An den Wassern des Sirvan:
Zwischen ethnisierten Konflikten und neuer Hoffnung
Von Thomas Schmidinger
Erschienen in: iz3w
- Juni 2005
Frühling im Irak 2005: Am Jahrestag des Giftgasangriffs
auf Halabja ist auf der Straße von Arbat nach Halabja kein Durchkommen.
Nicht nur, dass unzählige KurdInnen an den Gedenkfeiern teilnehmen wollen.
Die Sicherheitsvorkehrungen für die prominenten Teilnehmer sind es, die
letztlich den Verkehr zum Erliegen bringen. Auch hier in Kurdistan führt die
Furcht vor Anschlägen radikalislamistischer und postba'thistischer
Terrorgruppen zu immer professionelleren Kontrollen durch die aus ehemaligen
Peschmergas (kurdischen Guerillakämpfern) zusammengesetzte
Sicherheitspolizei.
Doch auch wer zuhause bleibt, entkommt der irakischen
Realität nicht. Jeden Abend werden im Fernsehsender al-iraqiya gefangene
Terroristen interviewt. Die konfrontativen Fragen des Interviewers prasseln
auf die eingeschüchtert wirkenden Männer herab. Sie berichten von den
Leuten, die sie angeworben hatten, und ihren Opfern, die sie erschossen oder
denen sie den Kopf abgeschnitten haben. Ein vor Angst stotternder Mann
berichtet von der Vergewaltigung und Ermordung von vier jungen Mädchen. Ein
anderer, noch immer selbstbewusst wirkender Mann erzählt, vom syrischen
Geheimdienst ausgebildet worden zu sein.
Ein Häufchen Elend mit einer Mischung aus ideologischem
Wahn und banalem Verbrechertum wird hier jeden Abend in die irakischen
Haushalte übertragen. Einerseits wird dadurch der "Widerstand" entzaubert,
andererseits entsteht eine Stimmung, die der Anerkennung menschenrechtlicher
Mindeststandards nicht gerade förderlich ist. Die meisten IrakerInnen würden
die vorgeführten Terroristen am liebsten sofort am Galgen baumeln sehen.
Kaum jemand fragt sich, woher die blau angeschwollenen Augen der Verhörten
kommen, wer die harschen Fragen stellt und ob die gezeigten
"Sicherheitskräfte" nicht direkt vom Geheimdienst des Ba'th-Regimes stammen.
Die verständliche Wut über den alltäglichen Terror könnte
so für neue autoritäre Tendenzen genutzt werden. Der Widerstand gegen den
Terror drückt sich aber nicht nur in derart problematischer Weise aus. Die
deutlichste Absage an die Terrorfürsten Zarqawi und Co. erteilten die
IrakerInnen Ende Januar in Form der hohen Wahlbeteiligung für das irakische
Übergangsparlament. Nach Wochen des verschärften Terrors und Tagen der
Ausgangssperre brach am Wahltag die Freude über die neue Freiheit durch. Auf
den Straßen von Bagdad war die Stimmung ebenso ausgelassen wie in
Suleimaniya oder Basra.
Selbst in Teilen des "Sunnitischen Dreiecks" fiel die
Wahlbeteiligung trotz der Todesdrohungen gegen die WahlteilnehmerInnen mit
bis zu einem Drittel der registrierten WählerInnen höher als erwartet aus.
Von einem kollektiven Wahlboykott der arabischen Sunniten, wie in einigen
westlichen und arabischen Medien behauptet, kann keine Rede sein. Wirklich
hohe Wahlbeteiligungen waren allerdings nur im kurdischen Norden und im
schiitischen Süden zu verzeichnen. Hier fielen die meisten Stimmen jedoch
auf ethnische und/ oder religiöse Listen, die nach Jahrzehnten der
Unterdrückung abweichender kollektiver Identitäten vor allem als Ausdruck
eines neuen kurdischen und schiitischen Selbstbewusstseins zu werten sind.
