Auschwitz:
Das Museum
Das Tor. Der Zaun. Der Ofen. Das Tor. Die
Gleise. Das Denkmal. Der Friedhof. Das Museum. Die Birken. Die Bilder.
Von Hanno Loewy
Jungle World 4 v.
26.01.2005
Das Tor
Das Tor ist viel kleiner. Die meisten fotografieren es aus der Untersicht.
Dann sieht es größer aus. Ein Tor, durch das so viele hindurchgehen mussten,
muss groß sein.
Die meisten sind nie durch dieses Tor gegangen. Arbeit macht frei, das stand
über dem Eingang zum Stammlager. Die Massen verschwanden in Birkenau.
Das Tor und seine Inschrift hat sich wie ein Filter vor alle Bilder
geschoben. Ja sogar vor die Erinnerungen. Überlebende von Birkenau glauben
schon, sie hätten es selbst gesehen. Dabei kennen sie nur die Fotos. Die
zynischen Worte täuschen bis heute. Das wichtigste Produkt hier war der Tod.
Der Zaun
Der Zaun wird erneuert, jedes Jahr kommen Jugendliche aus Deutschland und
ziehen frischen Stacheldraht. Mache von ihnen sind Auszubildende bei VW.
Der Rost frisst schnell. Warum soll man ihn hindern? Der Zaun soll
geschlossen bleiben. Wie ein magisches Kraftfeld? Die Zaunpfähle bröseln,
der Rost sprengt den Beton auf, der Zaun soll trotzdem stehen bleiben: als
Symbol der Unfreiheit, als Symbol für das Lager als Zustand. Wenn heute
Fotografen irgendwo in der Welt Gefangene ins Bild setzen, dann haben sie
diesen Zaun hier im Kopf, dann sorgen sie dafür, dass man diesen Zaun hier
auf ihren Bildern erahnen kann.
Der Ofen
Eine ältere Frau betritt das Krematorium im Stammlager. Lange steht sie vor
dem Ofen, versucht, sich ihm zu nähern. Ihr Guide, ein schlaksiger junger
Mann, hält sich abseits, lässt sie allein, steht bereit, drängt sich nicht
auf.
Den Raum nebenan, in dem die Menschen erstickt wurden, hat sie sich schon
angesehen. Sie geht gebückt auf den Ofen zu, dessen Klappe offen steht. Sie
wird wohl ein Blümchen dort hinterlassen. Eine japanische Gruppe hat einen
Kranz Origami-Figuren am Griff befestigt. Frösche. Ein paar Blumen liegen
schon da, Kerzen in roten Bechern und blauweißen Dosen. Blauweiße Fähnchen
mit Davidstern liegen in der Öffnung. Doch das alles sieht die Frau wohl gar
nicht. Sie versucht, sich dem Ofen zu nähern, als gäbe es einen Widerstand.
Etwas würgt ihr im Hals, ihr Atem geht keuchend. Der Apparat, die Maschine,
das Werkzeug der Auslöschung steht vor ihr. Der junge Mann im Hintergrund
zögert. Sie kommt ihm zuvor, entfernt sich mit ein paar Schritten, verlässt
den Raum. Von nebenan ist ihr Seufzen zu hören, Schluchzer, tiefes Atmen.
Nun spricht der junge Mann doch mit ihr, fast flüsternd. Und sie erzählt auf
Englisch, etwas von ihrer Familie, die hier, eigentlich in Birkenau, dort
will sie noch hin, oder vielleicht doch nicht, ausgelöscht wurde. Eine Pause
tritt ein.
Und dann unternimmt sie doch einen neuen Versuch. Diesmal nähert sie sich
dem Ofen ohne Mühe, fast zärtlich berührt sie die Klappe, streicht sie über
das Metall, beugt ihren Kopf nach vorne – die Origamis rascheln leise, als
sie die Ofenklappe vorsichtig weiter aufzieht – und schaut hinein, als könne
sie die Asche der Toten noch finden.
Auf dem Rand der Ofenklappe liegen ein paar Kiesel. Wie auf einem jüdischen
Grabstein.
Das Tor
Das andere Tor. Das Tor von Auschwitz-Birkenau. Steven Spielberg hätte alles
dafür gegeben, "Schindlers Liste" hinter diesem Tor drehen zu dürfen. Er
durfte es schließlich nur vor dem Tor. So wurde das Lager, wenigstens eine
kleine Ahnung davon, auf dem Besucherparkplatz, sozusagen wie in einem
Spiegel wiederaufgebaut. Das große Schild "Parking" war schnell abgeschraubt
und die Weiche, die Rampe, die Baracke für das Selektionspersonal errichtet.
