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Jüdische Konvertiten in Wien 1782 - 1914:
Ein Projekt an der Österr. Akad. der Wissenschaften

Von Anna L. Staudacher, Wien

Alfred und Viktor Adler, Peter Altenberg, Heinrich Benedikt, Lola Beeth, Hugo Bettauer, Tina Blau, Berthold Bretholz, Camillo Castiglioni, Otto Deutsch, Ernst Egger, Egon Friedell, Ludwig Gumplowicz, Karl Kraus, Karl Landsteiner, Gustav Mahler, Adolf Mussafia, Arnold Rosé und Alice Schalek, über Otto Weininger bis hin zu Alexander von Zemlinsky - sie alle lebten zum Fin-de-siècle in Wien und waren jüdische Konvertiten: Berühmte Literaten, Journalisten, Schauspieler, Musiker, Maler, Philosophen, Historiker und Linguisten, Ärzte und Naturwissenschaftler, Politiker und Industrielle, weit über 1000 mögen es gewesen sein.

Die Austrian Jewish Biography - nun an der österreichischen Akademie der Wissenschaften - hat sich die Aufarbeitung von personenorientierten Quellen zur Aufgabe gestellt, im Gegensatz zu herkömmlichen Lexikonunternehmungen, welche sich auf die Erhebung und Überprüfung von Eckdaten mit ergänzenden Kurzbiographien zum Lebenswerk beschränken müssen. In einer biographischen Sammlung wurden zunächst - nach Vorarbeiten mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) - die Grundlagen für eine quellenorientierte Weiterarbeit gelegt: Eine Sammlung von derzeit über 15000 Dossiers.

Von Konvertiten wissen wir zumeist nur soviel: Dort und dort von jüdischen Eltern geboren, begraben dort und dort in einem christlichen Friedhof, katholisch oder protestantisch. Konvertiten schwiegen in ihren Ego-Zeugnissen zumeist über ihre Konversion, andere nahmen zudem vor, bei oder nach der Taufe auch noch einen anderen Namen an. Biographen taten sich schwer - zumeist blieben die näheren Umstände eines Übertritts zum Christentum im Dunkeln, Mutmaßungen treten dann an Stelle von Fakten, was viel mit der Quellenlage zu tun hat.

Konvertitentaufen wurden in die Taufbücher der jeweiligen Taufpfarre eingetragen, so um die 1880er Jahre wurden allgemein auch Konvertitenbücher geführt. Taufbücher werden nach dem Taufdatum angelegt, nicht nach dem Geburtsdatum - hier liegt schon die erste Hürde, an welcher Biographen bereits scheitern mußten, da das Datum der Konversion ja zumeist nicht bekannt ist. Hinzu kommt noch, daß Konvertiten in der Wahl ihrer Taufpfarre frei waren, und sich zumeist nicht für die Pfarre ihres Wohnortes entschieden. Weiß man weder das Taufdatum noch die Taufpfarre, so bleiben einem die Basisquellen zur Konversion verschlossen. Dieser Umstand veranlaßte uns zu einer Gesamtaufnahme jüdischer Konvertiten – nicht nur der prominenten - in Wien und Umgebung, aufbereitet und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt in einer Selektiven Edition.

Systematisch wurden nun diese Tauf- und Übertrittsbücher durchgegangen, großformatige Folianten, im Buchrücken dick bis zu einer Handbreit, bislang über 1500 an der Zahl. Und in den Taufbüchern des Allgemeinen Krankenhauses trafen wir auf Eintragungen, bei welchen die Rubriken, die für die Eltern vorgesehen waren, leergelassen wurden, in die Rubrik der Mutter oder am äußersten rechten Rand wurde der Vermerk gesetzt: mater infantis judaea (die Mutter des Kindes jüdisch) - es ging hier um jüdische Kinder, die für die Aufnahme ins Wiener Findelhaus getauft wurden.

