Vierzig Jahre deutsch-israelische Beziehungen:
Die Jeckes als Seismografen
Das ferne Land, so nah - Die aus
Deutschland geflohenen Juden prägen und lieben die neue Heimat, und können
die alte doch nicht abstreifen.
Von Thorsten Schmitz
Tel Aviv, im Mai - Wenn Rudi Hiller den Weg in sein
Viertel am Rande von Tel Aviv beschreibt, kann er sich nicht für eine
Sprache entscheiden. Er benutzt einfach zwei, in beiden fühlt er sich zu
Hause: "Bei der gelben Tachanat Deleg (Tankstelle) musst du rechts vorbei,
und dann an der Ramsor (Ampel) gleich links einbiegen, dann bist du in
meiner Straße." Rudi Hiller wohnt mit seiner Frau Ida in einer Siedlung für
Mitglieder der israelischen Luftwaffe. Zwanzig Jahre diente er der Armee,
bevor er zur Maccabi-Krankenkasse wechselte und fortan für
Geräte-Instandhaltung zuständig war. Hiller ist 83 Jahre alt, kommt aus dem
niederschlesischen Schweidnitz, und er mag seine Nachbarschaft sehr.
Er kennt hier jeden, vor allem aber kennt hier jeder ihn.
Wenn er im braunen Pullunder, der braunen Bügelfaltenhose und den braunen
Halbschuhen seine Spaziergänge macht, bleiben die Nachbarn für einen Schwatz
stehen. Die Bäume, die Blumen, der Rasen um ihn herum wachsen und blühen,
auch deshalb, weil Hiller als Hausmeister die Begrünung vorangetrieben hat.
Hausmeister gewesen zu sein hat jetzt unter anderem den Vorteil, dass es ihm
nicht an Lesestoff mangelt. Eine Nachbarin bringt ihm Spiegel, Focus und
Stern, "exzellente Zeitschriften", wie er sagt, und für Ida Hiller die Frau
im Spiegel. (Die SZ liest Hiller im Goethe-Institut.) Den Tag allerdings
beginnt er mit einer israelischen Tageszeitung. Dazu zwei Tassen
Jacobs-Bohnenkaffee und ein Schwarzbrot mit Marmelade, Käse oder Dauerwurst.
Dann schreibt Rudi Hiller lange Briefe mit der Hand nach Deutschland. Mit
früheren Schulfreunden diskutiert er über Schröders Agenda oder über
Napoleon. Rudi Hiller war schon oft in Deutschland, in München sogar
dreimal, wegen des Oktoberfestes. Dort isst er für sein Leben gern
Bienenstich mit Sahne. Auf dem Oktoberfest hat er seine anthropologischen
Schlüsse gezogen: "Das Fest ist schön, aber wenn ich gegangen bin an die
Zelte und das Gejohle gehört habe, habe ich gespürt die Veranlagung des
Übersprungs des Funkens von Volkstümlichkeit zur Tierischkeit. Goebbels hat
das ausgenutzt."
Und Heinrich wurde Chaim
Rudi Hiller ist ein Jecke, wobei nicht eindeutig geklärt ist,
woher der Begriff stammt. Manche sagen, es sei eine Abkürzung für die
hebräischen Worte "Jehudi kasche chawana", ein Jude, der schwer von Begriff
sei. Auch die anderen Erklärungen spotten den teutonischen Einwanderern. Mit
"Jecke" sei das Jackett (jiddisch: "Jekkale") bezeichnet worden, das die
Neu-Einwanderer aus dem kühlen Deutschland selbst in den glühend heißen
Sommermonaten bei Feldarbeiten nicht ablegen wollten. Wenn man israelische
Jeckes aufsucht und mit ihnen die Doppel-Identitäten beleuchtet, kommt man
zu dem Schluss: Jeckes sind die zuverlässigsten Seismografen der Beziehungen
zwischen Deutschen, Juden, Israelis. Am Donnerstag feiern Israel und
Deutschland diese Beziehungen, die von den beiden Staaten offiziell vor 40
Jahren aufgenommen worden waren.