Dementsprechend konnte nicht nur die schiitisch dominierte
Vereinigte irakische Allianz (UIA) - in der sich die
schiitisch-islamistischen Parteien SCIRI und Da'wa mit dem säkularen
Irakischen Nationalkongress von Ahmed Chalabi zusammengeschlossen hatten -
mit 48 % einen Wahlerfolg verzeichnen. Auch die Kurdistan-Liste, der nicht
nur KDP und PUK, sondern auch kleinere kurdisch-assyrische und turkmenische
Parteien angehörten, war mit einem Viertel der Stimmen erfolgreich. Die
Partei des Übergangsministerpräsidenten Allawi landete abgeschlagen auf
Platz 3. Schwere Niederlagen erlitten die nationalistischen Parteien der
Turkmenen und Assyrer, sowie eine schiitisch-islamistische Liste, die
Muqtada al-Sadr nahe steht. Überraschend wenig Stimmen entfielen auch auf
die "Volksunion" der Irakischen Kommunistischen Partei, die mit rund 1 % der
Stimmen nur über zwei Mandate im Übergangsnationalrat verfügt. Dazu kommen
jedoch drei kommunistische Mandate, die die Kurdische Kommunistische Partei
über die Kurdistan-Liste erreichen konnte.
Mufid al-Jazairi von der Kommunistischen Partei machte den
Einfluss religiöser Autoritäten zugunsten der Vereinigten irakischen Allianz
(UIA) und den Missbrauch staatlicher Strukturen von Seiten der Partei Iyad
Allawis für das schlechte Abschneiden seiner Partei verantwortlich. Die KP
hätte finanziell nicht mit den anderen Parteien konkurrieren können.
Insgesamt beurteilte aber auch er die Wahlen als relativ fair. Angesichts
der Verhältnisse vor Ort sei kaum etwas Besseres zu erwarten gewesen. Seine
Partei arbeite jedenfalls weiter an der neuen Verfassung und der
Demokratisierung des Landes mit. Eine Errichtung eines islamistischen
Regimes fürchte er nicht, schließlich hätten sich die
schiitisch-islamistischen Parteien zur Demokratie bekannt. Außerdem verfüge
die Vereinigte Irakische Allianz nicht über die notwendige
Zwei-Drittel-Mehrheit, die Verfassung alleine zu beschließen. Zudem ist die
UIA alles andere als ein einheitlicher Block. Die Differenzen innerhalb der
Allianz zeigten sich nicht nur zwischen säkularen und islamistischen
SchiitInnen, sondern auch zwischen Da'wa und SCIRI, die sich wochenlang
nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten
einigen konnten.
Nicht nur die Kommunisten, auch die kurdischen Parteien
sehen der Ausarbeitung der neuen Verfassung hoffnungsvoll entgegen. Ohne die
Kurdische Liste, die allein fast über eine Sperrminorität verfügt, wird die
zukünftige Verfassung - deren Verabschiedung die Hauptaufgabe des
Übergangsnationalrates darstellt - nicht zu beschließen sein. Aus dieser
Position der Stärke heraus sieht die Perspektive eines gemeinsamen Irak aus
kurdischer Sicht wesentlich attraktiver aus als bisher. Naushirwan Mustapha
Emin, der Stellvertreter Talabanis und damit zweiter Mann der PUK, zählt
zahlreiche Vorteile auf, die ein Verbleiben der KurdInnen in einem
gemeinsamen Irak mit sich brächte - vom Zugang zu arabischen Märkten bis zu
Studienmöglichkeiten an den arabischen Universitäten. Die lange verzögerte,
aber schließlich doch über die Bühne gegangene Wahl Talabanis zum
Präsidenten könnte ebenfalls integrativ wirken.
Das größte Hindernis für eine größere Rolle der Kurden im
Irak könnten dabei die kurdischen Parteien selbst sein. Wie die UIA ist auch
die Kurdistan-Liste weit von einer funktionierenden Zusammenarbeit entfernt.
Bei den Feiern der PUK zur Amtseinführung von Talabani wurden in mehreren
Städten PUK-Funktionäre von KDP-Anhängern verprügelt. Von der von Präsident
Talabani beschworenen Einheit des Irak ist in manchen Teilen Kurdistans
wenig zu bemerken. In Sulemaniya hat die jüngere Generation, die nach der
Errichtung der autonomen kurdischen Sicherheitszone im Nordirak heranwuchs,
kaum mehr einen Bezug zum irakischen Staat. Die meisten der heute Zwanzig-
bis Dreißigjährigen können kaum mehr Arabisch und haben damit den Zugang zu
gemeinsamen Medien und den im Wiederaufbau begriffenen Universitäten in
Bagdad verloren. Die kurdische Sprache ist jedoch noch weit davon entfernt,
ein Ersatz für die reiche arabische Schrift- und Wissenschaftstradition zu
sein. Studierende der Universität von Sulemaniya, die kein Englisch oder
Arabisch können, haben kaum Zugang zu wissenschaftlicher Literatur.