Ich wollte nun auch dieser Sache nachgehen. Wie viele Kinder waren davon betroffen? Wessen Kinder waren das? Wie konnte dergleichen geschehen? Das waren zunächst die Fragen, die ich mir stellte, die mich zu den Quellen führten, zu den Gebärhausprotokollen, den Findelhausprotokollen und von den Taufmatriken des Allgemeinen Krankenhauses zu den Taufmatriken im Großraum von Wien. So entstand der erste Teil der Konvertitenreihe – welche ihrerseits in das Mittelfristige Forschungsprogramm der Österreichischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. Im Jahr 2001 erschien Wegen jüdischer Religion - Findelhaus, im folgenden Jahr kamen die Jüdische Konvertiten in Wien 1782 - 1868 heraus und vor kurzem die Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782 - 1914, jeweils in einem Doppelband beim Verlag Peter Lang. In Vorbereitung steht nun der Übertritt zur katholischen Kirche ab dem Jahr 1868. Das Jahr 1868 war ein entscheidendes Jahr für die Geschichte der Juden in Österreich - durch die interkonfessionellen Gesetze erlangten sie jene Gleichberechtigung, die zuvor nur durch die Annahme der Taufe erworben werden konnte - wobei es keinen Weg zurück gab.

Die Konvertitenreihe erscheint jeweils in Doppelbänden, im zweiten Teil mit einer Selektiven Edition, wobei sich selektiv auf einen klar umrissenen Personenkreis bezieht, nämlich auf Menschen jüdischer Herkunft, welche die Taufe annahmen, auf jüdische Kinder, die getauft wurden: Es geht ja nicht allgemein um alle Taufeintragungen in den Taufbüchern, sondern um die Eintragungen jüdischer Konvertiten. In der Selektiven Edition haben wir sie alphabetisch nach Familien zusammengefaßt: Ehepaare, Eltern mit ihren Kindern bzw. Geschwister, mit ihren Eckdaten, ihrem Geburtsort und Beruf, mit näheren Angaben zu den Eltern, deren Herkunft und Beruf, den Namen der Taufpaten, dem Datum und dem Ort der Taufe.

Die Angaben zu den Eltern stellen zuweilen auch einen Ersatz dar für verloren gegangene, verbrannte jüdische Matrikenbücher. Ergänzt wurden die Taufeintragungen mit zusätzlichen Quellen, den Geburtenbüchern der Wiener Kultusgemeinde, mit Eintragungen aus den Trauungs- und Sterbebüchern, den Proselytenprotokollen im Fall einer Rückkehr zum Judentum, und wenn es nur irgendwie möglich war, auch mit den Sterbedaten. Bei prominenten Konvertiten findet sich eine Kurzbiographie mit Hinweisen zu weiterführender Literatur. Konkordanzen führen bei einem Namenswechsel vom Konvertitennamen zum ursprünglich jüdischen Namen, wie auch vom Mädchennamen zum angeheirateten Namen bei verheirateten Frauen, welche unter dem Namen ihres Mannes aufzufinden sind.

Die jüdischen Findelkinder

Gleich vorweg - es ging hier nicht um ausgesetzte, gefundene Kinder, ganz und gar nicht, sondern um - zumeist uneheliche - Kinder jüdischer Dienstmägde, Handarbeiterinnen, Fabrikarbeiterinnen und Tagelöhnerinnen, für welche die Mutter nicht sorgen konnte und welche daher ins Findelhaus kamen. Das Findelhaus war an sich kein Kinderheim, sondern eine Verwaltungsstelle von Pflegeplätzen. Die Kinder kamen somit in staatliche Versorgung - in einem katholischen Land hatten sie katholisch erzogen zu werden - dies galt auch für Kinder von evangelischen Eltern.

Um "Erziehungsschwierigkeiten" bei der katholischen Erziehung von vornherein auszuschließen, gab es jedoch für jüdische Kinder eine Sonderregelung: Sie wurden von ihrer Mutter gleich nach der Geburt getrennt, getauft, erhielten neben dem Taufnamen auch einen anderen Zunamen, nicht den Namen der Mutter, wie es vom Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch bei unehelichen Kindern vorgesehen war. Bis zum Jahr 1843 wurden diese Namen noch zusätzlich verschlüsselt, in die Gebärhausprotokolle oft nur mit den Initialen aufgenommen, so erhielt das Kind der Magd Regine Pollak, aus Trentschin in Ungarn, den Namen Thomas Thal, mit den Initialen T.T. eingetragen,

während man in den Taufmatriken in die Rubrik, die für den Namen der Mutter vorgesehen war, nicht deren Namen eintrug, sondern einen allgemeinen Vermerk setzte, der auf die jüdische Herkunft des Kindes verwies, wie etwa mater infantis judaea oder auch nur mater judaea.

