Jüdische Konvertiten in Wien 1782 - 1914:
Ein Projekt an der Österr. Akad. der Wissenschaften
Von Anna L. Staudacher, Wien
Alfred und Viktor Adler, Peter Altenberg, Heinrich Benedikt, Lola
Beeth, Hugo Bettauer, Tina Blau, Berthold Bretholz, Camillo Castiglioni,
Otto Deutsch, Ernst Egger, Egon Friedell, Ludwig Gumplowicz, Karl Kraus,
Karl Landsteiner, Gustav Mahler, Adolf Mussafia, Arnold Rosé und Alice
Schalek, über Otto Weininger bis hin zu Alexander von Zemlinsky - sie alle
lebten zum Fin-de-siècle in Wien und waren jüdische Konvertiten: Berühmte
Literaten, Journalisten, Schauspieler, Musiker, Maler, Philosophen,
Historiker und Linguisten, Ärzte und Naturwissenschaftler, Politiker und
Industrielle, weit über 1000 mögen es gewesen sein.
Die Austrian Jewish Biography - nun an der österreichischen Akademie der
Wissenschaften - hat sich die Aufarbeitung von personenorientierten Quellen
zur Aufgabe gestellt, im Gegensatz zu herkömmlichen Lexikonunternehmungen,
welche sich auf die Erhebung und Überprüfung von Eckdaten mit ergänzenden
Kurzbiographien zum Lebenswerk beschränken müssen. In einer biographischen
Sammlung wurden zunächst - nach Vorarbeiten mit Unterstützung des Fonds zur
Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) - die Grundlagen für eine
quellenorientierte Weiterarbeit gelegt: Eine Sammlung von derzeit über 15000
Dossiers.
Von Konvertiten wissen wir zumeist nur soviel: Dort und dort von
jüdischen Eltern geboren, begraben dort und dort in einem christlichen
Friedhof, katholisch oder protestantisch. Konvertiten schwiegen in ihren
Ego-Zeugnissen zumeist über ihre Konversion, andere nahmen zudem vor, bei
oder nach der Taufe auch noch einen anderen Namen an. Biographen taten sich
schwer - zumeist blieben die näheren Umstände eines Übertritts zum
Christentum im Dunkeln, Mutmaßungen treten dann an Stelle von Fakten, was
viel mit der Quellenlage zu tun hat.
Konvertitentaufen wurden in die Taufbücher der jeweiligen Taufpfarre
eingetragen, so um die 1880er Jahre wurden allgemein auch Konvertitenbücher
geführt. Taufbücher werden nach dem Taufdatum angelegt, nicht nach dem
Geburtsdatum - hier liegt schon die erste Hürde, an welcher Biographen
bereits scheitern mußten, da das Datum der Konversion ja zumeist nicht
bekannt ist. Hinzu kommt noch, daß Konvertiten in der Wahl ihrer Taufpfarre
frei waren, und sich zumeist nicht für die Pfarre ihres Wohnortes
entschieden. Weiß man weder das Taufdatum noch die Taufpfarre, so bleiben
einem die Basisquellen zur Konversion verschlossen. Dieser Umstand
veranlaßte uns zu einer Gesamtaufnahme jüdischer Konvertiten – nicht nur der
prominenten - in Wien und Umgebung, aufbereitet und der Öffentlichkeit zur
Verfügung gestellt in einer Selektiven Edition.
Systematisch wurden nun diese Tauf- und Übertrittsbücher durchgegangen,
großformatige Folianten, im Buchrücken dick bis zu einer Handbreit, bislang
über 1500 an der Zahl. Und in den Taufbüchern des Allgemeinen Krankenhauses
trafen wir auf Eintragungen, bei welchen die Rubriken, die für die Eltern
vorgesehen waren, leergelassen wurden, in die Rubrik der Mutter oder am
äußersten rechten Rand wurde der Vermerk gesetzt: mater infantis judaea (die
Mutter des Kindes jüdisch) - es ging hier um jüdische Kinder, die für die
Aufnahme ins Wiener Findelhaus getauft wurden.