Dementsprechend niedrig ist das Ausbildungsniveau.
In Sulemaniya scheint Bagdad weit weg zu sein. Dafür ist
die Stadt liberaler und weltoffener als andere irakische Städte. Kaum jemand
hält hier aggressiven Nationalismus für notwendig. Anders in Kirkuk. Seit
den Wahlen, die einen Sieg der Kurdischen Liste mit sich brachten, achtet
jede Bevölkerungsgruppe genau darauf, dass die andere nicht zu stark wird.
Insbesondere zwischen den von der Türkei unterstützten Turkmenen und den
Kurden sind die Spannungen greifbar. Bei der ersten Sitzung des neu
gewählten Regionalrates der Provinz Kirkuk begannen die kurdischen
Abgeordneten die Sitzung sofort in kurdischer Sprache abzuhalten, was den
Auszug der arabischen und turkmenischen Vertreter zur Folge hatte. Völlig
anders ist das Verhältnis zwischen Turkmenen und Kurden in der Kleinstadt
Kifri. Bis 2003 war die von Hügeln umgebene Stadt von der irakischen Armee
eingekesselt. Die Stadt selbst hatte sich hingegen 1991 selbst befreit. Die
kurdischen Peschmergas hielten später eine Verbindungsstraße in die
belagerte Stadt aufrecht.
Hier ist von den Spannungen zwischen Kurden und Turkmenen
nichts zu bemerken. Fast jeder beherrscht außerdem Arabisch. Trotzdem zeigt
sich auch hier die Nähe zum "Sunnitischen Dreieck" und damit zur Hochburg
des radikalislamistischen und postba'thistischen Terrors. Die Peschmerga der
PUK sind besonders nervös. Vor kurzem hielten sie zwei arabische Kommunisten
fünf Stunden lang im Gefängnis fest, weil sie nicht glauben konnten, dass
sich Araber mit friedlicher Absicht nach Kurdistan verirren konnten. Dabei
wollten die beiden nur kurdische KommunistInnen besuchen, mit denen sie aus
ihrer Zeit im Untergrund befreundet waren.
Je länger der Terror im Zentralirak andauert, desto
geringer scheint die Geduld der KurdInnen zu werden. Wer mit der Bevölkerung
redet, bekommt zwar nur selten wirklich rassistische Kommentare über Araber
zu hören. Die Gleichsetzung von Arabern mit Terrorismus und Gewalt ist
jedoch bereits hier und da zu vernehmen. Tatsächlich kommt es im Zentralirak
immer wieder zu gezielten Angriffen auf KurdInnen und Angehörige anderer
Minderheiten. Auf Graffities in Mossul werden KurdInnen als "schlimmer als
Juden" beschimpft. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Yezidi wurden
gar auf offener Straße geköpft. An der Straße zwischen Darband-e Han und
Kallar in der Germian-Region sind die Folgen erster ethnischer Säuberungen
im Zentralirak zu erkennen. In der Nähe des Flusses Sirvan leben dort seit
Juli 2004 iranische Kurden, die aus ihrem Exil erneut flüchten mussten, als
radikale sunnitische Prediger zum Mord an den Kurden aufriefen und einige
von der aufgehetzten Menge ermordet wurden. Nun warten sie in ihren Zelten,
umgeben von Minenfeldern, auf ihren Umzug in Unterkünfte bei Sulemaniya.
Auch christliche Kirchen und schiitische Gebetsstätten
wurden zunehmend zum Angriffsziel radikaler sunnitischer Islamisten. Noch
hat deren Versuch einer Ethnisierung der Konflikte in Richtung eines
Bürgerkriegs keinen durchschlagenden Erfolg gezeigt. Schafft es die neue
Regierung, die erstmals von Schiiten und Kurden dominiert ist, den Terror
effektiver zu bekämpfen als ihre Vorgängerin, wird sich der Irak wieder als
gemeinsamer Staat aufbauen lassen. Wenn nicht, könnte die Geduld der
KurdInnen bald ein Ende haben.
Thomas Schmidinger ist Redakteur der Zeitschrift
Context XXI, Flüchtlingsbetreuer und Mitarbeiter der im Irak tätigen NGO
Wadi e.V.
WADI - Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit
e-mail: wadi.wien@gmx.at
Tel.: 0699-11365509
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hagalil.com 25-05-2005 |