Bis zum letzten Blutstropfen:
Keine Zeit für Helden
Die israelische Armee ist aus Jericho und
Tul Karem abgezogen. Trotzdem ist die Waffenruhe labil. Auf den Spuren eines
Selbstmordattentäters aus der Westbank.
Von Michael Borgstede
Jungle World 13 v.
30.03.2005
Deir al Choussun, etwa zehn Kilometer nördlich von Tul
Karem. Im Internet kursiert ein Foto von Abdallah Badran. Es zeigt einen gut
aussehenden jungen Mann. In blauer Lederjacke, betont männlich, unrasiert,
hält Abdallah seine Nichte auf dem Schoß. Beide lächeln, es ist ein
idyllischer Augenblick familiären Glücks. Doch irgendjemand, vielleicht ein
wütender Israeli, hat Abdallah mit Hilfe moderner Bildbearbeitungstechnik
zwei Hörner verpasst. Teuflisch rot und gebogen, sprießen sie oberhalb der
buschigen Augenbrauen aus seiner Stirn. Abdallahs Mutter betrachtet das
bearbeitete Bild mit Abscheu: "Mein Sohn war kein Teufel", sagt sie. "Auch
wenn er einen Fehler gemacht hat."
Jenen "Fehler", seinen letzten, machte Abdallah am Abend des
25. Februars 2005, als er sich am Eingang des Tel Aviver Nachtclubs "Stage"
mit 30 Kilogramm Sprengstoff am Leib in die Luft sprengte. Fünf Israelis
riss er mit sich in den Tod. Sie wollten an jenem Freitagabend den
Geburtstag eines Freundes feiern.
Es gibt ein Video, aufgenommen kurz vor dem Anschlag, in dem
Abdallah seine Motive erklärt: Der 21jährige spricht dort von "Rache für die
Verbrechen der Israelis in den besetzten Gebieten" und von der
"Kollaboration der Autonomiebehörde von Machmud Abbas mit Israel". Sein
Blick ist glasig, seine Stimme gefühllos – eigentlich ist Abdallah schon
nicht mehr von dieser Welt. Seine Mutter will das Video nicht sehen. "Meinen
Abdallah habe ich anders in Erinnerung." Und was ist ihre letzte Erinnerung?
"Beim Frühstück hat er gesagt: ›Wartet nicht auf mich mit dem Abendessen.‹
Und wir haben nichts geahnt." Ihre Stimme bricht, sie holt ein zerknülltes
Taschentuch hervor und schneuzt sich mehrmals.
Rashidah Badran wirkt älter als die 54 Jahre, die sie zählt.
Die halb ergrauten Augenbrauen, ihre Mundwinkel und die schlaffen Arme –
alles an dieser Frau scheint der Erdenschwere nachgegeben zu haben und zieht
nach unten. Zehn Kinder hat Rashidah zur Welt gebracht, sieben von ihnen
leben daheim. Sie kocht, backt, putzt und wäscht tagein, tagaus. Wenn sie
eine ruhige Minute hat, versinkt sie trauernd in alten Fotoalben. Im
Nachhinein bekommt vieles eine andere Bedeutung: "Hier!" zeigt sie. "Da war
Abdallah in der Moschee, seit kurzem ist er regelmäßig dorthin gegangen. Er
war ein besserer Muslim als der Rest der Familie." Dann sucht sie erneut das
Taschentuch hervor.
Abdallahs 17 Jahre alte Schwester Naeh schaut ihrer Mutter
über die Schulter: "Und da, da hat er mir das Laufen beigebracht. ›Du musst
doch vor den Soldaten wegrennen können‹, hat er mich angetrieben." Naeh hat
sich ihre eigene Version des Todes ihres Bruders zurechtgelegt: "Er hatte
sich eine Bar ausgesucht, die nur von Geheimdienstleuten und Soldaten
besucht wird", weiß sie zu berichten. Der Gedanke, ihr Bruder sei für den
Tod unschuldiger Partygänger verantwortlich, war ihr wohl unerträglich.
