Festrede zum fünfundzwanzigjährigen
Jubiläum der Hochschule für jüdische Studien, 30.11.2004
Von Doron Rabinovici
Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth? Worin unterscheidet
diese Nacht sich von all den anderen Nächten? Seit Jahrhunderten singen
jüdische Kinder diese Frage zu Pessach, und der Vater erzählt - getreu der
Haggadah, der überlieferten Geschichte - vom Auszug aus Ägypten, vom Weg
durch die Wüste Sinai, als hätte er alles selbst erlebt. Auch der Künstler
Arthur Szyk berichtete vom pyramidalen Leid der Juden, zeichnete es nach,
zeichnete seine berühmte Haggadah und malte sich den Einzug ins Gelobte Land
aus, als hätte er alles selbst erlebt, ja, als erlebte er immer noch den
Exodus, als wären die Pharaonen wiedergekehrt. Schlimmer noch; in seinen
Augen waren die ägyptischen Herrscher nur die Vorboten jener Herrenmenschen,
von denen er sich ein Bild zu machen wußte.
Arthur Szyk vollendete seine Haggadah 1939 in London, wo sie 1940 erschien.
Sein Lodz, dort war Szyk 1894 geboren worden, hieß nun Litzmannstadt. Aus
dem Stetl war ein Ghetto unter nazistischer Kontrolle geworden. Juden aus
ganz Europa sollten hierher zwangsverschickt und zusammengepfercht, dann
ermordet werden. Alle Juden, selbst die Kinder, die zu Pessach fragten,
worin diese Nacht sich denn von all den anderen Nächten unterscheide, waren
zu Freiwild geworden. Szyk hatte sein Werk in den frühen dreißiger Jahren
begonnen, hatte es von Anfang an als Angriff gegen den Nazismus und als
Plädoyer für den Zionismus entworfen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er
noch deutlicher die Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hervor
gestrichen, hätte die Ägypter mit Hakenkreuzen bestückt, doch in England
wurde vor allzu klaren Stellungnahmen zurückgeschreckt. So verzichtete er
auf das Nazisymbol, stattete aber den ägyptischen Aufseher, der einen
jüdischen Sklaven schlägt, mit einer Armbinde aus, die nicht zufällig an die
SA erinnert.
Die Haggadah von Arthur Szyk ist nur eine von vielen Kostbarkeiten, die hier
in Heidelberg aufbewahrt werden. Sechsundzwanzig der wertvollsten Bände der
Hochschule für jüdische Studien sind nun aufgelistet, wurden in einem
sogenannten Zimelienband zusammengefaßt, der rechtzeitig zu dieser
fünfundzwanzigjährigen Jubiläumsfeier erschien. Vor uns liegt ein Katalog
erlesener Stücke, die chronologisch geordnet sind, und wer ihn aufschlägt,
findet die Pessachgeschichte des Arthur Szyk darin. Die Ausgabe, die in der
Bibliothek liegt, ist 1960 veröffentlicht worden und damit ist sie das
jüngste, das neueste Buch, das im Zimelienband angeführt ist. Aus dem
Venedig des sechzehnten Jahrhunderts stammt das älteste Druckwerk. Es
handelt sich um zwei Traktate eines Talmuds. Kaum war er veröffentlicht,
ordnete Papst Julius III. die Vernichtung aller hebräischen Schriften an.
Doch diese beiden Traktate überstanden das Autodafé im Jahr 1553 und ebenso
die vielen Bücherverbrennungen der folgenden Jahrhunderte, ja selbst die
Shoah.
Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth. Worin unterscheidet diese
Nacht sich von all den anderen Nächten? Zwischen dem Venezianischen Talmud
und der Londoner Haggadah liegen mehr als vierhundert Jahre, doch in allen
Zeiten feierten die Juden ihr Pessach und zu jeder Unzeit hieß es dann, der
Jude backe sein ungesäuertes Brot, die Mazzoth mit dem Blut von
Christenkindern, und zu Ostern, in den Tagen von Opferfest und Kreuzestod,
entlud sich zumeist aller Haß, lasteten die Christen, die den Sohnestod als
Sühnetat feierten, den Juden einen Ritualmord an, um sich auf die
rassistischen Mordrituale einzustimmen. Das antisemitische Fest heißt
Pogrom.
