Irak:
Verschleierte Demokratie
Bei der ersten Sitzung des irakischen
Parlaments folgten den islamischen Formeln Bekenntnisse zur Demokratie. Der
Streit um Föderalismus und Säkularismus verhinderte bislang eine
Regierungsbildung.
Von Thomas von der Osten-Sacken
Jungle World 12 v.
23.03.2005
Siebzehn Jahre nachdem Saddam Husseins Armee Giftgas gegen
die Bevölkerung der kurdischen Stadt Halabja eingesetzt hatte, trat am 16.
März das erste frei gewählte irakische Parlament zusammen. Dieses Datum
wurde mit Absicht gewählt, gedacht als Tribut an die Opfer der
ba'athistischen Diktatur und zugleich Zeichen für einen Neubeginn. Und wohl
erstmals in der Geschichte des arabischen Nahen Ostens bekannten sich damit
auch die Vertreter arabischer Parteien deutlich zu den im Namen des
Panarabismus begangenen Verbrechen des vor fast genau zwei Jahren gestürzten
Regimes.
Zuvor aber musste die Eröffnungszeremonie um eine halbe
Stunde verschoben werden, da die Grüne Zone im Zentrum Bagdads, in der sich
auch das Parlament behelfsmäßig befindet, von Mitgliedern des »Widerstandes«
mit Mörsern beschossen wurde. Abgeordnete, die unter Beschuss ins Parlament
kamen, blieben nicht das einzige widersprüchliche Bild des Tages. Vielmehr
zeigten sich sowohl die Fortschritte, die in den vergangenen 24 Monaten
gemacht wurden, als auch die Gefahren, die dem von den USA initiierten
Prozess innewohnen. So werden 85 Frauen in der neuen Nationalversammlung
sitzen, schließlich legt die Übergangsverfassung eine Frauenquote von 25
Prozent fest. Doch viele von ihnen sind Anhängerinnen schiitischer Parteien
und in schwarze Abbayas gehüllt.
Mit Suren aus dem Koran wurde dann auch die Sitzung eröffnet,
erst danach bekundeten die Redner ihre Verbundenheit mit "Freiheit und
Demokratie". Schließlich fielen bei den Wahlen 140 der 275 Sitze an die
vornehmlich aus schiitisch-islamischen Parteien zusammengesetzte United
Iraqi Alliance (UIA), die zwar erklärtermaßen keineswegs eine Theokratie im
Irak anstrebt, sehr wohl aber die Verankerung der Sharia in der Verfassung.
Am Ende des Tages gingen die Parlamentarier auseinander, ohne
dass auch nur ein einziger Beschluss gefasst worden wäre. Zwar betonten alle
Redner, wie historisch dieser Tag gewesen sei, und auch die liberale und
oppositionelle Presse der arabischen Nachbarstaaten, in denen die
Entwicklung im Irak genau verfolgt wird, begrüßte das Ereignis. Alle
Versuche, bereits eine Regierung zu bestimmen, waren jedoch an
Unstimmigkeiten gescheitert.
Die beiden größten Blöcke, die UIA und die kurdische
Einheitsliste, hatten in den vergangenen Wochen Koalitionsverhandlungen
geführt. Bestimmt wurden Ibrahim al-Jaafari von der Da’wa als neuer
Premierminister und Jalal Talabani, Vorsitzender der Patriotischen Union
Kurdistans, als künftiger Präsident. Auch über weitere Fragen herrschte
Einigkeit, die Forderung der Kurden, die Erdölstadt Kirkuk in das kurdische
verwaltete Autonomiegebiet einzugliedern, stieß allerdings bei den Schiiten
auf Skepsis. Auch insistierte die kurdische Delegation darauf, dass ihre
Milizen, die Peschmergas, weiter unter dem Kommando der kurdischen
Regionalregierung stehen sollen, denn das Misstrauen gegen arabische
Sicherheitskräfte ist im Nordirak groß.
Niemand hatte erwartet, dass die kurdischen
Maximalforderungen ohne Widerspruch akzeptiert werden würden. Mit der
Eingliederung Kirkuks würden die Kurden die Kontrolle über die zweitgrößten
Erdölfelder im Irak gewinnen. Umstritten ist auch das kurdische Konzept
eines föderalen Staates mit einer weitgehend geschwächten Zentralregierung.