Ich wollte nun auch dieser Sache nachgehen. Wie viele Kinder waren davon
betroffen? Wessen Kinder waren das? Wie konnte dergleichen geschehen? Das
waren zunächst die Fragen, die ich mir stellte, die mich zu den Quellen
führten, zu den Gebärhausprotokollen, den Findelhausprotokollen und von den
Taufmatriken des Allgemeinen Krankenhauses zu den Taufmatriken im Großraum
von Wien. So entstand der erste Teil der Konvertitenreihe – welche
ihrerseits in das Mittelfristige Forschungsprogramm der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. Im Jahr 2001 erschien
Wegen jüdischer Religion - Findelhaus, im folgenden Jahr kamen die
Jüdische Konvertiten in Wien 1782 - 1868 heraus und vor kurzem die
Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782 - 1914, jeweils in
einem Doppelband beim Verlag Peter
Lang. In Vorbereitung steht nun der Übertritt zur katholischen
Kirche ab dem Jahr 1868. Das Jahr 1868 war ein entscheidendes Jahr für die
Geschichte der Juden in Österreich - durch die interkonfessionellen Gesetze
erlangten sie jene Gleichberechtigung, die zuvor nur durch die Annahme der
Taufe erworben werden konnte - wobei es keinen Weg zurück gab.
Die Konvertitenreihe erscheint jeweils in Doppelbänden, im zweiten Teil
mit einer Selektiven Edition, wobei sich selektiv auf einen klar umrissenen
Personenkreis bezieht, nämlich auf Menschen jüdischer Herkunft, welche die
Taufe annahmen, auf jüdische Kinder, die getauft wurden: Es geht ja nicht
allgemein um alle Taufeintragungen in den Taufbüchern, sondern um die
Eintragungen jüdischer Konvertiten. In der Selektiven Edition haben wir sie
alphabetisch nach Familien zusammengefaßt: Ehepaare, Eltern mit ihren
Kindern bzw. Geschwister, mit ihren Eckdaten, ihrem Geburtsort und Beruf,
mit näheren Angaben zu den Eltern, deren Herkunft und Beruf, den Namen der
Taufpaten, dem Datum und dem Ort der Taufe.
Die Angaben zu den Eltern stellen zuweilen auch einen Ersatz dar für
verloren gegangene, verbrannte jüdische Matrikenbücher. Ergänzt wurden die
Taufeintragungen mit zusätzlichen Quellen, den Geburtenbüchern der Wiener
Kultusgemeinde, mit Eintragungen aus den Trauungs- und Sterbebüchern, den
Proselytenprotokollen im Fall einer Rückkehr zum Judentum, und wenn es nur
irgendwie möglich war, auch mit den Sterbedaten. Bei prominenten Konvertiten
findet sich eine Kurzbiographie mit Hinweisen zu weiterführender Literatur.
Konkordanzen führen bei einem Namenswechsel vom Konvertitennamen zum
ursprünglich jüdischen Namen, wie auch vom Mädchennamen zum angeheirateten
Namen bei verheirateten Frauen, welche unter dem Namen ihres Mannes
aufzufinden sind.
Die jüdischen Findelkinder
Gleich vorweg - es ging hier nicht um ausgesetzte, gefundene Kinder, ganz
und gar nicht, sondern um - zumeist uneheliche - Kinder jüdischer
Dienstmägde, Handarbeiterinnen, Fabrikarbeiterinnen und Tagelöhnerinnen, für
welche die Mutter nicht sorgen konnte und welche daher ins Findelhaus kamen.
Das Findelhaus war an sich kein Kinderheim, sondern eine Verwaltungsstelle
von Pflegeplätzen. Die Kinder kamen somit in staatliche Versorgung - in
einem katholischen Land hatten sie katholisch erzogen zu werden - dies galt
auch für Kinder von evangelischen Eltern.