Den Grundstein für die Verbindung haben dabei die deutschen
Juden gelegt, die zwischen 1933 und 1939 ins damalige Palästina ausgewandert
sind. Als Hitler 1933 an die Macht kam, lebten in Deutschland 530 000
deutsche Juden, bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten etwa 55 000 von
ihnen Zuflucht in Israel gefunden. Hier begannen sie ein zweites Leben in
einem fremden Land mit gnadenlosem Klima, dessen Sprache und Essgewohnheiten
sie nicht verstanden. Viele kochten in den ersten Jahren in der neuen Heimat
verzweifelt mit Braten und Klößen gegen die Mittelmeerküche an. Die
Alt-Einwanderer schmähten die blassen Deutschen als "Hitlerzionisten", die
nicht aus zionistischem Stolz nach Palästina gekommen waren, sondern auf der
Flucht vor den Nazis. Auch, um schneller von der Gesellschaft anerkannt zu
werden, tauschten die Deutschen ihre Namen. So wurde aus dem heute 85 Jahre
alten Heinrich aus Schwäbisch-Hall Chaim und aus seiner heute 88 Jahre
alten, aus Leipzig stammenden Frau Rosa Schoschana. Das Ehepaar Stubezki
lebt heute in einem Vorort von Tel Aviv, und ihre Freude über das auf
Deutsch geführte Interview ist so groß, dass man anderntags ein zweiseitiges
deutsches Gedicht in den Händen hält, beklebt mit Schmetterlingen und
Maikäfern.
Der deutsche Einfluss auf die israelische Gesellschaft ist
trotz aller Hänseleien über das Korrekte und die Steifheit der Jeckes sehr
groß. In der Wirtschaft waren und sind sie führend. Die schwäbische
Familiendynastie Wertheimer schuf im Norden Israels das weltweit operierende
Metallverarbeitungsunternehmen Iscar, Hilde und Richard Strauss brachten es
mit Milchprodukten zu einem Imperium, und Israels größtes Pharmaunternehmen
Teva ist eine Jeckes-Gründung von 1935. Auch Israels Zeitungswesen ist dem
Tatendurst der Juden aus Deutschland zu verdanken. Die heute größte
Tageszeitung Maariv wurde von Ariel Karlebach mitgegründet, der aus Zwickau
stammende Gerschom Schocken gründete Israels einzige Qualitätszeitung
Haaretz. Sein Sohn Amos leitet den Konzern, zu dem mehrere Lokalblätter
gehören.
Das tägliche Leben in der neuen Heimat ist für die Jeckes ein
ständiges Pendeln zwischen der deutschen Welt und der israelischen. Wenn
Rudi Hiller einen Termin mit dem Handwerker ausmacht, spricht er Hebräisch
ohne Fehler (wohl aber mit erkennbar deutschem Akzent), wenn die Stubezkis
Fernsehen schauen, dann 3 Sat und RTL. Und wenn man Ruth Schilo besucht,
Professorin für Mammografie, und sie öffnet die Tür zu ihrer picobello
aufgeräumten Eigentumswohnung in Ramat Aviv, merkt sie sehr freudig an: "Sie
sind zwei Minuten überpünktlich!" Die deutsche Zuverlässigkeit gefällt ihr.
Einerseits.
Als Brustkrebs-Expertin ist die 75-jährige Schilo
jahrzehntelang zum Forschen nach San Diego, New York und Philadelphia
geflogen, in den Urlaub nach Griechenland, Italien und in die Türkei - aber
nach Deutschland? Da habe es sie, andererseits, nie hingezogen. Schilo
stammt aus Leipzig, wo ihr Vater eine gutgehende Allgemeinarzt-Praxis hatte
und die Mutter als Lehrerin unterrichtete. Als der Vater seinen Beruf nicht
mehr ausüben durfte, die Mutter und die Kinder von der Schule verwiesen
wurden, fuhren beide Eltern zu Stippvisiten nach Palästina: "Mama kam mit
einem Strohhut und tropischen Früchten zurück und sagte: Israel ist das
Paradies". Papa fand: Israel ist nur Wüste!" Beide hatten Recht", sagt Ruth
Schilo heute. Die Uneinigkeit der Eltern hat sich nicht auf die Tochter Ruth
übertragen. Sie fühlt sich als hundertprozentige Israelin: "Ich interessiere
mich nicht sonderlich für das, was in Deutschland vor sich geht. Israel ist
meine Heimat, ich habe keine andere." Deutschland sei "etwas Fremdes, nicht
gehörend zu mir".
Von Eindrücken zermürbt
Dennoch muss sie zugeben, dass sie vor einem halben Jahr sehr
aufgewühlt war. Leipzigs Oberbürgermeister hatte sie in ihre Geburtsstadt
eingeladen, so flog sie mit ihrer Schwester dorthin. Zur Vorsicht hatten sie
ein Auto gemietet, "falls es uns langweilig wird in Leipzig", aber am Ende
blieb das Auto eine ganze Woche unbenutzt auf dem Hotel-Parkplatz. Die
beiden entdeckten auf ihren Touren ein völlig neues Leipzig, und sie
klingelten auch in der Funkenburgstraße 7, wo sie zur Welt gekommen waren.
