Skepsis bis offene Ablehnung:
Das Unwohlsein am "Untergang"
In Frankreich startet Bernd Eichingers
Hitler-Film und löst eine Debatte aus
Von Bernhard Schmid, Paris
Hitler sehen heißt Schlange stehen. Es ist der erste
Freitagabend, nachdem am vorigen Mittwoch (5. Januar) Oliver Hirschbiegels
und Bernd Eichingers 'Der Untergang' (französisch: La Chute) in Frankreich
auf die Leinwände kam. Vor dem Multiplexkino nahe des Pariser Odéon-Platzes
hat sich eine ziemlich lange Warteschlange gebildet. Ja, es ist tatsächlich
das Publikum für 'La Chute', und der riesige Saal wird brechend voll.
Die ersten Pressekritiken waren überwiegend kritisch bis
negativ, aber die Zuschauer die allen Generationen angehören haben sich
nicht abhalten lassen. Oft sicherlich auch aus Neugier. Allerdings kam der
Film vorige Woche frankreichweit nur in 150 Kinos heraus, eine relativ
bescheidene Zahl, und in Paris ist er nur in insgesamt 10 Sälen zu sehen.
Das relativiert den Erfolg etwas.
Dann gehen die Lichter aus, um über zweieinhalb Stunden später
wieder anzugehen. Ich spitze die Ohren, um ein paar Reaktionen einzufangen.
Viele verlassen den Kinosaal kommentarlos. Richtig aufgewühlt erscheint
niemand. Da ist eine Gruppe jüngerer Zuschauer. "Na ja, nicht schlecht, aber
es fehlen viele problematische Aspekte der ganzen Geschichte. Es fehlt
ziemlich an Tiefgang", kommentiert ein etwa 20jähriger spontan. Die anderen
der Gruppe pflichten ihm bei. "Das ist genau das, was man uns vorher sagte",
meint eine jüngere Frau.
Die Regenbogenpresse: Apokalyptische Geschichtslektion
Richtig begeistert von 'La Chute' war vor allem die Boulevard-
und Regenbogenpresse, wohl vor allem aus ästhetischen Gründen. "Ein
olivgrüner, düsterer und bleicher Alptraum Apocalypse Now für eine
formidable Geschichtslektion" meint etwa die Boulevardzeitung 'France Soir'.
"Dieser Film verfolgt den Zuschauer noch lange wie ein Gespenst, dessen Züge
man nunmehr deutlich erkennen kann", meint die Klatsch- und
Sensationszeitschrift 'Paris Match', die dem Film zugleich "eine
quasi-dokumentarische Dimension" zuspricht.
Ansonsten überwog die Skepsis bis offene Ablehnung, aber zum
Teil aus unterschiedlichen Gründen.
Kontroverse: Darf man Hitler "als Mensch" darstellen?
Eine erste Serie von Kritiken und Debatten ging in den ersten
Januartagen mit der Fragestellung einher, ob der Film Hitler nicht auf
unzulässige Weise "humanisiere", indem es ihn aus der Nähe zeige und auch
einige Züge seines privaten Verhaltens darstelle. Dadurch könne eine
Empathie entstehen: "Emotion, ja Mitleid, denn die schlimmste Ratte in ihrem
Loch ruft instinktive Sympathie im Moment ihres herannahenden Todes hervor",
meint Gérard Lefort in 'Libération'.
Die Tageszeitung 'Le Parisien' titelte deswegen vorige Woche,
am Tag des Beginns der Vorführungen: Le malaise (Das Unwohlsein). Auf die
solcherart motivierten Kritiken antworteten freilich schon früh andere
Stimmen, die darin einen und sei es unbewussten Wunsch nach
Mystifizierung erblickten. So antwortet der Schriftsteller und Theaterautor
Eric-Emmanuel Schmitt, der selbst 2001 einen Roman über Hitler und die
Gründe seines Erfolgs (La Part de l¹autre) veröffentlichte, im 'Parisien':
"Man zeigt nicht einen gehörnten Teufel, und das ist gut so. Hitler zu
enthumanisieren, ist zu einfach und sinnlos. (...) Die Polemik darüber, ob
man Hitler als menschliches Wesen darstellen dürfe, ist albern. Diese
Geschichte ist ja wohl von Menschen ausgegangen! Es ist nicht Gott, der
Auschwitz erfunden hat!" Gleichzeitig bezeichnet Schmitt es als
"vernünftig", dass der Film eine Maläse hinterlasse.
