Thomas "Toivi" Blatt ist das
Sprachrohr für 250.000 Menschen. Als Überlebender des Vernichtungslagers
Sobibor bemüht er sich seit Jahrzehnten mit Buchveröffentlichungen und
Vorträgen, den Namen "Sobibor" als den Ort im öffentlichen Bewusstsein zu
verankern, an dem im Rahmen der "Aktion Reinhardt" 250.000 jüdische Menschen
von den Nazis ermordet wurden. Aber auch als einen Ort jüdischen
Widerstands, an dem sich durch einen Aufstand 350 Häftlinge selbst befreien
konnten. 52 haben überlebt. Thomas "Toivi" Blatt ist einer von ihnen.
Erschienen in: Warschauer, Magazin für Gegenkultur, Nr. 49,
Winter 2005
Wahrschauer: Herr Blatt, in "Nur die Schatten bleiben",
Ihrem autobiografischen Buch über den Aufstand im Vernichtungslager Sobibor,
müssen Sie beim Einmarsch der roten Armee, also nach der Niederschlagung des
nationalsozialistischen Terrors in Polen, vor einem Bauern flüchten, der Sie
toten möchte. Leon Feldhendler und Josef Kopf, zwei weitere Überlebende des
Aufstandes, werden kurze Zeit später von polnischen Antisemiten getötet. Wie
war die Situation für die überlebenden Aufständischen nach dem offiziellen
Kriegsende in Polen?
Thomas
"Toivi" Blatt: Als wir aus Sobibor gefluchtet waren, war dies natürlich
nicht das Ende der Bedrohung. Wir hatten keine Zufluchtsmöglichkeit. Als
polnischer katholischer Junge hätte ich mich irgendwo unter die
Stadtbevölkerung mischen können. Als Jude konnte ich das nicht. Wäre ich zu
meinem Elternhaus in Izbica zurückgekehrt, hätte mich sicher jemand an die
Polizei verraten. In die Häuser der Juden waren ja längst Polen eingezogen,
die unter keinen Umständen ihren neuen Besitz hätten teilen oder zurückgeben
wollen. Ich habe mich im Wald versteckt, dann in der Scheune eines Bauern,
den ich mit weiteren Flüchtenden dafür bezahlt habe. Er hat später versucht,
uns zu erschießen. Ich wurde dabei verwundet, ein Freund von mir getötet.
Laut deutschen Dokumenten gelang etwa 320 Menschen beim Aufstand in Sobibor
die Flucht.
Am Ende des Krieges waren es noch 52 Überlebende. Mehrere von
ihnen sind nach dem Krieg ermordet worden. Leon Feldhendler, einer der Kopfe
des Auf Stands, wurde in Lublin erschossen. Josef Kopf ist in sein Dorf
gefahren, um seinen Besitz zurückzufordern. Er wurde dort ermordet. So
erging es einigen. Andere, die zum Militär sind, um gegen die Nazis zu
kämpfen, sind an der Front gefallen. Manche haben sich nach dem Aufstand den
Partisanen angeschlossen und wurden im Kampf getötet. Jetzt, im Jahr 2004,
leben noch acht von uns.
W.: Wie verlief Ihr Leben weiter? Wie sind Sie in die USA
gekommen?
T.T.B.: Ganz einfach. Ich habe eine amerikanische Touristin
kennengelernt. Wir haben geheiratet und ich bin mit ihr nach Amerika.
W.: Wann haben Sie damit begonnen, Ihre Geschichte und somit
auch die Geschichte des Aufstands in Sobibor an die Öffentlichkeit zu
tragen?
T.T.B.: Ich hatte in meinem Kopf immer den Drang, alles, was
ich erlebt habe, in Buchform zugänglich zu machen. Ich musste etwas tun,
damit Sobibor nicht vergessen wird. Denn als ich zum ersten Mal in den
Fünfzigern dorthin zurückgekehrt bin, war das unendlich schmerzhaft. Auf den
Feldern lagen noch halbverbrannte Menschenreste, während drumherum Kühe
grasten und überall Hühner und Hunde herumstreunten. Dann gab es eine große
Gedenktafel, auf der stand: "Hier wurden 250000 Russen ermordet." Ich dachte
mir nur: "Mein Gott, was kann ich tun?" Ich war Student und hatte kein Geld.
Als ich in Amerika begonnen habe, zu arbeiten und Geld zu verdienen, konnte
ich etwas tun. 30 Jahre lang habe ich mich bemüht, die alte Gedenktafel
entfernen zu lassen und sie durch fünf andere zu ersetzen. Diese neuen
Tafeln sagen die Wahrheit, und zwar in den Sprachen der Länder, aus denen
die Ermordeten kamen. Sie sagen: "Hier wurden 250000 Juden ermordet."