Um "Erziehungsschwierigkeiten" bei der katholischen Erziehung von
vornherein auszuschließen, gab es jedoch für jüdische Kinder eine
Sonderregelung: Sie wurden von ihrer Mutter gleich nach der Geburt getrennt,
getauft, erhielten neben dem Taufnamen auch einen anderen Zunamen, nicht den
Namen der Mutter, wie es vom Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch bei
unehelichen Kindern vorgesehen war. Bis zum Jahr 1843 wurden diese Namen
noch zusätzlich verschlüsselt, in die Gebärhausprotokolle oft nur mit den
Initialen aufgenommen, so erhielt das Kind der Magd Regine Pollak, aus
Trentschin in Ungarn, den Namen Thomas Thal, mit den Initialen T.T.
eingetragen,
während man in den Taufmatriken in die Rubrik, die für den Namen der
Mutter vorgesehen war, nicht deren Namen eintrug, sondern einen allgemeinen
Vermerk setzte, der auf die jüdische Herkunft des Kindes verwies, wie etwa
mater infantis judaea oder auch nur mater judaea.
Die Sterblichkeit jüdischer Findelkinder war extrem, erschreckend hoch,
wesentlich höher als bei nichtjüdischen. Sie starben zumeist schon wenige
Tage nach der Trennung von der Mutter, als Todesursache wurde "Abweichen"
(Durchfall), Lebensschwäche und dergleichen angegeben. Wollte eine jüdische
Mutter ihr Kind wiedersehen, so mußte sie sich zuvor taufen lassen, ihren
eigenen Taufschein bei der Findelhausverwaltung vorlegen - um schlußendlich
die Mitteilung zu erhalten, daß ihr Kind schon vor geraumer Zeit bei der
"Pflegepartey" in der Slowakei, in Böhmen oder in der Obersteiermark
verstorben ist.
Von der Gründung des Wiener Findelhauses bis zum Jahr 1868 wurden nahezu
3000 jüdische Kinder zur Aufnahme ins Findelhaus getauft, nur ganz wenige
von ihnen haben überlebt. Derartige Taufen jüdischer Kinder erfolgten
freilich nicht erst seit der Gründung dieser Institution im Jahr 1784 und
nicht nur im Wiener Gebärhaus beim Allgemeinen Krankenhaus - sondern in
nahezu jeder Pfarre, von wo aus die Kinder zumeist von der Hebamme ins
Findelhaus gebracht wurden.
Konvertiten und ihre Motive zur Annahme der Taufe
Zuweilen wurden auch die Motive zur Taufe in das Taufbuch eingetragen,
nicht selten war es neben der "Uiberzeugung" der "Umgang mit Christen, der
Besuch der kath[olischen] Schule und Kirche". Das wirkmächtigste Motiv, das
zur Annahme der Taufe führte, war jedoch das Heiraten, eine Verehelichung:
"Behufs Verehelichung mit einer Katholikin", bzw. "mit einem Katholiken"
hieß es dann.
Geheiratet wurde oft unmittelbar nach der Taufe, noch am selben Tag, tags
darauf, in derselben Woche, vierzehn Tage später, jedenfalls noch im selben
Jahr. Und dieses Motiv war nicht von den politischen Verhältnissen bestimmt:
Die interkonfessionellen Gesetze des Jahres 1868 ermöglichten in Österreich
den Austritt aus jener Religionsgemeinschaft, in welche man hineingeboren
war, wodurch man den Status der Konfessionslosigkeit erhielt. Ein
Konfessionsloser konnte von nun an in Österreich eine Zivilehe mit einem
Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft oder mit einem
Konfessionslosen eingehen. Die Annahme der Taufe war nach dem Jahr 1868
somit nicht mehr erforderlich, um einen geliebten - nichtjüdischen -
Menschen zu ehelichen.
Das soziale Umfeld zählte - in vielen Fällen waren es die künftigen
katholischen Schwiegereltern, welche die Taufe als Bedingung für ihr
Einverständnis setzten. Sehr häufig kam es auch zu Konvertitenehen, nach
ähnlichem Muster: Lag die Taufe beim einen bereits Jahre zurück, so erfolgte
die Taufe des anderen ganz knapp vor der Verehelichung; auch unabhängig von
einer geplanten Eheschließung: Brach es in einer Familie ein, ließ sich
einer einmal taufen - dann folgten ihm sehr bald andere aus dem engsten
Familienkreis nach. Oder aber alle zusammen ließen sich an ein und demselben
Tag taufen. Bis zum Jahr 1868 waren Familientaufen keine Seltenheit, später
schon: Um die Jahrhundertwende erfolgte der Übertritt zumeist nicht mehr mit
der Familie, sondern einzeln, nach und nach folgten die Eltern ihren
Kindern, zunächst der Vater bzw. die Mutter, die Schwester folgte ihren
bereits getauften Brüdern - jede nur denkbare Abfolge war möglich.