Die Sterblichkeit jüdischer Findelkinder war extrem, erschreckend hoch, wesentlich höher als bei nichtjüdischen. Sie starben zumeist schon wenige Tage nach der Trennung von der Mutter, als Todesursache wurde "Abweichen" (Durchfall), Lebensschwäche und dergleichen angegeben. Wollte eine jüdische Mutter ihr Kind wiedersehen, so mußte sie sich zuvor taufen lassen, ihren eigenen Taufschein bei der Findelhausverwaltung vorlegen - um schlußendlich die Mitteilung zu erhalten, daß ihr Kind schon vor geraumer Zeit bei der "Pflegepartey" in der Slowakei, in Böhmen oder in der Obersteiermark verstorben ist.

Von der Gründung des Wiener Findelhauses bis zum Jahr 1868 wurden nahezu 3000 jüdische Kinder zur Aufnahme ins Findelhaus getauft, nur ganz wenige von ihnen haben überlebt. Derartige Taufen jüdischer Kinder erfolgten freilich nicht erst seit der Gründung dieser Institution im Jahr 1784 und nicht nur im Wiener Gebärhaus beim Allgemeinen Krankenhaus - sondern in nahezu jeder Pfarre, von wo aus die Kinder zumeist von der Hebamme ins Findelhaus gebracht wurden.

Konvertiten und ihre Motive zur Annahme der Taufe

Zuweilen wurden auch die Motive zur Taufe in das Taufbuch eingetragen, nicht selten war es neben der "Uiberzeugung" der "Umgang mit Christen, der Besuch der kath[olischen] Schule und Kirche". Das wirkmächtigste Motiv, das zur Annahme der Taufe führte, war jedoch das Heiraten, eine Verehelichung: "Behufs Verehelichung mit einer Katholikin", bzw. "mit einem Katholiken" hieß es dann.

Geheiratet wurde oft unmittelbar nach der Taufe, noch am selben Tag, tags darauf, in derselben Woche, vierzehn Tage später, jedenfalls noch im selben Jahr. Und dieses Motiv war nicht von den politischen Verhältnissen bestimmt: Die interkonfessionellen Gesetze des Jahres 1868 ermöglichten in Österreich den Austritt aus jener Religionsgemeinschaft, in welche man hineingeboren war, wodurch man den Status der Konfessionslosigkeit erhielt. Ein Konfessionsloser konnte von nun an in Österreich eine Zivilehe mit einem Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft oder mit einem Konfessionslosen eingehen. Die Annahme der Taufe war nach dem Jahr 1868 somit nicht mehr erforderlich, um einen geliebten - nichtjüdischen - Menschen zu ehelichen.

Das soziale Umfeld zählte - in vielen Fällen waren es die künftigen katholischen Schwiegereltern, welche die Taufe als Bedingung für ihr Einverständnis setzten. Sehr häufig kam es auch zu Konvertitenehen, nach ähnlichem Muster: Lag die Taufe beim einen bereits Jahre zurück, so erfolgte die Taufe des anderen ganz knapp vor der Verehelichung; auch unabhängig von einer geplanten Eheschließung: Brach es in einer Familie ein, ließ sich einer einmal taufen - dann folgten ihm sehr bald andere aus dem engsten Familienkreis nach. Oder aber alle zusammen ließen sich an ein und demselben Tag taufen. Bis zum Jahr 1868 waren Familientaufen keine Seltenheit, später schon: Um die Jahrhundertwende erfolgte der Übertritt zumeist nicht mehr mit der Familie, sondern einzeln, nach und nach folgten die Eltern ihren Kindern, zunächst der Vater bzw. die Mutter, die Schwester folgte ihren bereits getauften Brüdern - jede nur denkbare Abfolge war möglich.