Die Haggadah von Szyk erschien, ehe die Vernichtung einsetzte. Bevor noch
der Massenmord beschlossen war, vollzog sich die Diskriminierung, die im
Nachhinein als Bestandteil jenes Prozesses erkannt werden kann, der im
Krematorium endete. Für einen Juden wie Arthur Szyk war noch nicht klar, was
jenseits der Vorstellung lag und heute mit Auschwitz verortet wird. Aber er
wußte: Alle Hoffnungen auf Gleichberechtigung und auf ein menschenwürdiges
Leben waren erstickt. Erkennbar war ein Zivilisationsbruch, wenn auch noch
nicht in jener Totalität, in der er sich wenige Jahre später auftat, doch
offenbar war, daß diese Nacht sich von all den anderen Nächten unterschied.
In der Pesachhaggadah muß der Vater die Frage: "Ma nishtana ha laila hase mi
kol ha leiloth," beantworten und dabei auf seine Söhne, so steht es
geschrieben, ungleich eingehen. Die Erzählung unterscheidet zwischen dem
Weisen (Chacham), dem Schlechten (Raschah), dem Naiven (Tam) und einem Sohn,
der noch nicht einmal Fragen stellen kann. (Sche ejno jodea lischol). In der
Überlieferung wird nicht genauer beschrieben, wer das weise, wer das
einfältige, wer das schweigsam verstockte und wer das verstockt böse Kind
ist. Im Text ist nicht ausgeführt, wie der dumme Bub oder wie der schlechte
zu identifizieren ist. Arthur Szyk machte die Charaktere jedoch erkennbar.
Der Kluge ist bei ihm ein gelehriger, durchgeistigter Jeschiwe-Bocher, der
die Schriften kennt, der Naive ist hingegen ein plumper Feistling in
traditioneller Tracht und Gebetsschal, derjenige der keine Fragen stellen
kann ist ein einfacher Proletarier ohne Kippa, der Böse aber ist der
Prototyp des Assimilanten im schlechtesten Sinne des Wortes. Er trägt hohe
Lederstiefel mit Sporen, Reithosen, raucht eine Zigarre. Er steht da wie ein
eitler Geck, der nichts mehr mit dem Judentum zu tun hat und nichts mehr
damit zu tun haben will.
Wenn es nach den Illustrationen von Szyk geht, ähnle ich wohl kaum dem
weisen und nicht einmal dem naiven Sohn. Ich komme den schlimmeren Varianten
näher. Ich wurde von der Hochschule für jüdische Studien nicht eingeladen,
weil ich die religiösen Schriften, weil ich Talmud und Thora gar so gut
kenne. Ich bin Jude, aber das macht mich noch lange nicht zum Experten für
jüdische Studien, und selbst wenn ich wie mein rumänischer Großvater, der
zum Leidwesen seiner Familie sich lieber um himmlische Verhältnisse kümmerte
als um die irdische Existenz seiner Kinder, wenn ich ein volksfrommer
Chassid wie er, den ich nie kennengelernt habe, geworden wäre, könnte ich
hier dennoch nicht als Fachmann für jüdische Studien auftreten. Ein
wissenschaftlicher Zugang, ein kritisches Textstudium waren meinem
Vorfahren, diesem Ostjuden aus Moldawien, der die alten Schriften ohne
Unterlaß durchgearbeitet haben mag, vollkommen fremd.
Obgleich ich kein Fachmann für jüdische Studien bin und nicht dem guten
Vorbild von Arthur Szyk entspreche, glaube ich nicht, daß ich weniger
jüdisch bin als ein Chassid. Ist es denn nur Kult, Folklore und Lehre, was
das Jüdische ausmacht? An der Existenz des jüdischen Gottes läßt sich gewiß
zweifeln, nicht aber, dies kann ich bezeugen, an jener einer jüdischen
Mamme. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt eine jüdische Familienstruktur,
einen jüdischen Humor, jüdische Lebenstraditionen und jüdische
Existenzbedingungen jenseits der Religion, und mit Ben Gurion kann ich
sagen, daß der Gott an den ich nicht glaube, ein jüdischer ist.