All die Eindrücke "haben mich innerlich zermürbt, ich wusste gar nicht, dass
ich so bin", sagt Ruth Schilo und nippt an einem Kaffee. Das Reise-Resumee
fällt dennoch zugunsten Israels aus: "Es gibt schöne Sachen in Leipzig, die
wir hier in 100 Jahren nicht haben werden, die Kultur, das Gewandhaus, den
Botanischen Garten, die Uni, Mendelssohn. Aber Israel ist mein Land, ich
habe kein anderes."
So empfinden auch die Stubezkis. Die beiden sitzen unter
Neonlicht in ihrem Wohnzimmer, und wenn das Hörgerät von Schoschana Stubezki
zu fiepen anfängt, fummelt ihr Mann so lange am Ohr seiner Frau herum, bis
das Geräusch verstummt. Mit zweifelloser Überzeugung sagt sie: "Ich bin
Israelin." Die deutsche Pünktlichkeit vermisse sie zwar, "aber nicht die
deutsche Steifheit". Wenn die beiden ihre 62 Jahre Revue passieren lassen,
die sie nun verheiratet sind, taucht Deutschland nur von Ferne auf, die
Erinnerung wird konkret mit den ersten Schritten im fremden Land.
Sie wird nie vergessen, wie das aus Triest kommende Schiff in
Jaffa vor Anker ging: "Die Araber haben uns in kleine Boote gehoben und an
Land gebracht. Gestunken hat es, und es gab keine Trottoirs." Chaim Stubezki
erinnert sich an die Verwirrung auf der Einkaufsmagistrale Allenby: "Die
Schaufenster waren so staubig, dass ich nie wusste: Ist das nun ein Friseur
oder ein Lebensmittelgeschäft?" Auch dass man in Palästina schon zum
Frühstück Salate aß, "daran mussten wir uns gewöhnen". Die deutsche
Einwanderung hat eine gewisse Ordnung in das Vor-Israel gebracht: Plötzlich
wurden Wohnungen mit Verträgen vermietet (und nicht per Handschlag), der
Fisch wurde in Plastiktüten gereicht (und nicht mehr in Zeitungspapier), und
wenn man einen Handwerker bestellte und man Glück hatte, dass es ein
Flüchtling aus Deutschland war, "dann kam er pünktlich auf die Minute!"
Die Stubezkis wurden schnell in die israelische Gesellschaft
integriert. Schoschana arbeitete bei der Krankenkasse "als Tippse", wie sie
sagt, er war Automechaniker und Busfahrer. Sie waren zwar oft in
Deutschland, aber Schoschana Stubezki fiel das manchmal schwer: "Ich habe in
Leipzig immer Juden auf dem Weg in die Lager gesehen, alles hat nach Leichen
gerochen, und bei den Alten habe ich mich immer gefragt, was die wohl im
Dritten Reich gemacht haben." Ihr größter Stolz sind ihre drei Kinder (und
die drei Enkel und die drei Ur-Enkel). Einer der Söhne wohnt gleich nebenan,
er hilft im Garten und besorgt die Einkäufe. Die Tochter lebt als
Psychologin in London - zusammen mit ihrer Lebensgefährtin, einer Deutschen.
Und der ältere Sohn lebt schon seit mehr als 20 Jahren mit seinem deutschen
Lebensgefährten in dem Land, aus dem die Eltern geflüchtet sind - in
Frankfurt am Main. Durch den Sohn haben die Eltern einen Ausgleich mit
Deutschland gefunden: "Wir haben durch ihn viele Jugendliche kennen gelernt,
das ist ja eine ganz andere Generation, die nichts mehr mit dem Dritten
Reich zu tun hat." Was bedeutet ihnen Deutschland heute? Beide schweigen,
kramen nach einer Formulierung. Chaim Stubezki sagt, Deutschland sei
Schiller, Goethe, Heine und seine Sammlung klassischer Musik von Beethoven
bis Schubert. Und Schoschana Stubezki sagt nur einen einzigen Satz:
"Deutschland, das ist Vergangenheit."
Für Rudi Hiller dagegen ist Deutschland immer Gegenwart
geblieben. Er sitzt in seinem elektrisch verstellbaren Wohnzimmersessel, vor
ihm Lachshäppchen und Tomatensaft, und er erzählt und erzählt und erzählt.