Landläufig wird der Taufe von Juden eine karrierefördernde Rolle zugedacht, dem war jedoch nicht so. War man ein Schuhputzer, dann blieb man es auch. Auch für einen Privatdozenten war die Taufe nicht zwangsläufig das Sprungbrett zu einer Professur, und wenn schon, selten, dann dauerte es oft noch viele Jahre. Gleiches gilt für Verehelichungen, Märchenhochzeiten gab es so gut wie keine. Der Sohn eines Buchhalters heiratete eine Angestellte, der Sohn eines Seidenhändlers die Tochter eines Seidenhändlers, die Tochter eines Hof- und Gerichtsadvokaten einen Anwalt oder einen Arzt. Von einer gesellschaftlichen Besserstellung nach der Taufe mag vielleicht so mancher geträumt haben - die von uns erhobene Realität sah anders aus. Sicherlich hat es der eine oder andere im Laufe seines Lebens zu etwas gebracht, nicht aber in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Taufe. Häufig wird auch die Meinung vertreten: Nun ja, man habe sich taufen lassen, um in den Adelsstand erhoben zu werden. Einmal war dazu keine Taufe erforderlich, nicht im Vormärz und schon gar nicht später - eine nicht ganz so geringe Zahl war bei der Taufe bereits nobilitiert, und zum anderen dauerte es sehr lange, viele Jahre und auch Jahrzehnte, bis eine Nobilitierung von Konvertiten erfolgte.

Die Taufpaten

Hochinteressant ist die Rolle der Taufpaten - nicht nur als Zeugen des Übertrittes, sie verbürgten sich für ihren Schützling. Taufpaten waren (und sind) oft Leute, die es im Leben bereits zu Wohlstand und Ansehen gebracht haben – eine spätere Karriere des Konvertiten stand jedoch kaum in einem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Position seines Taufpaten. Und: Was nicht wenig erstaunen wird, oft fungierten Konvertiten als Taufpaten, wobei zuweilen deren Taufe gar nicht so weit zurücklag, manchmal waren es nur ein paar Tage. Häufig übernahm der künftige Bräutigam oder die Braut die Patenschaft, oder es übernahmen sie die künftigen Schwiegereltern.

Bei Familientaufen gab es auch Patenfamilien mit verteilten Rollen: Der Taufpatenvater stand Pate für den Konvertitenvater, die Taufpatenmutter für die Konvertitenmutter, die Taufpatenkinder für die Konvertitenkinder. Auch Hebammen und Mesner traten häufig als Paten auf, Hebammen bei jüdischen Findelkindern, Mesner sehr oft bei evangelischen Konvertitentaufen. Hingegen trafen wir im Vormärz bei katholischen Konvertitentaufen gar nicht so selten auf Angehörige hochadeliger Häuser, auf Mitglieder der kaiserlichen Familie, die die Patenschaft über jüdische Konvertiten übernahmen, selbst bei der Taufe anwesend waren oder sich durch einen Untergebenen vertreten ließen. Vorgesetzte und Arbeitgeber, Arbeitskollegen und Wohnungsnachbarn trugen sich als Paten ins Taufbuch ein, manchmal auch Untergebene, die zum Hausstand zählten, so übernahmen Gouvernanten und Kindermädchen die Patenschaft für ihre, zuweilen bereits nobilitierten Dienstgeber.

