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Jean-Paul Sartre:
"Erwähnt man die Juden?"

Wird man von seinen "Überlegungen zur Judenfrage" reden, wenn der Kulturbetrieb Jean-Paul Sartres 100. Geburtstag feiert?

Von Alfred Schobert
Erschienen in: Konkret 6, 2005

Ist es bloßer Zufall, daß im Sonderheft "Jean-Paul Sartre - das Gewissen seiner Zeit" des "Magazine littéraire" die Überlegungen zur Judenfrage nur am Rande vorkommen? Nicht, daß da was zu verbergen wäre. Der Essay und die weiteren Artikel, Interviews und Gespräche, die in der hervorragenden Edition der Gesammelten Werke in Einzelausgaben bei Rowohlt unter dem Titel des 1946 publizierten Essays erschienen sind, sind bis heute lesenswert geblieben. Ebenso die vielfältigen Reaktionen, die die Überlegungen ausgelöst haben - wenn Lesen nicht heißt, vom ersten bis zum letzten Wort zuzustimmen. (Man zuckt ja schon bei "Judenfrage" bzw., im Original, "jüdischer Frage" zusammen.)

Ungefähr in der Mitte des Essays formuliert Sartre eine Beobachtung des historischen Augenblicks, in dem er schreibt - Frankreich im Oktober 1944: "Ganz Frankreich jubelt, auf den Straßen verbrüdert man sich, die sozialen Kämpfe scheinen vorläufig vergessen; die Zeitungen widmen ganze Spalten den Kriegsgefangenen, den Deportierten. Erwähnt man die Juden? Feiert man die Rückkehr der Überlebenden, gedenkt man einen Augenblick derer, die in den Gaskammern von Lublin starben? Kein Wort. Keine Zeile in den Tageszeitungen. Denn man darf den Antisemitismus nicht reizen. Mehr denn je braucht Frankreich die Einheit."

So brach Sartre das Schweigen über die Judenvernichtung, die im allgemeinen Reden über (andere) Opfer des Nazismus und der Besatzung nivelliert zu werden drohte. In einem zentralen Punkt aber ist Sartres Beobachtung auch eine Selbstbeschreibung. "Kein (weiteres) Wort" über die industrielle Vernichtungspraxis in Auschwitz, Chelmo, Majdanek, Sobibor. Nichts über die Spezifik des NS-Antisemitismus. Nichts über das, was später als Holocaust oder heute, um die Assoziation eines religiösen Opfers zu vermeiden, Shoah bezeichnet oder schlicht mit dem Ortsnamen Auschwitz benannt wird. Sartre gehört nicht zu den "Feuermeldern", wie Enzo Traverso mit einem Wort Walter Benjamins die wenigen nennt, die frühzeitig auf die Shoah und ihre historische Bedeutung hingewiesen haben und damit zeitgenössisch kaum Gehör fanden.

Doch sollte man sich hüten, diesen blinden Fleck in Sartres Text mit dem moralisierenden Eifer zu monieren, der in Debatten der Linken zum Gewinnerton gehört; retrospektiv fällt es allzu leicht, diese Auslassung und Verkennung Sartres festzustellen, ohne darauf zu reflektieren, wie lang man noch Jahrzehnte später vielleicht selbst gebraucht hat, um zu erkennen, daß die Vernichtung der europäischen Juden etwas anderes war als eine Turbo-Ausbeutung in Lagern der offen-terroristischen-Diktatur-der-reaktionärsten-chauvinistischsten-Elemente-des-Finanzkapitals.

Historiographisch ließe sich der blinde Fleck Sartres als Symptom verstehen. An Sartres Überlegungen und dem Echo, das sie hervorriefen, lassen sich auch die Veränderungen im Sprechen über Auschwitz ablesen. Der Vergleich zweier Texte, die Emmanuel Levinas im Abstand mehrerer Jahrzehnte Sartres Essay widmete, mag als Hinweis dienen: In einem kurzen Aufsatz für die "Cahiers de Alliance israélite universelle" vom Sommer 1947 kritisierte Levinas zwar Sartres Verständnis des Judentums, nicht aber sein Verkennen des Vernichtungsantisemitismus; die Vernichtungslager werden in diesem Text Levinas' nicht explizite erwähnt, sei es, daß er sie für ein selbstverständliches Implikat hielt, sei es, daß er nicht an das Thema rühren wollte. 1980 hingegen nahm Levinas unter dem Titel "Eine uns vertraute Sprache" in "Le Matin" explizit die Sprecherposition des Überlebenden, ja der Überlebenden ein: "Für uns, die Überlebenden der Vernichtungslager, für uns, der universellen Geschichte Entkommenen, für viele von uns enthüllte sich diese (Sartres; A.S.) neue Sprache plötzlich als vertraut und sehr nah." Trotz dieser expliziten Selbstpositionierung, die auch eine über die Jahrzehnte erfolgte Veränderung des Sprechens über die Shoah markiert, bleibt der blinde Fleck in Sartres Essay unerwähnt.