Später habe ich dann die Bücher geschrieben und bei der
Realisierung des Films über den Aufstand in Sobibor mitgeholfen. Und
mittlerweile halte ich Vorträge und spreche vor Menschen über Sobibor. Ich
tue das unentgeltlich. Es ist eine kleine Sache, die ich tun kann. Es gibt
immer noch Menschen, die sagen: "Die Geschichten über Sobibor sind nicht
wahr."
W.: In welchen Ländern haben Sie bis jetzt Vorträge
gehalten?
T.T.B.: Ich war in Brasilien, selbstverständlich in Polen,
Amerika, Mexiko, Kanada und Deutschland.
W.: Wie kam der Kontakt zum Unrast-Verlag zustande, der hier
in Deutschland Ihr Buch "Sobibor - der vergessene Aufstand" veröffentlicht
hat?
T.T.B.: Mein erster Vortrag in Frankfurt wurde von Menschen aus
dem Verlag organisiert. Wir haben uns dort bereits näher kennen gelernt.
Peter hat mich später gefragt, ob er mein Buch "Sobibor - der vergessene
Aufstand" aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen dürfte. Ich habe ja
gesagt. Hinter "Nur die Schatten bleiben" steckt eine andere Geschichte. Ein
Mann aus Frankfurt hat mir per Brief von einem Artikel in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung über mein Buch erzählt, in dem der Rezensent, ein
Professor der Universität Berkeley in Kalifornien, sagte, mein Buch "From
the ashes of Sobibor" müsse unbedingt in Deutschland erscheinen. Alexander,
so heißt der Mann, hat mich noch im selben Brief gefragt, ob er das Buch
übersetzen dürfte. Ich habe auch da ja gesagt. Als er fertig war, haben wir
uns gemeinsam daran gemacht, einen Verlag zu finden. Ich habe mit dem Sohn
des ehemaligen Nazi-Generalgouverneurs von Polen, Herrn Frank, gesprochen.
Er war Journalist beim "Stern" damals, aber wegen eines Auslandsaufenthalts
in Tunesien konnte er mir nicht helfen. Alexander hat dann den Aufbau-Verlag
in Berlin vorgeschlagen. Dort war man nach einer Sichtung des Buches sofort
bereit, es zu verlegen.
W.: Beim Wort "Widerstand" fällt in Deutschland reflexartig
das Datum 20.Juli.1944. Über die Tatsache des jüdischen Widerstands herrscht
weitestgehend Unwissen oder Ignoranz. Was empfinden Sie dabei?
T.T.B.: Das ist schlimm für mich. Denn letzten Endes waren es
wir Juden, die um unser Leben gekämpft haben. Keiner hat für uns Widerstand
geleistet. Keiner hat uns geholfen. Warum haben die Polen keinen Aufstand
gemacht? Das wurde in Polen nur ungern gehört. Es war natürlich eine
Schmach, sagen zu müssen, dass es Juden und nicht Polen waren, die sich in
Sobibor erhoben haben. Deshalb wurde der Aufstand in Sobibor verschwiegen.
Ich musste den Namen Sobibor erst wieder auf die Landkarte bringen.
W.: Kommen wir zu Ihrer Unterhaltung mit dem ehemaligen
SS-Oberscharführer Karl Frenzel im Jahr 1983, also dem Mann, der ihre
Familie in die Gaskammer von Sobibor geschickt hat...
T.T.B.: Ich habe mich vier Stunden lang mit Frenzel
unterhalten. Auszuge des Gesprächs habe ich in meinen Büchern und im "Stern"
veröffentlicht.
W.: Haben Sie bei der Begegnung Rachegefühle gegenüber
Frenzel empfunden?
T.T.B.: Nein, ich habe versucht, gar nichts zu fühlen. Hätte
ich mir Gefühle erlaubt, hätte ich nicht mit ihm sprechen können. Deshalb
bin ich wie eine Maschine in das Gespräch, so als würde ich mit einem
Fremden oder Unbekannten reden. Mit dem selben Gefühl habe ich in Sobibor
gelebt. Ich habe jeden Tag die Ermordung von Menschen mitbekommen, habe aber
nicht darüber nachgedacht. Der einzige Gedanke war: Wieviel Essen ist bei
dem Transport übrig geblieben? Sobibor hat mich zu einem anderen Menschen
gemacht. Sobibor hat alle Gefangenen zu anderen Menschen gemacht. Kein
Mensch kann sagen, wie er sich in einer solchen Situation verändern würde.
W.: Um auf Frenzel zurückzukommen: Im Gespräch stellt er
sich groteskerweise als Opfer dar.
T.T.B.: Ja, ja, er sprach von der schlimmen Arbeitslosigkeit.