Der Begriff Assimilation wird nicht selten falsch verwendet, als könne das
assimilierte Judentum von einem vermeintlich "ursprünglichen" jenseits aller
interkulturellen Einflüsse, jenseits jeglicher Assimilation klar getrennt
werden. Selbst viele Mitglieder der streng orthodoxen Agudass Isroel waren
im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts westlich bürgerlich gekleidet
gewesen, sahen dem bösen Sohn in Szyks Darstellung ähnlich, was ihrer
jüdischen Gesetzestreue keineswegs widersprach. Zugleich gab es damals
ebenso atheistische, marxistische Juden, wie etwa den österreichischen
Arbeiterführer Otto Bauer, die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde
blieben.
Entstammt nicht die Orthodoxie selbst einer Assimilation und unterliegt
einer ständigen Wandlung, die, wie die Geschichte der rabbinischen Schulen
lehrt, keineswegs abgeschlossen ist? Ist der Kaftan der Chassiden, der nicht
von Abraham oder Moses herrührt, sondern von der Tracht polnischer Adeliger,
nicht ein Symbol der Assimilation?
Darüber, was jüdische Kultur ist, läßt sich lange streiten. Den alten Talmud
aus dem sechzehnten Jahrhundert, der hier in Heidelberg aufbewahrt ist, ließ
der Christ Marco Antonio Giustiniani drucken. Ist deswegen das Venezianische
Buch keine jüdische Schrift mehr? Im Zimelienband ist auch die erste
vollständige deutschsprachige Ausgabe der Mischna angeführt, die 1763
erschien. Der Ansbacher Stadtkaplan Johann Jacob Rabe übersetzte die Schrift
nicht bloß, er verfaßte ein Vorwort, in dem er den Irrglauben wiederholte,
das fortwährende Leid der Juden sei eine Strafe für seine Ablehnung des
Gottessohnes. Ist solch eine Mischna etwa nicht mehr jüdisch, weil sie von
einem christlichen Geistlichen übersetzt worden ist? Kann die eine Kultur
von der anderen scharf getrennt werden, als könnte ein Buch nicht mehreren
zugleich zugehören? Im Ausschlußverfahren? Sind etwa die Hebräischen
Melodien von Heinrich Heine nicht auch jüdische Artikulation, bloß weil sie
auf Deutsch verfaßt sind?
Kennen Sie den, wie in der Sozialwissenschaft gesagt wird, Pizza-Effekt? Am
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatten arme sizilianische Einwanderer in
New York nichts anderes zu essen als altes, trockenes Brot, das sie mit
Tomatensauce bestrichen. Mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg veränderte
sich der Imbiß, kneteten sie den Teig, um ihn mit Käse, Fleisch, Schinken
und Gemüse zu belegen und frisch zu backen. Auf Urlaub in Italien servierten
sie ihren Verwandten die neue Köstlichkeit und den Geschmack ihres Erfolgs.
So entstand nicht, wie es die Legende uns immer weismachen wollte, in
Neapel, sondern in Amerika jenes Gericht, das dann als echte italienische
Nationalspeise zu Weltruhm gelangte.
Ist nicht das Judentum ein einziger Pizza-Effekt? Nicht nur ist das Judentum
wie die Pizza erst nach dem Exodus entstanden und bloß in der Diaspora zu
dem geworden, was es ist. Die eine einzig wahre Pizza gibt es ebenso wenig
wie das einzig wahre Judentum. Sie wird da mit Käse serviert und dort mit
Schinken, bei den einen mit Paprika und bei den anderen mit Mais, manche
schwören auf Tomaten, einige auf Zwiebeln, und wer je Italiener streiten
hörte, ob, was mit einer Ananas daherkommt, noch eine echt italienische
Pizza genannt werden kann, erinnert sich an manche Debatte zwischen
Orthodoxen, Reformern und Konservativen. Doch wie vertraut klingt erst die
entscheidende Frage: Worin unterscheidet sich diese Pizza von all den
anderen Pizzas?
Schmeckt zudem nicht jede Zutat anders, je nachdem, in welchem Land und in
welcher Saison sie auf den Tisch kommt? Ebenso scheint ein und dasselbe
jüdische Gebot in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen
Kontinenten an neuen Charakter zu gewinnen. Was einst jüdische Aufklärung
war, wirkt nun zuweilen abgestanden und sogar wie eine Abkehr von der
Moderne.
