Erinnerungsdiskurs, ohne die Überlebenden:
Jetzt reden wir!
Von Christian Staas
Jungle World
20 v. 18.05.2005
Sergej Bogdanow ist nicht gekommen. Er wollte nach der
Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers
Buchenwald nicht noch ein weiteres Mal nach Deutschland reisen. Als anonymer
Angehöriger einer "Massenabfertigung" habe er sich in Buchenwald gefühlt,
sagt er, zu Demonstrationszwecken durch das ehemalige Konzentrationslager
geschleust. Das habe ihm gereicht. Noch einmal wolle er der deutschen
Erinnerungskultur nicht als Statist dienen.
Dabei hätte er bei seinem zweiten Besuch öffentlich über seine Erfahrungen
sprechen können. Eingeladen hat ihn der Verein "Berliner Kontakte", der sich
um vergessene Opfer des Naziregimes bemüht, vor allem um frühere sowjetische
Kriegsgefangene wie ihn – Opfer des Vernichtungskrieges, die bislang keine
Entschädigung erhalten haben und womöglich nie erhalten werden. Unter dem
Titel "Nicht anerkannt" saßen am 7. Mai zehn von ihnen auf dem Podium in der
Akademie der Künste in Berlin.
Alle zehn waren in so genannten Stalags, Lagern der Wehrmacht, inhaftiert.
Das Ziel dieser Lager war die "Vernichtung durch Arbeit"; insgesamt kamen
während des Zweiten Weltkriegs 3,5 von 5,5 Millionen sowjetischen
Kriegsgefangenen ums Leben. Eine finanzielle Entschädigung steht nach
geltendem Recht jedoch nur ehemaligen KZ-Häftlingen zu. Kriegsgefangene
gehen leer aus. Auch Sergej Bogdanow hat, obwohl er jahrelang in Buchenwald
war, kein Geld bekommen. Zur Anerkennung fehlen ihm die nötigen Dokumente.
Seine Erinnerungen und das Soldbuch, in dem die Deportation nach Buchenwald
vermerkt ist, reichen den deutschen Behörden als Nachweis nicht aus.
Seine Empörung darüber mag dazu beigetragen haben, wie er die
Feierlichkeiten in Buchenwald erlebt hat: als Inszenierung, in der er, wie
bei den Entschädigungszahlungen, übergangen wird. Eine Erfahrung, die in
dieser Form ein Einzelfall ist, im Rückblick auf die Veranstaltungen der
vergangenen Monate aber eine grundsätzliche Frage aufkommen lässt: die
Frage, welche Rolle in der gegenwärtigen Erinnerungskultur den Überlebenden
zukommt, die in diesem Jahr so zahlreich wie nie zuvor nach Deutschland
gekommen sind.
Hamburg, 4. Mai 2005: Der Erste Bürgermeister Ole von Beust betritt die
Bühne auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Neuengamme. Er
begrüßt die 250 ehemaligen Häftlinge im Publikum und erinnert an ihre
Leidensgeschichten. Dann zitiert er eine Holocaust-Überlebende mit der
Frage, ob die Deutschen wohl tatsächlich aus ihrer Vergangenheit gelernt
haben. Der Bürgermeister weist den Zweifel von sich. "Wir haben gelernt",
sagt er. Punkt. Es klingt beinahe trotzig: Wenn einen die Überlebenden nicht
für die vorbildliche Aufarbeitung loben, muss man es eben selbst tun. Man
hört es einfach zu gerne, dieses Lob, ist überzeugt, dass man es verdient,
und hat, wie Horst Köhler, auch keine Probleme, wegen des Beifalls aus aller
Welt am 8. Mai "stolz" auf sein Land zu sein. Dass von Beust im selben
Atemzug die Zweifel der Überlebenden beiseite fegt, überbietet allerdings
noch die Köhlersche Selbstgefälligkeit.