Er hat dann Karriere in der SS gemacht. Ein anderer SS-Mann, Werner Dubois,
hat im Gerichtssaal sogar geweint und sich beklagt, dass er beim Aufstand in
Sobibor schwer verletzt wurde und ein Auge verloren hat. Es ist verrückt.
W.: Ins deutsche Geschichtsbild kehrt im Moment verstärkt
die Perspektive des Opfers ein. Deutsche als Opfer des Bombenkriegs,
Deutsche als Opfer von Vertreibung - wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
T.T.B.: Sehen Sie, der Fakt ist doch, dass die Deutschen den
Krieg angefangen haben. Altes andere ist eine Folge dieser Tatsache.
W.: Halten Sie diese Entwicklung für gefährlich?
T.T.B.: Nicht unbedingt gefährlich. Klar gibt es deutsche
Opfer. Es war schließlich Krieg. Aber das macht die damaligen Deutschen
nicht zu Unschuldigen.
W.: Im letzten Jahr gab es einen großen Anschlag auf eine
Synagoge in Istanbul. Es gab Anschläge auf jüdische Einrichtungen in
Frankreich, antisemitische Äußerungen deutscher Politiker. Sechzig Prozent
der Deutschen glauben, Israel sei die größte Bedrohung für den Weltfrieden.
Sehen Sie eine neue, antisemitische Tendenz?
T.T.B.: Was Israel angeht: Es gab zwar keinen arabischen Staat
dort, kein Königreich oder sonst etwas in Palästina. Und es gab
geschichtlich eine starke jüdische Bindung an dieses Land. Aber Geschichte
steht nicht still. Viele Araber haben eben in Palästina im Jahr 1948 gelebt.
Man durfte ihnen nicht einfach ihr Land nehmen. Das hat auch niemand getan.
Es gab 1948 den UN-Teilungsplan, in dem beschlossen wurde, dass die Araber
einen Teil Palästinas und die Juden den anderen haben sollten. Die Juden
haben zugestimmt. Daraufhin haben fünf arabische Länder Israel den Krieg
erklärt. Die Juden haben gewonnen. Für einen arabischen Bauern in Palästina
ändert das nicht viel. Er wusste vielleicht nur, dass Großvater und Vater
schon dort gelebt hatten. Dann kommen fremde Menschen und wollen auch ein
Stück Land. Das moralische Problem besteht. Andererseits hätten die Araber
auch dem UN-Teilungsplan zustimmen können, was sie nicht getan haben. Hätte
es Öl in Palästina gegeben, hätte die Welt natürlich eine einfache Antwort
gehabt: Die Juden wollen das Öl. So aber wollten die Juden einfach nur in
Frieden leben.
Ich war vor fünfzig Jahren in Israel. Damals haben Juden und
Araber durchaus zusammengearbeitet und nebeneinander gelebt. Es hätte schon
damals eine politische Lösung geben können. Es ist ein politisches Problem.
Mittlerweile ist der Islam erstarkt und die arabischen Länder sehen in
Israel eine Speerspitze des Westens, obwohl niemals Soldaten aus westlichen
Ländern für Israel gekämpft haben, niemals amerikanisches Militär in Israel
stationiert war. Trotzdem ist Israel natürlich ein westliches Land. Davor
hat die islamische Welt Angst.
W.: In Deutschland gibt es Stimmen, die direkt oder
indirekt den Vergleich zwischen dem Holocaust und dem Konflikt zwischen
Israel und den Palästinensern ziehen, Israel als faschistischen Staat
bezeichnen. Udo Steinbach, der Leiter des Hamburger Orientinstituts,
vergleicht den Aufstand im Warschauer Ghetto mit der Intifada...
T.T.B.: Ich kann nur eine Frage entgegnen: Wo sind die
Gaskammern in Israel? Warum steht so wenig über das Morden im Sudan in den
Zeitungen, so wenig über die Unterdrückung im Jemen, während sich die Welt
darauf stürzt, wenn die israelische Armee mit Präzisionsschlägen Mörder
unschädlich macht. Es herrscht Krieg in Israel. Hamas sagt ganz offen, dass
ihr Ziel die Vernichtung Israels sei. Es wird immer Leute geben, die die
Wahrheit bestreiten. Ein polnischer Professor, er heißt Bender, besteht
darauf, dass Auschwitz nur ein Sanatorium war. Er könnte sich ins Auto
setzen und in drei Stunden dort sein. Solche Leute wird es immer geben,
genauso wie diejenigen, die behaupten, die Israelis täten mit den
Palästinensern das, was die Nazis den Juden angetan haben.
Interview: Sukra M.
Foto: Christoph Voy
Warschauer, Magazin für Gegenkultur, Nr. 49, Winter 2005
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