Jom haSchoah wehaGwurah:
Holocaustgedenktag in Israel
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Zwei Minuten lang heulten die
Luftschutzsirenen in ganz Israel um punkt 10:00 Uhr. Das Leben erstarrte.
Fußgänger blieben stehen und verharrten kurz in Gedenken. Autofahrer
stoppten ihre Fahrzeuge und stellten sich neben ihre Wagen. Dieses
Israel-weite Gedenken an die Opfer des Holocaust hat Tradition. Der
Holocausttag wird in Israel gemäß dem jüdischen Kalender am Tag des Falles
des Warschauer Ghettos begangen.
Nur an ganz wenigen Stellen im Nazi-Reich
haben Juden Widerstand geleistet und so ein klein wenig ihre "Ehre"
gerettet, nicht nur wie die "Lämmer zur Schlachtbank" abgeführt worden zu
sein. Dieser fast sinnlose Widerstand im Angesicht eines gewissen Todes,
etwa in Warschau oder der Sonderkommandos im Vernichtungslager Treblinka,
wurde zu einem wichtigen Symbol des Lebenswillens des jüdischen Staates
unter dem Motto "Niemals wieder".
Wie üblich, herrscht in Israel eine düstere
Stimmung an diesem Tag. Die Restaurants und Kinos bleiben geschlossen. Die
Medien stellen sich ganz auf diesen Tag ein. Dem grausigen Film "Der
Pianist" folgten im Fernsehen dokumentarische Interviews mit den letzten
Zeitzeugen. Jene, die heute noch über Buchenwald, Birkenau oder
Bergen-Belsen erzählen können, waren bei Kriegsende junge Menschen oder
Kinder.
"Das Kriegsende bedeutete für uns keine
Freude und Erlösung. Denn als wir aus den KZ befreit wurden, verstanden wir
erst richtig, dass wir Waisen waren, dass unsere ganze Familie ermordet
worden war", sagt ein alter Mann aus Polen. Eine Zeitung interviewte vier
von sechs Oberbefehlshabern der israelischen Armee, die alle zur zweiten
Generation von Holocaustüberlebenden gehören. "Meine Mutter befahl mir
stets, den Teller aufzuessen", erzählt Generalstabschef Mosche Jaalon. So
wurde ihm ganz subtil das Trauma des Hungers unter den KZ-Insassen
weitergegeben, ohne dass die Erlebnisse der Eltern thematisiert wurden.
In diesem Jahr richtet sich das Augenmerk auf
den "vergessenen Holocaust" orientalischer Juden, vor allem aus Nordafrika,
wo Rommel mit seinen Truppen bis El Alamein vorgedrungen ist. Eine
unbekannte Zahl vor Juden wurde in Libyen und Algerien in Arbeitslager
verschickt, zu Tode geschunden, auf offener Straße ermordet und einige
endeten sogar in Auschwitz. "Die Vorstellung, dass es die Nazis nur auf das
europäische Judentum abgesehen hätten, ist falsch", sagt der Historiker
Schlomo Aronson.
Der Holocausttag begann schon am Mittwoch
Abend mit der zentralen Gedenkfeier in Yad Vaschem in Jerusalem.
Premierminister Ariel Scharon griff das Motiv des Kriegsendes vor 60 Jahren
auf: "Der Tag der Befreiung war kein Tag der Freude für das jüdische Volk.
Es war kein Freudestag für die Holocaust-Überlebenden. Die Folterer wurden
besiegt, die ihren Verwandten die Namen, die Kleidung, die Schuhe, die Haare
gestohlen und ihre Opfer in Nummern verwandelt hatten." Jene, die sich
während des Krieges gestählt hätten, um zu überleben, wachten nun auf
"mit dem Schmerz der Einsamkeit, dem Schmerz der toten Freunde, dem Schmerz
der verlorenen Jugend und dem Schmerz des Landes, das zum größten Friedhof
des jüdischen Volkes geworden war."
Die Riten des Gedenkens haben sich in Israel
immer wieder gewandelt. Vor einigen Jahren wurde beschlossen, jeden
bekannten Namen der ermordeten Juden öffentlich zu verlesen, weil die Zahl
"sechs Millionen" zunehmend abstrakt geworden war. Inzwischen versucht der
Staat Israel, der Jugend das Gedenken an den Holocaust durch Fahrten nach
Polen näher zu bringen, zu den Stätten des Grauens.
In diesem Jahr werden mit einer Luftbrücke
etwa 20.000 Jugendliche nach Auschwitz und Birkenau geflogen, zum
"Gedenkmarsch des Todes". Die Polen beschwerten sich schon, dass den
israelischen Jugendlichen ein falsches Bild von Polen vermittelt werde, wenn
sie nicht auch das heutige Polen treffen und nichts über die Geschichte der
Juden in Polen erfahren. Eine Kommission wurde geschaffen, diese
Jugendfahrten gemeinschaftlich zu koordinieren. Scharon flog nach Polen, um
an der Abschlusszeremonie in Auschwitz teilzunehmen.
hagalil.com 05-05-2005 |