"Das ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden", sagt Regina Suderland,
Vorsitzende des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte,
79 Jahre alt, Tochter einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters,
aufgewachsen in Nazideutschland und als "Halbjüdin" verfolgt.
"Offensichtlich", sagt sie, "will sich da einer ins rechte Licht rücken" –
in Verteidigungshaltung gegenüber den Ängsten derjenigen, derer er gedenkt.
Kurt Goldstein, Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitzkomitees, ist im
Januar aus ähnlichen Gründen nicht an den Ort gefahren, an dem er den
Holocaust überlebt hat: nach Auschwitz. "Ich hatte keine Lust, in eisiger
Kälte an der Rampe zu stehen und mir von den Rednern, unter anderen den
deutschen, anzuhören, wie gut sie doch alle mit der Vergangenheit umgehen.
Ich finde das zum Kotzen."
In ihrer Selbstgewissheit, scheint es, ist den geschichtspolitischen
Sprechern des deutschen Aufarbeitungsdiskurses eine einfache Einsicht
abhanden gekommen: Überlebende und Nachfahren der Täter befinden sich nicht
am selben Ort, wenn sie in ehemaligen Konzentrationslagern zusammenkommen.
Es sind zwei verschiedene Erinnerungen, eine an den erlittenen und eine an
den verübten Vernichtungsterror. Die Täter- und die Opfergeschichte bleiben
inkommensurabel. Ein Widerspruch, der unversöhnlich ist – und der übergangen
wird, sobald Erzählungen ehemaliger KZ-Häftlinge keine kritische
Selbstbefragung mehr auslösen, sondern für eine eitle Selbstinszenierung
vereinnahmt werden. So dient am Ende nicht mehr Auschwitz als Bezugspunkt
für das eigene Selbstverständnis, vielmehr wird die angeblich so
erfolgreiche Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu einer Art neuem
"Gründungsmythos", dank welchem sich nun wieder an ein ungebrochenes
kulturnationales Bewusstsein anschließen lässt.
Um den unbequemen Fragen der Geschichte zu entkommen, bedarf es daher auch
keines demonstrativen "Wegsehens" mehr, wie es Martin Walser 1998 noch für
sich und andere reklamierte. Der Stolz auf die gründliche Pflichterfüllung
tut es auch. Und vielleicht liegt das Problem ja auch längst nicht mehr im
Hinsehen oder Wegsehen, sondern im Hören, wie es der Schriftsteller Marcel
Beyer bereits vor rund zehn Jahren in seinem Roman "Flughunde" und einem
Aufsatz über den Umgang mit der NS-Vergangenheit thematisiert hat.
Mit dem Titel "Eine Haltung des Hörens" ist dieser Aufsatz überschrieben –
eine Haltung, an der es zurzeit offenbar stärker mangelt als an der
Bereitschaft, sich Bildern und Filmen auszusetzen. Eine Haltung, die auch
Festredner wie Köhler vermissen lassen, wenn sie zwar fleißig hinschauen und
dabei gern gesehen werden, aber nicht mehr fragen, sondern nur noch
antworten.
Kein Wunder, dass sie sich im Ton vergreifen – das ist normal, wenn man
schlecht hört. Wenn man nicht hört, dass Holocaust-Überlebende wie Esther
Bejarano Angst und keine zufriedene Gewissheit in der Stimme haben, wenn sie
mahnen, die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen. Wenn man nicht hört,
welche Irritation bei manchen Überlebenden das Gefühl auslöst, zu
erinnerungspolitischen Zwecken vorgeführt zu werden. "Manchmal", sagt Regina
Suderland, "staunen einen die Leute dann so ehrfürchtig an. Eine echte Jüdin
zum Anfassen! Als würde man tatsächlich einer aussterbenden Rasse
angehören."
Zu hören, meint Marcel Beyer, gelte es aber nicht nur auf Gesagtes, sondern
auch auf Verschwiegenes: auf das Schweigen der Täter, auf das der Opfer und
das ihrer Nachfahren – und schließlich auf das Verschweigen im Sprechen
selbst, ein Verschweigen, wie es sich auch im aktuellen Erinnerungsdiskurs
breitmacht.