Problemlos und in reichem, veralteten Deutsch taucht er in 2000 Jahre
jüdischer Geschichte ein, philosophiert über "Hitlers Massenhypnose", über
die "enorme Farblosigkeit" Angela Merkels und das Mahnmal für die ermordeten
Juden Europas in Berlin: "Das ist ein idealer Ort für unmoralische
Handlungen, für Drogenmissbrauch, Obdachlose, eine Falle für Sex in der
Nacht, viel zu groß, es wird Antisemitismus hervorrufen. Ein Mahnmal muss
zeigen, was man verbrochen hat." Und immer wieder kommt er auf Hitler
zurück: "Als Neunjähriger hatte ich Angst vor ihm. Dass er immer gegen Juden
geredet hat, das kam uns komisch vor."
Schock in Haifa
Im April 1936 sind Rudi Hiller und seine Eltern nach Israel
ausgewandert. In Haifa erlitt der damals 14-jährige Rudi einen "Schock über
den zivilisatorischen Rückfall". Voller Ernüchterung dachte er: "Was für ein
Balagan (Chaos) am Hafen! Und die lauten Araber, die fremden Gerüche,
gestunken hat es." Heute sagt er: "Israel ist meine Heimat geworden, Liebe
empfinde ich für dieses Land. Ich bin hier aufgewachsen, habe meine Kinder
bekommen, Freunde liegen hier begraben, ich habe Erfolg im Beruf erlebt."
Ein paar Tage später geht Rudi Hiller mit einem Handwagen auf
dem Karmel-Markt in Tel Aviv einkaufen, mit Bestellungen von Ida im Kopf.
Die Geldscheine in der Brusttasche und mit dem sicheren Gespür für frische
Waren kauft er Putenhals, Salami, Rahmkäse, Lachs, Hering, Erdbeeren und
einen Salat. Bei den Gängen durch den lauten Markt weicht die Fröhlichkeit
Hillers für einen Moment. Sein Sohn und seine Tochter könnten mit der
deutschen Kultur nichts anfangen, sagt er. Deutsche Pässe besäßen sie zwar,
"das war ihnen wichtig", aber Deutsch sprechen oder nach Deutschland fahren?
"Sie interessieren sich nicht dafür, sie sagen mir auch nicht, warum.
Vielleicht haben sie eine Abneigung gegen alles Deutsche wegen des
Holocaust. Ich habe sie nie gefragt, ich wollte sie nicht in eine Ecke
treiben." Rudi Hiller lässt sich vom Verkäufer zu einem ganzen Kilo
Erdbeeren überreden und sagt dann: "Es gibt keine Fortsetzung der deutschen
Kultur. Ich finde das außerordentlich schade."
Emigranten der dreißiger Jahre:
"Kommst du aus Überzeugung oder
aus Deutschland?"
Die Worte, die Hans Sahl 1973 in dem Gedicht "Die Letzten"
genervt wie mahnend niederschrieb, bilden den Titel eines von Anne Betten
und Miryam Du-nour herausgegebenen Buches. Es lässt deutschsprachige Juden
zu Wort kommen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts nach Palästina bzw. in den 1948 gegründeten Staat Israel
auswanderten...
Jeckes-Maimuna:
Sehnsucht nach Schlagsahne
Vor einer Woche ging die große Jeckes-Konferenz in Mishkenot
Sha'ananim in Jerusalem zu Ende, und danach wurden die statistischen Angaben
abgeändert, die nun lauten: die Jeckes vermehren sich...
Konferenz in Jerusalem:
Die
Rückkehr der Jeckes
Am 2. Mai wurde in Jerusalem eine internationale Konferenz, die erste ihrer
Art, über die Jeckes eröffnet. Die Konferenz befasst sich mit dem Beitrag
der Einwanderer aus Zentraleuropa zum Aufbau und der Entwicklung des Landes
und zur Erziehung, Wirtschaft, Justiz, Kunst u.m...
Deutsche Juden:
Die
"Jeckes" im israelischen Humor
Über die deutschen Juden, die "Jeckes", kursierten nach ihrer
verstärkten Einwanderung nach Palästina aufgrund des Machtantritts der Nazis
nach 1933 zahlreiche Anekdoten und Witze, denn dieser Gruppe haftete lange
etwas Auffälliges, Besonderes an...
Persönliche Erinnerungen:
Deutsch-israelische Beziehungen
1965 nahmen die Bundesrepublik und Israel
diplomatische Beziehungen auf. Ich war 15 Jahre alt und besuchte als
einziger Deutscher eine Schule für Diplomatenkinder in Sèvres bei Paris...
Dossier:
40 Jahre diplomatische Beziehungen Deutschland-Israel
Am 12. Mai 1965 haben Israel und die Bundesrepublik Deutschland offiziell
diplomatische Beziehungen aufgenommen. "Aus der Geschichte lernen - die
Zukunft gestalten" lautet das Motto dieser Verbindung, die nun schon 40
Jahre andauert...
hagalil.com 12-04-2005 |