Auch der KP-nahe Autor Viktor Dedaj kommentiert in dem
Mailingforum liste@utopie.org, hinter der Kritik an der "Humanisierung"
Hitlers stecke ein Streben nach "Infantilisierung", das zur Funktionsweise
der westlichen Medien gehöre: "Eine Welt wie in den Comics. Eine gefilterte
Version der Realität, wo blonde Kinderlein und ihre liebevollen Mamas
plötzlich von Horden, die aus dem Inneren der Erde entwichen sind,
attackiert werden." So erscheine "der Begründer des Nazismus nicht als
Produkt bestimmter politischer und ökonomischer Kräfte seiner Zeit. Nein, er
muss von irgendwoher aufgetaucht sein, wo er bis dahin auf dem Grunde eines
Sarges schlief, oder so ähnlich." Dass Hitler also seinen Schäferhund und
Eva Braun liebte, "das ist wahrscheinlich wahr. Dass in den letzten Tagen im
Bunker keine Feststimmung herrschte, kann man auch verstehen. Und es lässt
mich ehrlich kalt. Er (Hitler) und seine Anhänger sollen krepieren. Wo also
liegt die Maläse? Einigen Journalisten zufolge darin, dass Hitler 'als
Mensch' gezeigt werde. (...) Sollten also 50 Jahre Geschichtsunterricht bei
uns zu gar nichts gedient haben?"
Deutschland als "Opfer" des Wahnsinnigen Hitler
Tatsächlich geht die Kritik, die überwiegend an der Darstellung Hitler als
Person festgemacht wird, zum guten Teil an der wirklichen Problematik
vorbei. Denn bei der Zuschauerin dürfte der Hitler auf der Leinwand am Ende
kaum Sympathien hinterlassen: Die gesamte Dramatik von 'La Chute' läuft
darauf hinaus, darauf zu warten, dass der von Bruno Ganz dargestellte
"Führer" endlich irgendeine Initiative ergreift - dass er Berlin verlässt
oder eine Kapitulation unterschreibt oder seinen Tagen ein Ende setzt...
Jedenfalls, dass er die in breitester Form dargestellten Leiden der
Deutschen und auch seiner Umgebung, die ihm doch vertraut, abkürzt. Da wird
ohne Betäubung mit der Säge amputiert, da wird geschrien und gestorben und
vor den Bomben weggerannt. Die eigentliche Empathie und Sympathie, die durch
den Film hervor gerufen wird, gilt nicht der Person Hitler. Sie gilt den
Deutschen, die so sieht es aus - am Ende zu den Opfern des persönlichen
Wahns dieses Diktators geworden sind, während etwa die sowjetischen Befreier
entweder als bedrohliche anonyme Kulisse oder als sturzbetrunkene Barbaren
erscheinen.
Von den anderen Opfern ist keine Spur zu sehen: Das einzige Mal, dass eine
Ahnung von ihnen auftaucht, ist der Moment, in dem Madga Goebbels, die
Ehefrau des Reichspropagandaleiters, ihre sechs Kinder mit einer
Blausäure-Ampulle tötet wenn man denn daran denken will. "Es war sehr
wichtig für uns, durch diese ruhige Geste einer liebenden und fanatischen
Mutter die ganze Grauenhaftigkeit eines barbarischen und irrationalen
Systems zu zeigen. Die Art, wie sie ihren Kindern den Tod gibt, so
methodisch, mit sich wiederholenden Gesten, erscheint als Metapher für die
Verbrechen der Nazis an Millionen Menschen in Europa und der Welt Juden
und anderen", sagt dazu der Regisseur Oliver Hirschbiegel im Interview mit
dem 'Figaro'. Die konservative Tageszeitung erteilt ihm und Drehbuchautor
Bernd Eichinger das Wort und ist ansonsten, von allen größeren
Qualitätszeitungen, mit Abstand am zurückhaltendsten in der Kritik am Film
und an seiner Rezeption in Deutschland.
An obigem Zitat von Oliver Hirschbiegel übt die grünennahe Wochenzeitung
'Charlie Hebdo' (12. Januar) ihrerseits scharfe Kritik, mit beinahe
sarkastischen Worten: "Dieser Satz (...) ist skandalös. Erstens setzt sie
den Massenmord an den Juden auf dieselbe Ebene wie den an den sonstigen
Opfern des Nazismus. Und zum Zweiten werden die Bedingungen der
Nazi-Massenmorde geleugnet, indem man sie mit der 'ruhigen' Tötung ihrer
Kinder durch eine 'liebende Mutter' (...) gleichsetzt. Vor allem aber macht
er (der Satz) aus einem deutschen Kind das Hauptsymbol der Opfer der Nazis.
Hirschbiegel bringt in einem imaginären Massengrab jene, die das Regime zu
Tode brachte, weil sie nicht verdienten zu lebten, zusammen mit jenen, die
man tötete, weil die Welt sie nicht verdiente." (Anm.: Zwei Absätze zuvor
hatte der Artikel die Logik der Tötung ihrer Kinder durch Magda Goebbels
richtig so benannt: "Die Welt hatte sie (ihre sechs perfekt arischen Kinder)
nicht verdient. Sie sind zu rein, um in einem Deutschland zu leben, das nach
dem Untergang seines Führers weitergeht.")