Landläufig wird der Taufe von Juden eine karrierefördernde Rolle
zugedacht, dem war jedoch nicht so. War man ein Schuhputzer, dann blieb man
es auch. Auch für einen Privatdozenten war die Taufe nicht zwangsläufig das
Sprungbrett zu einer Professur, und wenn schon, selten, dann dauerte es oft
noch viele Jahre. Gleiches gilt für Verehelichungen, Märchenhochzeiten gab
es so gut wie keine. Der Sohn eines Buchhalters heiratete eine Angestellte,
der Sohn eines Seidenhändlers die Tochter eines Seidenhändlers, die Tochter
eines Hof- und Gerichtsadvokaten einen Anwalt oder einen Arzt. Von einer
gesellschaftlichen Besserstellung nach der Taufe mag vielleicht so mancher
geträumt haben - die von uns erhobene Realität sah anders aus. Sicherlich
hat es der eine oder andere im Laufe seines Lebens zu etwas gebracht, nicht
aber in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Taufe. Häufig wird auch die
Meinung vertreten: Nun ja, man habe sich taufen lassen, um in den Adelsstand
erhoben zu werden. Einmal war dazu keine Taufe erforderlich, nicht im
Vormärz und schon gar nicht später - eine nicht ganz so geringe Zahl war bei
der Taufe bereits nobilitiert, und zum anderen dauerte es sehr lange, viele
Jahre und auch Jahrzehnte, bis eine Nobilitierung von Konvertiten erfolgte.
Die Taufpaten
Hochinteressant ist die Rolle der Taufpaten - nicht nur als Zeugen des
Übertrittes, sie verbürgten sich für ihren Schützling. Taufpaten waren (und
sind) oft Leute, die es im Leben bereits zu Wohlstand und Ansehen gebracht
haben – eine spätere Karriere des Konvertiten stand jedoch kaum in einem
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Position seines Taufpaten. Und: Was
nicht wenig erstaunen wird, oft fungierten Konvertiten als Taufpaten, wobei
zuweilen deren Taufe gar nicht so weit zurücklag, manchmal waren es nur ein
paar Tage. Häufig übernahm der künftige Bräutigam oder die Braut die
Patenschaft, oder es übernahmen sie die künftigen Schwiegereltern.
Bei Familientaufen gab es auch Patenfamilien mit verteilten Rollen: Der
Taufpatenvater stand Pate für den Konvertitenvater, die Taufpatenmutter für
die Konvertitenmutter, die Taufpatenkinder für die Konvertitenkinder. Auch
Hebammen und Mesner traten häufig als Paten auf, Hebammen bei jüdischen
Findelkindern, Mesner sehr oft bei evangelischen Konvertitentaufen. Hingegen
trafen wir im Vormärz bei katholischen Konvertitentaufen gar nicht so selten
auf Angehörige hochadeliger Häuser, auf Mitglieder der kaiserlichen Familie,
die die Patenschaft über jüdische Konvertiten übernahmen, selbst bei der
Taufe anwesend waren oder sich durch einen Untergebenen vertreten ließen.
Vorgesetzte und Arbeitgeber, Arbeitskollegen und Wohnungsnachbarn trugen
sich als Paten ins Taufbuch ein, manchmal auch Untergebene, die zum
Hausstand zählten, so übernahmen Gouvernanten und Kindermädchen die
Patenschaft für ihre, zuweilen bereits nobilitierten Dienstgeber.
