Die
Lehre des Holocaust:
Die Notwendigkeit, solches Unrecht überall zu bekämpfen
Ein Leitartikel der größten israelischen Tageszeitung Jedioth
achronoth
Noch vor einigen Jahrzehnten hatte es den Anschein, als drohe
die Gefahr für die Erinnerung an die größte Katastrophe des jüdischen Volkes
gerade von innen heraus. In Israel wurden die Juden der Diaspora dafür
verachtet, dass sie sich nicht mutiger verhalten haben, und die gemeine
Bezeichnung "wie Vieh zur Schlachtbank" wurde zu einem geflügelten Wort.
Seither ist jedoch viel Zeit vergangen, und wer die Entwicklungen
im Bildungssystem mitverfolgt, wird feststellen, dass die Betonung des Holocaust
ständig zunimmt. Die Schüler von heute lernen wesentlich mehr über den Holocaust
als über den Unabhängigkeits- oder den Libanonkrieg. Die Geschichte der Schoah,
über die man sich früher geschämt hat, ist in den Mittelpunkt gerückt.
Es ist fraglich, ob das ein Zufall ist. Das heutige Israel, ein
militärisch und wirtschaftlich starker Staat, befasst sich fast obsessiv mit
seiner Rolle als Opfer. Es sieht sich noch immer als einsame Insel in einem Meer
von Hass, das nicht nur die arabischen Staaten umfasst, sondern auch den
Großteil der europäischen Länder.
Das lernen die Jugendlichen bei ihren Fahrten nach Polen: Nicht
nur, wie schlimm die Ereignisse vor 60 Jahren waren, sondern auch, wie schlimm
die heutigen Geschehnisse sind.
Die Botschaft der Rede Sharons zum Jom haSchoah 2005 lautete,
dass man uns nirgendwo liebt. Alle sind Antisemiten, und der Ausbruch dieses
Antisemitismus ist nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit. Deshalb ist uns
alles erlaubt, denn wer um seine blanke Existenz gegen eine große und sehr
feindliche Welt ankämpft, dessen Taten sind gerechtfertigt. Das ist die
Botschaft, die Sharon, der MP eines Landes, das über eine Armee der Stärke einer
Großmacht verfügt, seinen Bürgern vermitteln möchte.
Die Juden brauchen tatsächlich eine nationale Heimstätte, sie
brauchen Schutz und sie brauchen die Erinnerung. Aber genauso brauchen wir die
Erkenntnis, dass das menschliche Böse grenzenlos ist, das es normale Menschen
wie dich und mich überkommen kann. Wir brauchen das Verständnis, dass sich die
Erinnerung nicht nur aus dem schrecklichen Unrecht zusammensetzt, das uns
widerfahren ist, sondern auch aus der Notwendigkeit, dieses Unrecht überall zu
bekämpfen.
[FORUM]
hagalil.com 16-05-2005 |