Draußen war drinnen, drinnen war draußen, für ein paar Drehtage.
Die meisten Fotos von diesem Tor zeigen es üblicherweise von innen, über die
Rampe hinweg fotografiert, aber so, als blicke man auf das Tor zur Hölle.
Drinnen ist draußen, draußen ist drinnen. Das Lager hat Zäune, aber nicht
das Einsperren ist hier entscheidend, sondern das Tor, die Gleise, die
Lieferung, das Verschwinden. Birkenau ist drinnen und draußen, es beginnt
überall, wo die Gleise beginnen.
Die Gleise
Die Rampe strahlt wie neu. Der Kies ist erneuert, die Holzschwellen sind
ausgetauscht, das Gras ist gezupft, die Bordsteine des Bahnsteigs sind
hergerichtet. Hier soll kein Film mehr gedreht werden, aber man sucht nach
den Kulissen.
Doch auch dies alles wird wieder verfallen. Die alten Schwellen, so sagt man
uns, stammten ohnehin aus den sechziger Jahren. Die Gleise selbst sind
dauerhafter. Sie verbinden diesen Ort mit allen Städten Europas, mit allen
Bahnhöfen, ja mit allen Straßenbahnstationen und U-Bahnhöfen. Alles ein
Netz. Und hinten am Ende der Rampe, am Ende der Welt, hören alle diese
Gleise auf, laufen alle Gleise zusammen, eine einzige große Sackgasse.
Dort wurden in den sechziger Jahren kleine Flammenschalen angebracht. Als
gelte es, das alles verzehrende Feuer am Ende dieser Gleise zu einem Opfer
umzudeuten. Doch wem wird dieses Opfer dargebracht?
Das Denkmal
Die Opferschälchen am Ende der Rampe sind mit der höchsten polnischen
Auszeichnung geschmückt, dem Grunwald-Orden. Erinnerung an die Schlacht von
Grunwald. Zu deutsch: Tannenberg. Das ist lange her. 1 410 besiegten an
jenem Ort polnische Ritter die Ritter des Deutschen Ordens. Auch das
Denkmal, in das die kleine Opferstelle übergeht, wurde mit einer bronzenen
Platte mit Kreuz und Doppelschwert, den Insignien des Grunwald-Ordens,
ausgezeichnet.
Birkenau als Ort deutsch-polnischen Kampfes? Ein Lager, gebaut für russische
Kriegsgefangene, die anderswo verhungert waren, bevor man sie hier hätte
einsperren können. Und schließlich benutzt für die "Endlösung der
Judenfrage", für die Ermordung von Sinti und Roma, freilich auch als
Frauenlager für polnische und andere politische Häftlinge.
Ein polnisches Nationaldenkmal des Zweiten Weltkriegs? Auch hier liegen
Kränze, bücken sich Politiker, um die Schleifchen zurechtzurücken, in immer
gleicher Geste und mit gemischten Gefühlen.
Der Friedhof
Links und rechts die Krematorien. Mittlerweile ist der in Jahren gewachsene
Schilderwald, der über ihre Geschichte und Funktion, aber auch über die
drohende Einsturzgefahr informieren sollte, durch eine Reihe strenger,
schwarzer Steine ersetzt worden.
An einigen sind Informationstafeln befestigt. Die anderen verweisen stumm
auf die Überreste der Toten, die hier überall verstreut sind. Auch auf diese
"Grabsteine" legen jüdische Besucher ihre Kieselsteine. Auf den Ruinen der
gesprengten Gaskammern klettern Besucher herum, setzen Kerzen auf den
geborstenen Beton, auf Stahlarmierungen und Grasflecken. Die in den rot
durchscheinenden Plastikbechern werden von Christen bevorzugt. Andere Kerzen
stecken in bedruckten Blechbüchsen und sind als "yohrzeit memorial candles"
ausgewiesen. Sie brennen sechsundzwanzig Stunden lang, so dass sie, vor
Beginn des Sabbat entzündet, noch brennen, wenn er zu Ende geht.
Die Toten aber haben hier weder einen "guten Ort" noch ein "Haus des ewigen
Lebens" gefunden. Die Überlebenden und ihre Nachkommen suchen hier nach
ihren verschwundenen Angehörigen und die anderen, die Gruppen aus Japan und
aus Deutschland, wo immer sie herkommen, sie schauen ihnen dabei zu.