Konvertitennamen und Namenswechsel

Konvertiten hatten durch das Hofkanzleidekret vom 5. Juni 1826 ein gesetzliches Anrecht, ihren Namen anläßlich der Taufe zu ändern: Kein Zwang, keine Verpflichtung, sondern eine Option, welche ihre Integration in das christliche Umfeld erleichtern sollte. Diese Namen waren frei gewählt und keineswegs aufgezwungen. Oft entschied man sich nur für eine andere Schreibweise (Lebel – Lebell), eine leichte Veränderung in der Lautung (Löwy - Loewe), oder man nahm etwas, in verfremdeter Form, vom alten Namen mit: (Wehle - Wellenthal). Um derartige Namensänderungen unter Berufung auf das erwähnte Hofkanzleidekret konnte auch Jahre und Jahrzehnte nach der Taufe angesucht werden.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden derartige Ansuchen auch von Nachkommen von Konvertiten gestellt, von Konvertiten, die bei der Taufe sich nicht zu einem Namenswechsel entschließen konnten – alle derartigen Gesuche um Namensänderungen wurden bewilligt. Namensänderungen in berücksichtigungswürdigen Fällen - wie Namen, welche den Namensträger dem Spott seiner Mitmenschen preisgaben (Rindskopf, Esel) - waren nach dem Jahr 1848 auch ohne Taufe möglich, es lag im Ermessen der Behörden. Anrecht auf eine Namensänderung hatten bis zum Ersten Weltkrieg aufgrund des Hofkanzleidekretes von 1826 nur jüdische Konvertiten - im aufflammenden Antisemitismus in Wien um die Jahrhundertwende war auch der Namenswechsel - der Wunsch, seinen jüdischen Namen, unter welchem man so viel zu leiden hatte, loszuwerden - ein Motiv, die Taufe anzunehmen. Und so mancher trat nach vollzogenem Namenswechsel wieder zum Judentum zurück.

Die Rückkehr zum Judentum

Gleich nach den Maigesetzen, den Interkonfessionellen Gesetzen des Jahres 1868 wurde Wien ein Zentrum der Rückkehr zum Judentum. Die Rücktritte erfolgten vor allem im Stadttempel und in der Leopoldstadt. Zurück traten viele aus dem "einfachen Volk", und wenig, sehr wenig Akademiker - von welchen es doch immer wieder heißt, sie hätten aus beruflichen Gründen die Taufe annehmen müssen. Nicht wenige von ihnen hatten sich taufen lassen, weil sie mit einem nichtjüdischen Menschen einen eigenen Hausstand gründen oder ihre Kinder legitimieren wollten.

Sie kehrten zurück zum Judentum, oft nicht allein, sondern zusammen mit ihren Familien, indem der nichtjüdische Teil zum Judentum übertrat, die Kinder als Proselyten in die Proselytenbücher der jüdischen Gemeinde eingetragen wurden.

Zahlen & Statistik

Bis zum Jahr 1868 zählten wir nahezu 3000 getaufte jüdische Findelkinder, etwa ebensoviel Erwachsene, welche sich taufen ließen - nur 200 von ihnen nach evangelischem Ritus. Knapp 6000 traten in den Jahren zwischen 1868 und 1914 zum Protestantismus über, wobei unverhältnismäßig viele sich den Calvinisten, dem helvetischen Bekenntnis zuwandten. Diese unsere Zahlen stehen im Widerspruch zu den amtlichen, in den statistischen Jahrbüchern der Stadt Wien veröffentlichten, die absolut nichts mit der von uns erhobenen Realität zu tun haben. Grundlage für die Statistik der Stadt Wien waren die Austrittserklärungen aus dem Judentum, die auch einen Passus enthielten, was man nun weiter beabsichtige, konfessionslos zu bleiben, zu einer anderen Religionsgemeinschaft überzutreten, und wenn ja - zu welcher.

Diese Absichtserklärungen waren vom Augenblick bestimmt und keinesfalls bindend. So manch einer, der beispielsweise angab, er wolle nun protestantisch werden, besann sich eines anderen, blieb zunächst einmal konfessionslos und ließ sich einige Jahre später katholisch taufen, wie beispielsweise Peter Altenberg. Karl Kraus wieder beabsichtigte, seiner Austrittserklärung im Jahr 1899 zufolge, "confessionslos zu bleiben", unterzeichnet mit seiner eigenhändigen Unterschrift (rechts unten), trat jedoch schließlich im Jahr 1911 gleichfalls zur katholischen Kirche über.

Somit sind auch sämtliche komparative Arbeiten, die sich auf amtliche Statistiken zum Religionswechsel in Wien stützen und mit viel Mühe sich mühten dies oder jenes darzulegen, hinfällig geworden, da ja auf die Angaben der einfachen Leute genau so wenig Verlaß war.