Anders dagegen die Rezension, die Georges Bataille 1947 in "Critique" publizierte. Bataille zeigte implizit, wofür Sartre blind war, indem er den Text wohlwollend als "Meditation über den Genozid" interpretierte. Batailles Text von 1947 ist einer der wenigen damaligen (französischen) Texte, die den Namen "Auschwitz" für jenes Geschichtszeichen nehmen: "Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz ein Faktum, ein Signum des Menschen. Die Vorstellung vom Menschen ist von nun an untrennbar mit einer Gaskammer verbunden."

Während Sartres Porträt des Antisemiten auf viel Zustimmung stieß (die allerdings übersah, daß es sich beim beschriebenen Antisemitismus eher um den der Jahrhundertwende handelte), kritisierte Levinas schon 1947 Sartres Verständnis des Judentums. Gegen die Assimilationsideologie der französischen Republik argumentierend, plädierte Sartre zwar für die Anerkennung jüdischer Alterität, doch sein (An-)Erkennen des Jüdischen blieb arg begrenzt. "Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten ... Der Antisemit macht den Juden", behauptete Sartre, der in der Tradition eines hegelianischen Geschichtskonzepts die "jüdische Kollektivität" als die "unhistorischste aller Gemeinschaften" auf die "Erinnerung an ... eine lange Passivität" reduzierte.

Vom Judentum, von jüdischer Geschichte, Religion, Philosophie und vom jüdischen Leben hatte Sartre schlicht keine Ahnung, worauf Levinas hinwies. Diese Kritik wurde fortan häufig wiederholt. Hierzulande am bekanntesten ist die bissige Charakterisierung der Sartreschen Position als "Mythos" durch Hannah Arendt im Vorwort zu Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft geworden; auch Maurice Blanchot monierte Sartres Unkenntnis 1961 in seinem Essay "Jude sein". In den letzten Jahren griff Jacques Derrida diese Kritik mehrfach auf - zuletzt beim 38. Kolloquium jüdischer Intellektueller französischer Sprache 2001 in Paris -, betonte zugleich aber auch "die entscheidende Geschichte" seiner "Beziehung zu diesem Buch" Sartres. Er schrieb, bezogen auf seine eigene Biographie als Jude und, anders als Levinas, Atheist, in Distanz zur jüdischen (wie zu jeder anderen) Gemeinschaft, gegen Sartres Essay von 1946: "Als Jude geboren zu sein ... reduziert sich niemals auf eine Projektion des anderen, sei er Antisemit oder nicht. Dieses Erbe läßt sich nicht verleugnen."

Wenn er auch unter dem modischen Etikett "Existentialismus" reüssierte, argumentierte Sartre am Schluß seines Essays marxistisch-geschichtsphilosophisch. In einer klassenlosen Gesellschaft werde der "Antisemitismus keinerlei Daseinsgrund mehr besitzen". Die "sozialistische Revolution" sei "notwendig und hinreichend ..., um den Antisemiten aus der Welt zu schaffen; auch für die Juden werden wir die Revolution machen." Trotz dieser geschichtsphilosophischen Perspektive, die bekanntlich viele zu dem Schluß verleitete, der Kampf gegen Antisemitismus sei ein untergeordnetes Thema, und die oft genug als theoretisches Fundament für die Ablehnung des Zionismus und des Staates Israel auch noch nach der Shoah diente, fragt Sartre beinahe harmlos nach dem, was denn nun zu tun sei: "Und inzwischen?", um sogleich kräftig auszuteilen: "Denn schließlich ist es eine faule Lösung, der künftigen Revolution die Klärung der Judenfrage zu überlassen." Sein Schluß lautet: "Kein Franzose wird frei sein, solange die Juden nicht im Besitz ihrer vollen Rechte sind. Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muß."

Praktisch bedeutete dies für Sartre, den Staat Israel von Beginn seiner Existenz an zu unterstützen, angefangen mit einem am Tag vor der Staatsgründung geschriebenen Text, in dem er sich für die Versorgung der "Hebräer" mit Waffen durch die Uno aussprach, damit diese sich gegen den absehbaren Angriff der arabischen Nachbarn verteidigen könnten. Diese proisraelische Haltung wird er bis an sein Lebensende wahren, auch und gerade in den Hochzeiten des linksradikalen Antizionismus in seinem politischen und persönlichen Umfeld.