Regelmäßig werden die Blumen, die hier, in Klarsichtfolie verpackt,
hinterlassen werden, wieder weggeräumt. Und die Experten streiten darüber,
wann man um die Ruinen einen Zaun errichten muss, damit nicht irgendwann die
ersten Besucher mit ihnen zusammen einstürzen.
Das Museum
Die ehemaligen Kasernengelände, in denen das so genannte Stammlager und nach
dem Krieg das Museum untergebracht wurde, halten den Besuchermassen eher
stand.
In den Fluren des Museums drängeln sich die Gruppen aneinander vorbei. Die
Führer des Museums geben sich Mühe, den Text, den sie heruntersprechen
müssen, nicht gänzlich zur Routine werden zu lassen. Für Fragen ist in
diesem Trott wenig Raum.
Über dem Eingang steht geschrieben: "Beweise des Verbrechens". Wer das
Museum betritt, nimmt teil an einem öffentlichen Prozess, der den Tätern von
Auschwitz gemacht werden soll, der den Kampf, der in Auschwitz verloren
wurde, in die Gegenwart verlängern, die Demütigung in einen Sieg verwandeln
soll.
In den Vitrinen lagern die Schuhe und die Koffer, die Brillen und die Töpfe,
die Krücken und die Gebetstücher. Wer Zeit dazu hat, vor den Vitrinen zu
verweilen, verliert leicht den Boden unter den Füßen.
Die meisten werden weiter geschoben. Was bleibt, ist ein unbestimmtes Gefühl
von Übelkeit, ein leichter Schwindel. Von den Überresten, von ihrer schieren
Existenz abgesehen, erfahren die Besucher im Museum wenig von den
Vernichteten. Sie bleiben fremd, unbekannt, anonym, so fremd, wie sie den
meisten Häftlingen des Stammlagers blieben, die der Vernichtung zusehen
mussten. Birkenau, dessen Spuren und dessen Funktion im Museum dokumentiert
werden, bleibt seltsam fern. Hier wird uns von Kämpfen erzählt, von Qualen
und vom "sich opfern". Und vom Erschrecken darüber, dass es hier noch etwas
anderes als einen "Kampf" gab. Etwas, von dem man ahnte, dass es einem
selber drohen könnte. Und dem man doch entgehen konnte.
Derweil weiß man nicht mehr so recht, was man mit den Haaren der Ermordeten
tun soll. Frauenhaar, das ausbleicht, verwittert, während die Besucher an
den Vitrinen vorbeiziehen, in all den Jahren. Man sollte es begraben, sagen
manche. Doch auch das ist nur ein Traum von einem Tod in Würde.
Die Birken
Überall stehen die Birken, irgendwo hier müssen auch die Fotografien
entstanden sein, im Mai 1944, nach der Ankunft eines Transportes aus Ungarn.
Ein SS-Mann hat die Familien, die hier lagerten, nach der "Aussortierung"
der "noch Arbeitsfähigen", zwischen den Birken fotografiert, bevor sie zu
den "Brausebädern" getrieben wurden. Die Fotos von den Frauen und Kindern,
den Alten und all den anderen, die man ebenso loswerden wollte, für immer –
sie waren wohl ebenfalls als Souvenir gedacht, als schöne Erinnerung an
erfolgreiche Arbeit.
Eine Überlebende, Lilli Meier-Jacob, fand sie 1945 in einer SS-Baracke in
Dora, säuberlich in ein Album geklebt und mit Schönschrift kommentiert.
Auschwitz: Von diesem Ort kehrt man nicht gerne ohne Fotos heim.
Die Bilder
An kaum einem anderen Ort wurden so viele Bilder verbrannt wie dort.
Nach den Menschen kamen auch die Fotografien in ihren Taschen, Koffern,
Alben ins Feuer. 2 400 Fotos blieben übrig, wahrscheinlich von einem
einzigen Transport aus Bedzin, einer polnischen Stadt, gar nicht weit von
Auschwitz.
Der Rest verschwand, wie ihre Besitzer.
Hanno Loewy: Hanno Loewys Text "Das Museum" von 1996
erschien in dem Buch "Taxi
nach Auschwitz" (Philo Verlagsgesellschaft, 2002, 191 S., 24,80
Euro). Nachdruck der gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des
Autors und des Verlags.
hagalil.com
27-01-2005 |