Erst das babylonische Exil und die römische Vertreibung bewirkten den
Verlust der priesterlichen Macht und die rabbinische Revolution, ohne die es
keine jüdische Orthodoxie gäbe. Bekannt ist die Geschichte von Rabbi
Jochanaan ben Sakkai, der sich in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem
schmuggeln ließ, ehe es fiel. Er ließ den in Flammen stehenden Tempel hinter
sich, um ein Lehrhaus in Javne zu gründen. Erst nach der Zerstörung des
Jerusalemer Heiligtums, außerhalb des Landes wurden die Opferrituale
überwunden, entstand ein neues Judentum. Die Andacht konnte nicht mehr an
sakrale Stätten haften bleiben und das Denken orientierte sich an Studium
und Erinnerung. Die Schrift sollte zur Heimat werden. Das Primat der
Räumlichkeit wurde durch jenes der Zeit ersetzt. Das klerikale Prinzip von
jenem der Gelehrsamkeit abgelöst. Der Tempel von der Schule.
Diese Entwicklung ist nicht endgültig, und so kann beobachtet werden, wie
sich der Charakter mancher jüdischer Strömungen im Staate Israel wiederum
verändert, wie der Boden für nicht wenige wieder wichtiger wird als die
Lehre, ja, wichtiger gar als das Leben. Sie möchten heimfinden zu einem
Ursprung, den es so nie gab. Sie wollen uns lehren, wo Gott wohnt und zwar
auf Teufel komm raus, wollen den Tempel wieder errichten, selbst wenn es
gilt, dabei den Felsendom auszulöschen. Sie kehren zurück zur
Fetischisierung des Opfers, rufen auf zur Ermordung des Premierministers,
zum Kampf gegen Rechtsstaat und Demokratie.
In Wien, in der Leopoldsstadt, der Mazzesinsel, wie sie einst hieß, begegne
ich jedem scheelen Blick, der chassidischen Juden hinterher geworfen wird,
als meine er mich. Hier bin ich auf dem Sprung, um jedem schiefen Feixen
aufzulauern, und ich sehe den Orthodoxen rührselig nach, behütend.
Kaum fliege ich hingegen nach Israel, verlasse das Flugzeug, radikalisiere
ich mich stündlich, kommen mir manche Demonstrationen der Nationalreligiösen
mit den gehäkelten Kippot und ihren zusammengeschusterten Ideologien
spanischer vor als eine Corrida. Zuhause fühle ich mich in den Cafés von
Haifa und Tel Aviv, in den Kabaretts und den Universitäten, wo ich ein
Judentum finde, so laizistisch und modern, eine jüdische Sehnsucht nach
Frieden und Gerechtigkeit, wie sie außerhalb des Landes kaum zu finden ist.
Kann angesichts solcher Vielfalt, die zu jeder Zeit und an jedem Ort neue
Muster bildet, überhaupt definiert werden, wie etwa Arthur Szyk
vorzeichnete, was gut jüdisch und was assimiliert, wer der Chacham und wer
der Rascha ist? Und klingt diese Frage, was ein Jude ist, was ihn bestimmt,
denn nicht irgendwie anders in Tel Aviv als in Wien? Es ist, als wäre das
Judentum ein Kaleidoskop, dessen Glassplitter und Spiegelwände bei jeder
Drehung ein überraschendes Bild, ein einmaliges Mosaik entstehen lassen,
eine Anordnung, die so noch nie gesehen wurde und nie mehr so gesehen werden
wird.
In der Haggada steht geschrieben, der Rascha, der schlechte, sei jener Sohn,
der ganz unverschämt fragt: "Was soll euch dieser Dienst?" Euch, sagt er,
nicht mir. Die Antwort, die der Vater dem Rascha, dem Schlechten zu erteilen
hat, ist wohl die schwerste, ja, eine unbarmherzige. Nicht bloß, daß ihm
nicht wirklich Auskunft gegeben wird, nach der Tradition soll er folgendes
zu hören bekommen: "Wäre er dort gewesen, wäre er nicht befreit worden." Die
Kinder, die zu Tisch sitzen, können sich denken, sie seien wohl damit nicht
gemeint, mögen zurecht annehmen, sie, die Jüngsten, seien eben nicht ganz so
böse.
In der Haggadah heißt es nicht, wäre der Junge in Ägypten gewesen, er wäre
nicht befreit worden. Nein: "Wäre er DORT gewesen." Es gibt talmudische und
rabbinische Erörterungen, weshalb der Ort nicht genauer bezeichnet ist,
warum von DORT die Rede ist.