Dabei ist sie keineswegs unkritisch: Die tröstenden Worte ihres Lehrers, der
Abdallah als Märtyrer in den Himmel fantasierte, gaben ihr nichts. Sie will
Politikwissenschaft studieren und als Politikerin Palästina aufbauen. "In
der Fatah-Partei natürlich", versichert sie.
"Wir sind seit eh und je treue Anhänger der Fatah-Partei",
sagt auch ihr ältester Bruder Ibrahim. "Deshalb haben wir bei den Wahlen
auch alle für Abbas gestimmt." Für Abbas, den Abdallah als "Verräter"
bezeichnete? Ibrahim schweigt. Über Religion oder Politik sei in der Familie
kaum gestritten worden. "Keiner wusste, was Abdallah wirklich gedacht hat.
Er hat sich noch am Morgen seines Todestages vollkommen normal verhalten."
So normal, dass die Familie keinen Verdacht schöpfte, als um fünf Uhr
morgens zehn israelische Armeefahrzeuge vor ihr Haus rollten. "Sie klopften
an die Tür und behaupteten, Abdallah habe sich in Tel Aviv in die Luft
gesprengt", erzählt der Vater. "Ich habe ihnen kein Wort geglaubt." "Nein,
nein. Das kann gar nicht sein. Der liegt ja noch im Bett", habe er ihnen
entgegengehalten. Doch Abdallah lag nicht in seinem Bett.
Sieben Tage dauert bei Juden wie bei Arabern die Trauerzeit.
Während dieser Zeit steht das Haus Besuchern offen. Als sich abzeichnete,
dass die Armee das Haus der Familie nicht zerstören würde, bereiteten die
Badrans einige Teller mit Feigen und Gebäck vor, stellten große Kannen mit
Tee und Kaffee bereit und warteten auf die Trauergäste.
Doch die blieben aus. "Selbst die Nachbarn, Menschen mit
denen wir seit Jahrzehnten gute Kontakte unterhalten, ließen sich nicht
blicken", sagt Abdallahs Vater. Und das Schlimmste sei gewesen, dass er es
ihnen nicht mal übel nehmen konnte. "Alle waren wütend. Endlich herrschte
Ruhe und die Israelis wollten aus Tul Karem abziehen – da kann eine solche
Aktion alles zunichte machen."
Die Befürchtungen haben sich bewahrheitet: Während die Armee
in der vergangenen Woche Tul Karem verließ, sollen die Dörfer nördlich der
Stadt – darunter auch Deir al Choussun – erst später der
Palästinenserbehörde übergeben werden.
Dementsprechend enttäuscht geben sich andere Dorfbewohner:
"Jeden Tag stehe ich stundenlang an zwei Checkpoints, um nach Tul Karem zu
gelangen", beschwert sich ein Mann, der mit seinem Kleinbus eine kleine
Spedition betreibt. "Wir haben genug von der Intifada, den Attentaten und
den Checkpoints. Der Wahnsinn muss endlich ein Ende finden."
Vor einem anderen Haus schlürft ein übergewichtiger Mann
Kaffee. Im Hintergrund dudelt ein Radio arabische Popmusik. "Meine
Sympathien gehören der Hamas", sagt er und zeigt auf die grüne Fahne, die
durch ein Fenster zu sehen ist. "Ich verstehe die Leute nicht, die Abdallah
angeworben haben. Wenn wir bei der Hamas einen Waffenstillstand vereinbaren,
dann halten wir uns auch daran." Eine Märtyreraktion müsse einen Sinn haben.
Diese aber sei sinnlos gewesen, und deshalb habe er wenig Respekt für
Abdallahs Mut.
In den Palästinensergebieten sind das ungewöhnlich klare
Worte. Einige Monate früher wäre Abdallah vielleicht als Held gefeiert
worden, seine Mutter hätte, wenn auch schmerzenden Herzens, einen
Freudengesang angesichts des Märtyrertums ihres Sohnes anstimmen müssen, und
farbige Poster des Schahids hätten die Wände des Dorfes geschmückt.
Vielleicht gibt es kein deutlicheres Zeichen dafür, dass sich im Nahen Osten
etwas verändert, als die Tatsache, dass Familie Badran um ihren Sohn alleine
trauern musste. Ein Sohn, der zum Mörder wurde. Und keiner hatte etwas
gewusst.