Wie viele vom Jahr 1868 hin bis zum Ersten Weltkrieg die katholische Taufe annahmen, wissen wir noch nicht - im vierten Teil der Konvertitenreihe wird es um den Übertritt zur katholischen Kirche nach dem Jahr 1868 gehen - über 2500 Konvertiten haben wir bereits aufgenommen, bereits mit einigen überraschenden Ergebnissen: Die interkonfessionellen Gesetze, nach welchen uneheliche Kinder der Religion der Mutter zu folgen hatten, wurden bis nach der Mitte der 1880er Jahre allgemein nicht eingehalten. Dann gab es regelrechte Konvertitenpfarren, Pfarren, wie die Schotten in der Wiener Innenstadt, die keineswegs durch Missionierung hervortraten und doch Rekordzahlen aufzuweisen hatten. Nicht wenige jüdische Eltern ließen ihre Kinder sogleich nach der Geburt taufen und verbürgten sich für die christliche Erziehung, in gleicher Weise wurden zahlreiche Kinder aus Zivilehen der Taufe zugeführt: Vater - jüdisch, Mutter konfessionslos (früher katholisch) bzw. umgekehrt.

Man kann darin eine Spiegelung der politischen Verhältnisse der Luegerzeit in Wien sehen - Karl Lueger war vom Jahr 1897 bis zum Jahr 1910 Bürgermeister von Wien und setzte Antisemitismus geschickt für seine politischen Ziele ein. Mit der Taufe seiner Kinder wollte man diese vor Häme und Erniedrigung schützen. Und noch etwas wird aus den Matrikenbüchern ersichtlich: Im Holocaust bot nicht wenigen die Taufe Schutz vor Deportation und Vernichtung. Freilich gingen auch Konvertiten in die Emigration, andere kamen in den Konzentrationslagern um, wurden nach 1945 für tot erklärt, wieder andere kamen als Bombenopfer ums Leben oder starben in Wien eines natürlichen Todes und wurden in christlichen Friedhöfen bestattet, nicht nur im nichtarischen Teil des Zentralfriedhofes, der auch für jüdische Konvertiten vorgesehen war. Nicht wenige überlebten jedoch in Wien, heirateten später nochmals, und so manch einer trat dann auch wieder zum Judentum zurück.

Die Autorin ist Universitätsdozentin an der Universität Wien, sowie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut ÖBL zugeteilt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört u.a. die Geschichte der Juden in Österreich-Ungarn, Jüdische Konvertiten und Namenskunde (Konvertiten, Findelkinder). Im Verlag Peter Lang erschien von Anna L. Staudacher:

Wegen jüdischer Religion - Findelhaus. Zwangstaufen in Wien 1816-1868
Frankfurt/M, Berlin, Bern, BruxellesNew York, Oxford, Wien 2001.
Teil 1: 496 S., Teil 2: 586 S., zahlr. Abb. und Tab., ISBN 3-631-35198-4 br
.

Jüdische Konvertiten in Wien 1782-1868
Frankfurt/M, Berlin, Bern, BruxellesNew York, Oxford, Wien 2002
Teil 1: 460 S., Teil 2: 732 S., zahlr. Abb. und Tab., ISBN 3-631-39406-3 br.

Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782-1914
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2004. Teil 1: 495 S., Teil 2: 838 S., zahlr. Abb. und Tab., ISBN 3-631-50413-6

Zum Weiterlesen:

Konvertitennamen:
Der Namenswechsel jüdischer Konvertiten in Wien von 1748 bis 1868

"Auf Grund der Taufe bittet er um Änderung seines prononcierten Vor- und Zunamens...":
Zum Namenswechsel jüdisch-protestantischer Konvertiten in Wien, 1782 - 1914


"und ist am 17. Juli 1868 zu seinem väterlichen Glauben, zum Judentum zurückgekehrt":
Die Rückkehr zum Judentum in Wien von 1868 bis 1878

hagalil.com 02-01-2005

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