Die Worte der Pessachhaggada sind seit vielen Jahrhunderten unverändert
geblieben, aber seit der Shoah klingen sie anders wider. Worin unterscheidet
sich diese Nacht von all den anderen Nächten, fragen die Mädchen und Buben
jüdischer Familien, und ihre Eltern, ihre Großeltern erzählen ihnen, als
hätten sie alles persönlich erlebt, überlebt. Und die Auskunft, die sie
erhalten, ist dieselbe für die Weisen, die Dummen, die Guten und die
Schlechten. "Wären sie DORT gewesen, wären sie nicht errettet worden." Gegen
jeden jüdischen Menschen war ein Todesurteil gesprochen worden. Für die
Kleinen ist die Geschichte der Alten, wie sie dem Massenmord entrannen, wie
eine Art finsteres Märchen vom Anfang einer neuen Zeit, wahr und unwirklich.
Es war einmal, da lebten viele Juden, und wenn sie nicht gestorben sind,
dann wurden sie ermordet.
In Israel, aber auch in anderen Staaten liegt in dem Satz: "Wären sie DORT
gewesen, wären sie nicht errettet worden," noch eine zusätzliche Bedeutung,
die nicht eine Zeit und ihre Bedingungen umschreibt, sondern einen Ort, jene
Länder, in denen der Massenmord geplant und durchgeführt wurde. Das DORT von
dem die Rede ist, bezeichnet nichts als das DA, in dem wir uns eben
befinden. Es ist beinah allzu banal, davon zu reden. Nach 1945 hatte kaum
ein jüdischer Funktionär daran gezweifelt, daß in Deutschland keine jüdische
Gemeinde mehr entstehen würde.
Wer im Heidelberger Zimelienband blättert, wird auf einen Talmud stoßen, der
in der Hochschule aufbewahrt wird und vierhundert Jahre nach jenem in
Italien gedruckt worden ist. Diese Schrift entstand im Heidelberg des Jahres
1948, angeregt von osteuropäischen Überlebenden, die es in die DP-Camps der
westlichen Besatzungszonen verschlagen hatte. She’erit ha-Pleta; unter
diesem Namen organisierten sich die Übriggebliebenen aus den
Konzentrationslagern. In Iwrith bedeutet She’erit einfach der Überrest, doch
das Wort Pleta ist ein schillernder Begriff, der Flucht, Rettung,
Entronnenes, Rest und Überbleibsel gleichzeitig bedeuten kann, ja, nur
wenige Israelis wissen, daß Pleta einst sogar ein Ausdruck für Bankrott war,
und kaum jemand, der von einer Pleite spricht, ahnt, daß dieses Vokabel
ursprünglich vom hebräischen Pleta stammt und über das Rotwelsche aus dem
Jiddischen in die deutsche Sprache kam.
She’erit ha-Pleta; als die religiöse Abhandlung endlich publiziert wurde,
war die Mehrheit der 180.000 jüdischen DP’s, dieser letzte Überrest der
Übriggebliebenen bereits dabei, nach Israel oder in die USA auszuwandern.
Es ist nicht zu leugnen, daß Juden, die in Deutschland und Österreich
wohnen, von
Juden in anderen Staaten gefragt werden, wie sie in diesen Ländern nach dem,
was hier geschah, leben können. Ist es nicht merkwürdig? Es gibt wohl kaum
ein anderes Volk auf der Welt, dessen Menschen sich dafür rechtfertigen
müssen, wo sie arbeiten und ihre Kinder aufziehen. Bei den Juden scheint es
seit 1945 irgendwie umgekehrt. Alle in der Diaspora müssen sich fragen
lassen, weshalb sie noch nicht nach Israel eingewandert sind; jene in Israel
versuchen wiederum ohne Unterlaß zu erläutern, wieso sie in dieser Gegend
überhaupt ein Existenzrecht haben und wie sie es hier noch aushalten;
diejenigen in den besetzten Gebieten müssen erst recht ausführen, was sie
dort, in diesen Exklaven des Nationalismus, eigentlich verloren haben und
die Juden in Europa, insbesondere in Frankreich, haben neuerdings zu
erklären, was sie da noch suchen. Es ist, als gäbe es keinen Ort auf diesem
Erdball, an dem ein Jude sich nicht fragen lassen muß, wie er just an dieser
Stelle nach der Shoah leben könne, und womöglich verbirgt sich hinter diesem
innerjüdischen Streit über den richtigen Platz unter anderem der Zweifel,
wie nach dem Massenmord überhaupt ein Jude leben könne, an irgendeinem
Flecken in dieser Welt.
