichen verständnisvoll
und menschlich reagieren und den Weg des Guten und des Aufbaus
anstatt der Zerstörung wählen", sagt sie. "Sie nehmen am Leben
anderer teil und denken nicht nur an sich selbst."
Sternberg ist überzeugt, dass die Soldaten fähig
waren, das, was sie von den Überlebenden –die sie als "Menschen am
Ende ihres Weges" bezeichnete- hörten, zu verinnerlichen. "Unsere
Stimmen hallen in den Soldaten nach", sagt sie.
Harari stimmt zu. "Ich gehöre zur zweiten
Generation der Überlebenden", sagt er. "Mein Vater verlor durch die
Schoah seine Eltern und einen Teil seiner Geschwister. Für mich ist
dies eine extrem bewegende Erfahrung. Man kommt, um den Überlebenden
zu helfen und ihnen etwas zu geben und dabei entdeckt man, dass man
selbst von ihnen lernt und einen Gewinn aus ihrer Erfahrung zieht."
Die zwanzigjährige Unteroffizierin Liat Sandak aus
Ra’anana sagt, ihre Begegnung mit einem Schoah-Überlebenden als Teil
des Programms verband sie mit den Erzählungen ihrer Großmutter. "Ich
lernte auch, dass wir uns mehr auf den Schoah-Gedenktag
konzentrieren sollten", sagt Sandak. "Dieser ist zur Routine und zur
Oberflächlichkeit verkommen. Doch das sollte nicht sein. Wir dürfen
nicht vergessen, was damals geschah. In unserem Unterbewusstsein
muss geschrieben stehen, dass wir nicht einfach von nirgendwo
herkamen."
Die IDF ist immer wieder bemüht, ihren Soldaten
und Offizieren die Erinnerung und die Lektionen der Schoah
beizubringen. Zusätzlich zu Tagungen und Museumsbesuchen in Israel
gibt es laut Hararis Worten auch IDF-Teilnehmer bei Reisen nach
Polen. Im Jahr 2004 brachten 15 Reisen mehr als 2.000 IDF-Offiziere
in Uniform nach Polen, um die Todeslager der Nazis zu besichtigen,
fügt er hinzu.
hagalil.com 05-05-2005 |