Kritik an deutschen Opfermythen
Der 'Figaro' reagierte sehr zurückhaltend auf die Ausstrahlung von 'La
Chute'. In den anderen renommierten Presseorganen entwickelte sich dagegen
eine Kritik, die über die zuerst vorgebrachten Vorbehalte gegen die
Personalisierung Hitlers auf der Leinwand hinausgeht und auch den Aspekt der
ungleichen Gewichtung der Opferdarstellungen berücksichtigt. Jacques
Mandelbaum macht etwa in Le Monde "zwei zentrale Thesen" in dem Film aus:
Erstens sehe man durch die Äußerungen Hitlers, der am Ende sein Volk, das
sich als zu schwach erwiesen habe, mit in den Untergang reißen will, "die
Essenz eines Regimes, das von Anfang an auf Zerstörung und Vernichtung
programmiert war". Gleichzeitig moniert Mandelbaum, die vereinfachende
Psychologie des Films die Hitler als Verrückten und Nihilisten erscheinen
lasse stehe "im Dienste einer ziemlich bequemen Kritik an dem Regime, das
Deutschland in den Ruin führte". Denn "die zweite, kritikwürdigere"
Hauptthese des Films bestehe in der Darstellung "eines gequälten
Deutschlands, das beinahe gegen seinen Willen zum Opfer dieses fanatischen
Regimes wird, welches es doch und in dem Film kommt es nicht vor im
Triumph an die Macht gebracht und auf lange Dauer unterstützt hat. Es ist
zweifellos diese tröstliche Dimension - welche die Nation und das Regime,
das sie hervorgebracht hat, auseinander dividiert - die heute zum
Publikumserfolg in einem Land führt, von dem man doch annimmt, dass es sich
seit langem mit seiner Vergangenheit auseinander setzt."
Ähnliche Kritik an der Rezeption des Filmwerks formuliert Norbert Frei,
Forscher an der Universität Bochum, im Interview mit Libération: "Der Film
zeigt einen Hitler am Ende seiner Laufbahn, und man kann sich kaum die
immense Faszination vorstellen, die er auf das deutsche Volk ausgeübt hat"
man denke nur an den Hitler der außenpolitischen Erfolge der Jahre 1936 bis
1939 und der ersten Kriegsjahre. "Das Argument, wonach es störend sei, dass
Hitler als menschliches Wesen gezeigt wird, ist irritierend, denn niemand
dachte, dass Hitler vom Mars kommt. Aber der Film erklärt gar nichts von der
Rolle und der Funktion Hitlers in der deutschen Geschichte."
Norbert Frei konstatiert ferner, dass "die öffentliche Meinung in
Deutschland sich zunehmend für die Deutschen als Opfer interessiert. Die
Debatte über die Bombardierungen oder über die Vertreibung haben diesen
Bedarf gezeigt". Das bestätigen auch mehrere andere Beiträge, etwa jener der
Deutschlandkorrespondentin von Libération, Odile Benyahia-Kouider: "Dass man
heute einen solchen Film in Deutschland machen kann, ist symptomatisch für
die Entwicklung der öffentlichen Meinung, die nunmehr ein gesteigertes
Interesse an den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs zeigt."
In ähnliche Richtung geht auch der Beitrag des früheren
Deutschlandkorrespondenten Daniel Vernet in Le Monde: "Rechtsextremisten
spielen nahe der Tschechischen Grenze Zweiter Weltkrieg in SS-Uniformen;
eine große Hotelkette errichtet ein Luxusetablissement auf dem Obersalzberg
(...); der Film 'Der Untergang' hat über vier Millionen Eintritte in
Deutschland verzeichnet. Welcher Zusammenhang zwischen diesen drei
Informationen?" Vernet interpretiert die aktuelle Tendenz der öffentlichen
Meinung ähnlich wie seine Libération-Kollegin und führt als Belege Jörg
Friedrichs Bestseller Der Brand sowie Günter Grass' Roman über den Untergang
der Wilhelm Gustloff (französisch La marche du crabe) an. Seinen Artikel
schließt Vernet abwägend ab: "Dieser Neuaufschwung von Patriotismus", der
Autor zitierte dazu Gerhard Schröder und Angela Merkel, "hat zwar an sich
nichts Anormales, (doch) widerspiegelt die Maläse, die heute die deutsche
Gesellschaft heimsucht. 15 Jahre nach der Wiedervereinigung befragen die
Deutschen sich über ihren Platz in der Welt, ihre Wirtschaft und ihr
Sozialsystem. Besorgt um ihre Zukunft, schauen sie in die Vergangenheit:
Entweder, um dort Stärkung zu finden, oder aber Negativbeispiele."
Eine gekürzte Fassung erschien in
Jungle World vom 12. Januar
2005.
hagalil.com
14-01-2005 |