"Zeitzeuge" etwa ist ein solches verschwiegenes Wort. Vielen Überlebenden
ist es suspekt, so auch dem Vorsitzenden des Vereins der ehemaligen
jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, Alexander Bergmann. Er sei
kein Zeuge, sagt er. Er sei nicht, wie es das Wort nahe lege, Beobachter
eines Geschehens, sondern unmittelbar betroffen gewesen. Der Begriff schaffe
eine verfälschende Distanz. Vor allem aber wirkt er nivellierend.
Schließlich sind auch der ehemalige SS-Mann oder der frühere Hitlerjunge
"Zeitzeugen", wobei auch hier die begriffliche Distanz zum "bezeugten"
Geschehen die Tatsachen verschleiert. Der Begriff konstruiert dadurch eine
Art neutralisierten Ort des Erinnerns und wirkt so unter Umständen jenem
Verstehen entgegen, das man sich von Gesprächen mit "Zeitzeugen" erhofft.
Zuhören heißt eben auch, darauf zu achten, aus welcher Richtung jemand
spricht – und dabei wahrzunehmen, dass es keinen neutralen Ort geben kann,
an dem das Erinnern einträchtig und schmerzfrei vonstatten geht.
Auch die allzu selbstsichere Wortführerschaft im Gedenken der Nachfahren der
Täter erweist sich als verschwiegener, als es scheint. Das jahrzehntelange
Leugnen und Beschweigen der Täter-Geschichte nach 1945 etwa, wie es noch
immer und im deutschen Opferdiskurs wieder fortwirkt, wird selten kritisch
reflektiert. Man quatscht einfach wortgewandt über es hinweg. Wie hartnäckig
sich das Schweigen über 1968 hinweg bis heute gehalten hat, belegen dagegen
nicht zuletzt die Untersuchungen von Sabine Moller, Harald Welzer u.a., die
in ihrem Buch "Opa war kein Nazi" zeigen, wie eifrig die Generation der
heute 30jährigen ihre Großeltern von Schuld freispricht.
Der Topos des "Schweigen-Brechens" hat indes auch eine Kehrseite, nehmen ihn
doch die Befürworter des neuen deutschen Opfergedenkens genauso für sich in
Anspruch – auch wenn sie dabei, uneingestanden, neues Schweigen produzieren.
Dass dies eben nicht nur das Schweigen der Martin Walsers ist, sondern auch
das der Enkelgeneration, ist umso bestürzender, wenn man hört, welch große
Hoffnungen viele Überlebende in "die jungen Leute" setzen, mit denen sie das
Gespräch suchen. In den vergangenen Monaten sind solche Gespräche sicherlich
auch oft gelungen: in Schulklassen, auf Lesungen, in privaten Begegnungen.
"Die Erzählungen von Überlebenden", sagt etwa Adam König, 82 Jahre alt,
"kann dazu beitragen, die Geschichte in ihrer Komplexität zu erfahren." Er
selbst war fast sechs Jahre in Konzentrationslagern, unter anderem in
Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen.
Die Selbstbeweihräucherung auf den offiziellen Gedenkfeiern dagegen steht in
einem seltsamen Widerspruch zum Bemühen, noch einmal so viele Überlebende
wie möglich zu versammeln. Komplexität, Zweifel und Kritik hatten dort in
den vergangenen Monaten wenig Raum. Und vielleicht ist der Begriff
"Zeitzeugen" daher auch ausnahmsweise angemessen: Wie Zaungäste wurden die
Überlebenden in vielen Veranstaltungen Zeugen einer Form des Gedenkens, die
mit ihnen keinen Dialog mehr führt, sondern lediglich für ihre stolz
präsentierte Wohlgeratenheit beklatscht werden möchte.
hagalil.com
20-05-2005 |