Gleichwohl sind heute wieder Juden in Deutschland, haben sich hier
angesiedelt, zumeist aus dem Osten, sahen das Land als Zwischenstation, als
Provisorium, saßen auf gepackten Koffern, ehe sie allmählich sich
eingestanden, daß sie bleiben würden. Was kann den Glauben an eine Zukunft
eindrücklicher bezeugen, als die Gründung einer Schule? Womöglich jene einer
Hochschule, einer Hochschule für jüdische Studien, weil dadurch klargestellt
ist, daß hier nicht bloß Kinder aufwachsen werden, sondern daß sie in diesem
Staat bleiben können, bis sie studieren, nein, bis sie letztlich forschen
und lehren werden.
Für Arthur Szyk standen die Juden vor einem Scheideweg, der entweder zum
Zionismus oder zur Assimilation führte. Heute aber gibt es Israel und es ist
zum existentiellen und geistigen Fokus des Judentums, zum Fluchtpunkt in
jeder Bedeutung dieses Wortes geworden. Paradoxerweise stärkte die Existenz
des Staates das Selbstbewußtsein der Diaspora, können Juden auf der ganzen
Welt furchtloser leben, wenn sie wissen, daß ein Flug nach Zion möglich ist.
Wer allerdings glaubte, daß mit Israel der Antisemitismus bezwungen sein
würde, muß nun erkennen, das Ressentiment läuft wenn auch vielleicht nicht
wegen Israel, so zumindest gegen Israel zu neuer Form auf. Israel wurde von
Beginn an seine Daseinsberechtigung streitig gemacht. Der Staat der Juden
wird nicht selten als Jude unter den Staaten gehaßt und verworfen.
Welch Ironie der Geschichte. Solange der Nationalstaat als Hort der Moderne
galt, wurden die Juden zu vaterlandslosen Gesellen gestempelt. Nun, da ihnen
endlich gelang, in einem eigenen Land unterzuschlüpfen, ist es aufgrund
jenes Verbrechens, das sie aus Europa vertrieben hat, im alten Abendland
obsolet geworden, an den Nationalstaat zu glauben. Es ist, als würden wir
überall, alle, ob Juden oder nicht, in Zion oder Zürich, in einer globalen,
multikulturellen Diaspora, leben, und zuweilen wird so getan, als hingen
wieder einmal nur die Juden einem alten verstockten Glauben nach, jenem an
die nationale Selbstbestimmung. Viele, die wegen des Nazismus jegliche Form
von Nationalismus ablehnen, wenden die Werte, auf denen ihre Ablehnung von
Antisemitismus, von Chauvinismus und Militarismus beruht, vor allem gegen
Israel, den Zionismus und die Juden. So durchläuft das Ressentiment modische
Wandlungen.
Der neue Antisemitismus hat den alten nicht überwunden, vielmehr feiert der
klassische Judenhaß in östlichen Staaten Europas fröhliche Urständ, und
während in nicht wenigen Moscheen, ob in Saudi Arabien, Frankreich oder
Malaysia, gegen die Juden gehetzt wird, während Synagogen in Europa wieder
in Brand gesetzt werden - wobei, ohne das eine durch das andere zu
relativieren, auch nicht unerwähnt bleiben kann, daß in den letzten Wochen
muslimische Gotteshäuser angezündet wurden, wie etwa vor kurzem in dieser
Gegend unweit von hier -, während in Belgien der Mitarbeiter eines Rabbiners
erschossen wurde, grassiert unter nicht wenigen Deutschen und Österreichern
ein sekundärer Antisemitismus, der sich gegen die Erinnerung an Auschwitz
richtet und trotzig ausruft: "Was soll Euch dieser Dienst?"
Vielleicht ist der Rascha, der Schlechte, eben einfach durch diese Frage
definiert. Euch, sagt er, nicht mir. Er fühlt sich für seine Mitmenschen
nicht bloß nicht zuständig, sondern er zelebriert seine Ignoranz.
Selbstvergessenheit und Selbstversessenheit sprechen aus seinen Worten. In
Deutschland richtet sich, wer so spricht, nicht selten gegen die jüdische
Erinnerung und gegen jüdische Geistesgegenwart.