Obgleich alle im Parlament vertretenen Parteien sich offiziell zur föderalen
Idee bekennen, erscheint vielen arabischen Politikern eine solche Lösung als
Macht- und Prestigeverlust.
Dennoch betonten beide Seiten, dass eine Einigung bevorstehe.
Alle Beteiligten stehen unter enormem Druck auch der US-Regierung, die
dringend auf weitere Erfolgsmeldungen aus dem Irak angewiesen ist. Eine
erfolgreiche Regierungsbildung im Irak, so hofft man zudem in Washington,
könnte den Demokratisierungsbestrebungen in anderen arabischen Ländern
weiteren Aufwind geben.
In der irakischen Bevölkerung ist seit der Wahl am 30. Januar
der Optimismus größer. Einer Umfrage des International Republican Institute
(IRI) zufolge sehen 62 Prozent der Zukunft positiv entgegen, nur noch 27
Prozent glauben, die Lage habe sich verschlechtert. Ob allerdings eine neue
Regierung von der Bevölkerung akzeptiert werden wird, hängt nicht zuletzt
davon ab, ob sie die weiterhin katastrophale Sicherheitslage in den Griff
bekommen wird. Weit über die Hälfte aller Iraker ist zudem überzeugt, die
neuen irakischen Behörden seien extrem korrupt und betrieben
Vetternwirtschaft, stellte die NGO Transparency International fest.
Die Vertreter der Sunniten, die den Wahlen mehrheitlich
ferngeblieben waren, stehen den Entwicklungen dagegen negativ gegenüber. Sie
sind in dem neuen Parlament mit nur 17 Abgeordneten unterrepräsentiert und
fürchten, ihren Einfluss weitgehend zu verlieren. Entsprechend beklagte sich
Bashar al-Faidhi, Sprecher der sunnitischen Vereinigung Muslimischer
Kleriker, dass das neue Parlament keineswegs die Bevölkerung des Irak
repräsentiere.
Zugleich wächst im Irak der Unmut über den "Widerstand",
dessen Hochburgen sich in den mehrheitlich von Sunniten besiedelten Gebieten
des Zentralirak befinden. Als eine Autobombe im südirakischen Hilla im
Februar 118 Menschen in den Tod riss, demonstrierten nicht nur Tausende in
der südirakischen Stadt gegen Terrorismus. In Bagdad forderten aufgebrachte
Demonstranten sogar die Schließung der jordanischen Botschaft; eine
jordanische Zeitung hatte berichtet, dass ein Jordanier für die Tat
verantwortlich sei.
Die UN-Nachrichtenagentur Irin stellte zudem eine merklich
wachsende Feindschaft gegen arabische Migranten im Irak fest, die inzwischen
kollektiv verdächtigt würden, mit dem "Widerstand" zu sympathisieren. Seit
das irakische Fernsehen regelmäßig Geständnisse inhaftierter Attentäter
überträgt, die von ihren engen Kontakten mit dem syrischen Geheimdienst
berichten, wird diese Stimmung noch angeheizt. Erst vor wenigen Tagen
gestand ein Ägypter, er habe irakische "Kollaborateure" für jeweils 50
US-Dollar vor laufender Kamera enthauptet.
Bislang allerdings kam es zu keinen organisierten
Vergeltungsaktionen. Sowohl Schiiten wie Kurden betonen, wie wichtig es sei,
die sunnitische Minderheit in die neue Regierung einzubinden. Und erst wenn
diese Regierung gebildet ist, kann das Parlament seiner eigentlichen Aufgabe
nachkommen: einen Verfassungsentwurf für den Irak zu schreiben. Während sich
die meisten Schiiten in der Nationalversammlung für eine starke Verankerung
des Islam in der neuen Verfassung aussprechen, streben die Kurden einen
säkularen Staat an.
Schon warnen Kritiker, wie der Mitherausgeber des Time
Magazine, Tony Karon, im Nahen Osten drohe in Folge des Irak-Kriegs eine
demokratische Machtübernahme der Islamisten. Umfragen von IRI weisen in eine
andere Richtung. Lediglich vier Prozent der Befragten befürworteten die
Sharia als einzige Quelle der neuen Verfassung, immerhin 44 Prozent sprachen
sich für eine strikte Trennung von Staat und Religion aus.
hagalil.com
28-03-2005 |