Chalid hatte zumindest eine Ahnung. "Wir waren alte Freunde
und immer sehr offen miteinander", erzählt er. "Auf einmal war Abdallah für
keinen Spaß mehr zu haben." Sie hätten sich in den Zeiten der Besatzung
gerne mit albernen Spielen abgelenkt, hätten den hübschen Mädchen von Tul
Karem nachgeschaut oder beim Bäcker Zucker in das Salzfass gefüllt. "Damit
war es seit einiger Zeit vorbei. Abdallah war sehr ernst. Ich hatte bald ein
schlechtes Gewissen, in seiner Gegenwart zu lachen." Über Religion habe
Abdallah viel gesprochen, und über die Juden. Dass der Hass auf die Araber
in deren Religion verankert sei und man einem Juden niemals trauen könne.
Dass Palästina heiliges muslimisches Land sei und deshalb nicht geteilt
werden dürfe. Dass die Juden in ihre Heimatländer zurückgetrieben werden
müssten, notfalls mit Gewalt, bis auch der letzte Zentimeter Palästinas
befreit sei.
Chalid fand die Gespräche langweilig, sagt er, er konnte
Abdallahs Gedankengängen nicht mehr folgen. "Wir konnten doch nichts ändern.
Man ist als Einzelner ja so hilflos." Irgendwann muss jemand Abdallah den
Vorschlag gemacht haben, nicht länger hilflos zu sein, sondern zur Tat zu
schreiten. Da war er schon ein Mitglied des Islamischen Jihad.
Herr M. möchte nicht namentlich genannt werden. Als einer der
Führer des Islamischen Jihad in Tul Karem könnte ihm zu viel Publizität
schaden. Die Geschichte mit Abdallah ist ihm unangenehm. "Ich erinnere mich
nicht gut an den Jungen. Er war, glaube ich, ein sehr nachdenklicher Typ.
Und intelligent." Wer hat Abdallah mit dem Sprengstoffgürtel ausgerüstet und
nach Tel Aviv geschickt? Die Antwort fällt überraschend aus: "Wir jedenfalls
nicht." Wie bitte? Aber der Islamische Jihad habe doch nach dem Anschlag die
Verantwortung übernommen? M. zögert. So einfach sei das nun auch nicht. Es
habe da widersprüchliche Berichte gegeben.
Das entscheidende Wort sei schließlich in Damaskus gefallen,
bei der Auslandsführung der Organisation. "Wir jedenfalls konnten die
Verantwortung nicht übernehmen, weil wir gar nichts davon gewusst haben."
Deshalb könne seine Organisation auch keine finanzielle Verantwortung für
die Familie übernehmen. So habe er das auch den Badrans gesagt. "Aber die
wollten sowieso kein Geld." M. ist undurchschaubar. Dass – wie die Israelis
vermuten – Syrien oder die Hizbollah hinter dem Anschlag steckten, will er
zwar nicht behaupten. Aber der Islamische Jihad sei "der Waffenruhe
verpflichtet und sieht momentan von Märtyreraktionen in Israel ab".
Er beugt sich vor, als wolle er ein wohlbehütetes Geheimnis
verraten: "Die Stimmung in der Bevölkerung ist momentan nicht nach Aktionen
in Israel. Viele Palästinenser unterstützen unseren Freiheitskampf zwar
prinzipiell, sind aber bereit, Abu Mazen und dessen Politik eine Chance zu
geben." Abu Mazen, das ist der Kampfname von Abbas. Und er selbst? Will auch
er beide Seiten wieder am Verhandlungstisch sehen? "Ich bin ein Kämpfer",
antwortet M. "Ich kämpfe bis zum letzten Blutstropfen für ein freies
Palästina." Er holt tief Atem und seine Miene entspannt sich: "Doch der
Abzug der Israelis aus Tul Karem hat mir endlich einige angstfreie Tage
verschafft." M., der von den Israelis wegen der Beteiligung an
terroristischen Aktivitäten gesucht wird, kann nun nachts wieder ruhig
schlafen. "Meinetwegen", sagt er zum Abschied, "kann die Waffenruhe ruhig
noch etwas länger dauern."
hagalil.com 31-03-2005 |