Aber mit der zeitlichen Distanz verblaßt die Vergangenheit nicht, sondern
tritt deutlicher denn je zu Tage, als kämen erst im Abstand die Kontraste
klarer zum Vorschein. Noch leben manche derer, die dem Mord entrannen, doch
wer sich in Österreich und Deutschland gegen das Vergessen wehrt, dem werden
zuweilen Ressentiments unterstellt, der wird ein Ewiggestriger genannt, der
gerät manchmal gar in Verdacht, die Vergangenheit zu instrumentalisieren. Es
ist populär geworden, über die sogenannte Auschwitzkeule zu klagen, wenn
angesichts rassistischer Vorkommnisse auf die nazistischen Verbrechen
verwiesen wird.
Manche meinen zu bemerken, daß sich seit einigen Jahren in der historischen
Aufarbeitung eine Perspektive durchsetzt, die von den Opfern der Vernichtung
absieht, um sich dem Leid der Mitläufer und Täter zu widmen. Wir werden etwa
in dunkle Kinosäle geladen, um uns in den Führerbunker, in Hitler persönlich
zu versetzen, zumindest aber in jene, die ihm dienten, ihm nahe waren und
ihn vergötterten. Dort, wo nichts als jener Untergang war, dem die
Überlebenden ihre Rettung verdanken, dort, wo bis zu dem Sieg der Alliierten
nichts als Verblendung war, heißt es, würden wir aufgeklärt. Es ist eben
alles eine Frage der Sichtweise, der kinematographischen und politischen
Einstellungen. Das war schon damals klar. Damals wie heute sollten die
Zuschauer angesichts des Führers einen wohligen Schauer verspüren.
Wer den Zimelienband der Hochschule aufschlägt, dem offenbart sich ein
anderer Blickwinkel. Wer die alten Heidelberger Quellen durchblättert,
erkennt, daß hier eine Geschichte zum Vorschein kommt, die vielseitiger ist,
widersprüchlicher, widerspenstiger und widerständiger als die Mythen
nationaler Ausgrenzung und Vereinnahmung. Die jüdischen Studien geben uns
eine Antwort, auf die Frage: "Was soll Euch dieser Dienst?" Sie sagen, was
uns die Geschichte angeht. Sie erteilen uns Lektionen der Differenzierung,
der Differenz und der Universalität. Diese Lehren können aus jüdischer
Erfahrung und Auseinandersetzung gezogen, auf der Hochschule für jüdische
Studien angeboten werden, und zwar unter anderem deshalb, weil ein Jude zu
sein, immer wieder ein Vergehen war und werden kann, in Ost und in West. Den
unvergänglichen jüdischen Geschichten nicht zu lauschen, hieße sie ein
zweites Mal in Deutschland auszulöschen. Die jüdischen Stimmen werden in
Heidelberg zu Gehör gebracht. Sie sind der fundamentale Kontrapunkt für eine
polyphone, pluralistische Gesellschaft in unserer Gegenwart, in unserer
Sprache und in diesem Land. Sie bilden den Widerhall zur eintönigen Leier
von der ethnischen Leitkultur.
Das Dasein zwischen den Zeiten und den Völkern stärkt die Erinnerung gegen
jedes Bestreben, das Opfer mit dem Täter zu vertauschen, aber ebenso das
eine Unrecht gegen das andere, den einen Totalitarismus gegen den anderen
aufzurechnen. Im Gegenteil. Die mehrfache Verfolgung schärft den Blick und
lehrt, keine Gleichsetzung zu dulden. Der Einzelne, das Subjekt wird
verehrt, nicht obwohl, sondern bloß wenn die persönliche Verantwortung nicht
privatisiert wird. Die Unterschiede zwischen den Unrechtssystemen im Auge zu
behalten, ist eine politische und eine menschliche Notwendigkeit zugleich.
Gewissen ist niemals alleinig eine individuelle, sondern immer auch eine
gesellschaftliche Kategorie. Die Schrift und die Schriften, die in der
Hochschule für jüdische Studien hier in Heidelberg, durchforscht werden,
zeichnen die Vergangenheit der letzten Jahrhunderte nach und die
Auseinandersetzung für kommende Jahrhunderte vor, ermöglichen eine Sicht,
die selbst in der Nacht nicht alle Katzen grau werden läßt, ja, in der sich
eine Nacht klarer von anderen unterscheiden läßt, und eben dadurch bieten
sie Perspektiven für kommende Tage.