Mit einer peinlichen Ausnahme: Im Oktober 1972 erschien unter Sartres Namen im Maoistenblatt "La Cause du peuple - J'accuse" ein Text über das Attentat bei der Münchner Olympiade. Mißachtet man bei der Übersetzung des Zeitungstitels Blanchots Mahnung, "peuple niemals mit Volk (zu) übersetzen", kann man sagen, daß Sartre hier der "Sache des Volkes" alle Ehre machte und dabei das Zola'sche "Ich klage an" aus der Dreyfus-Affäre blamierte. In einer gequälten Argumentation liefert dieser Text eine Rechtfertigung des palästinensischen Terrors. Terror sei die einzige Waffe, über die die Palästinenser verfügten. "Die Franzosen, die den Terrorismus der FLN bejahten, als er sich gegen Franzosen richtete, können nunmehr die terroristische Aktion der Palästinenser ebenfalls nur bejahen." Zu den Opfern des Überfalls hieß es so schlicht wie erbärmlich: "Schuldig war allein die Münchner Polizei." So simpel kann das antiimperialistische Weltbild sein.

Diese Apologie eines mörderischen Anschlags blieb eine Ausnahme in den publizistischen Interventionen Sartres. Ein Jahr später, in den Stellungnahmen zum Jom-Kippur-Krieg, knüpfte er wieder an die Position an, die er mit seiner Zeitschrift "Les Temps modernes" seit 1967 eingenommen hatte. Sartre betonte einmal mehr und unzweideutig das Existenzrecht Israels, ohne dabei legitime Interessen der Palästinenser zu negieren. Er entzog sich der Sogwirkung, die ein kriegerischer Konflikt immer ausübt und die in die Falle der binären Reduktion führt. "Ich halte den Manichäismus für eine der ernstesten Gefahren für das Denken unserer Epoche", hatte er im Oktober 1969 im Interview "Israel, die Linke und die Araber" erklärt: "Es ist unsere Angelegenheit als Intellektuelle, ihn bloßzustellen. Im israelisch-arabischen Konflikt findet sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite die vollständige Wahrheit." Konkret hieß das für ihn: "die Anerkennung der israelischen Souveränität, das volle Recht der palästinensischen Gesellschaft auf eine von den Israelis anerkannte Souveränität, die Räumung der besetzten Gebiete, mit der Einschränkung, daß gewisse Grenzkorrekturen notwendig sein werden. Es ist zum Beispiel nicht möglich, die Golanhöhen oberhalb des Sees Genezareth aufzugeben. ... Zugleich ... muß die Gleichberechtigung der arabischen und der israelischen Bürger hergestellt werden. Natürlich muß das von der absoluten Anerkennung der Souveränität Israels begleitet werden."

In der hiesigen hitzigen Debatte kann es heute passieren, daß jemand, der diese oder eine ähnliche Position vertritt, als Israelfeind beschimpft wird. Die Jerusalemer Universität sah das nicht so und trug Sartre 1976 die Ehrendoktorwürde an. Er nahm an: "Ich habe die Ehre, die mir Jerusalem erwies, aus Sympathie für Israel angenommen", sagte er im Mai 1976 in einem Interview. "Ich werde niemals dieses ständig bedrohte Land aufgeben, dessen Existenz nicht in Frage gestellt werden darf."

Gegen Ende seines Lebens revidierte Sartre in den Gesprächen mit Benny Lévy seine ignorante Auffassung des Judentums in den Überlegungen. Benny Lévy (1945-2003), den man nicht mit dem Neuen Philosophen Bernard-Henri Lévy verwechseln sollte, hatte als strammer Maoist unter dem Decknamen Pierre Victor mit Sartre kooperiert und wurde dann Sekretär, Vorleser und Dialogpartner des Erblindeten. In dieser Zeit rekonvertierte Lévy zum orthodoxen Judentum, und das fand thematisch Eingang in die gemeinsame Arbeit - zum Entsetzen des alten Sartre-Clans, der die Zuverlässigkeit der schließlich 1980 im "Nouvel Observateur" publizierten Gespräche anzweifelte. Sartres Kehrtwende gipfelte in der Anerkennung des jüdischen Messianismus, durch den "Ethik als letzter Zweck der Revolution" denkbar werde, womit der Moralist und Revolutionär sich einmal mehr treu-untreu blieb.

Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Hg. u. übersetzt von Vincent von Wroblewsky (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften 2). Rowohlt, Reinbek 1994.

Alfred Schobert ist Mitarbeiter beim Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS). In KONKRET 4/05 schrieb es über "Rolf Hochhuth und seine Freunde".

hagalil.com 30-05-2005

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