Konvertitennamen und Namenswechsel
Konvertiten hatten durch das Hofkanzleidekret vom 5. Juni 1826 ein
gesetzliches Anrecht, ihren Namen anläßlich der Taufe zu ändern: Kein Zwang,
keine Verpflichtung, sondern eine Option, welche ihre Integration in das
christliche Umfeld erleichtern sollte. Diese Namen waren frei gewählt und
keineswegs aufgezwungen. Oft entschied man sich nur für eine andere
Schreibweise (Lebel – Lebell), eine leichte Veränderung in der Lautung (Löwy
- Loewe), oder man nahm etwas, in verfremdeter Form, vom alten Namen mit:
(Wehle - Wellenthal). Um derartige Namensänderungen unter Berufung auf das
erwähnte Hofkanzleidekret konnte auch Jahre und Jahrzehnte nach der Taufe
angesucht werden.
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden derartige Ansuchen auch von
Nachkommen von Konvertiten gestellt, von Konvertiten, die bei der Taufe sich
nicht zu einem Namenswechsel entschließen konnten – alle derartigen Gesuche
um Namensänderungen wurden bewilligt. Namensänderungen in
berücksichtigungswürdigen Fällen - wie Namen, welche den Namensträger dem
Spott seiner Mitmenschen preisgaben (Rindskopf, Esel) - waren nach dem Jahr
1848 auch ohne Taufe möglich, es lag im Ermessen der Behörden. Anrecht auf
eine Namensänderung hatten bis zum Ersten Weltkrieg aufgrund des
Hofkanzleidekretes von 1826 nur jüdische Konvertiten - im aufflammenden
Antisemitismus in Wien um die Jahrhundertwende war auch der Namenswechsel -
der Wunsch, seinen jüdischen Namen, unter welchem man so viel zu leiden
hatte, loszuwerden - ein Motiv, die Taufe anzunehmen. Und so mancher trat
nach vollzogenem Namenswechsel wieder zum Judentum zurück.
Die Rückkehr zum Judentum
Gleich nach den Maigesetzen, den Interkonfessionellen Gesetzen des Jahres
1868 wurde Wien ein Zentrum der Rückkehr zum Judentum. Die Rücktritte
erfolgten vor allem im Stadttempel und in der Leopoldstadt. Zurück traten
viele aus dem "einfachen Volk", und wenig, sehr wenig Akademiker - von
welchen es doch immer wieder heißt, sie hätten aus beruflichen Gründen die
Taufe annehmen müssen. Nicht wenige von ihnen hatten sich taufen lassen,
weil sie mit einem nichtjüdischen Menschen einen eigenen Hausstand gründen
oder ihre Kinder legitimieren wollten.
Sie kehrten zurück zum Judentum, oft nicht allein, sondern zusammen mit
ihren Familien, indem der nichtjüdische Teil zum Judentum übertrat, die
Kinder als Proselyten in die Proselytenbücher der jüdischen Gemeinde
eingetragen wurden.
Zahlen & Statistik
Bis zum Jahr 1868 zählten wir nahezu 3000 getaufte jüdische Findelkinder,
etwa ebensoviel Erwachsene, welche sich taufen ließen - nur 200 von ihnen
nach evangelischem Ritus. Knapp 6000 traten in den Jahren zwischen 1868 und
1914 zum Protestantismus über, wobei unverhältnismäßig viele sich den
Calvinisten, dem helvetischen Bekenntnis zuwandten. Diese unsere Zahlen
stehen im Widerspruch zu den amtlichen, in den statistischen Jahrbüchern der
Stadt Wien veröffentlichten, die absolut nichts mit der von uns erhobenen
Realität zu tun haben. Grundlage für die Statistik der Stadt Wien waren die
Austrittserklärungen aus dem Judentum, die auch einen Passus enthielten, was
man nun weiter beabsichtige, konfessionslos zu bleiben, zu einer anderen
Religionsgemeinschaft überzutreten, und wenn ja - zu welcher.
Diese Absichtserklärungen waren vom Augenblick bestimmt und keinesfalls
bindend. So manch einer, der beispielsweise angab, er wolle nun
protestantisch werden, besann sich eines anderen, blieb zunächst einmal
konfessionslos und ließ sich einige Jahre später katholisch taufen, wie
beispielsweise Peter Altenberg. Karl Kraus wieder beabsichtigte, seiner
Austrittserklärung im Jahr 1899 zufolge, "confessionslos zu bleiben",
unterzeichnet mit seiner eigenhändigen Unterschrift (rechts unten), trat
jedoch schließlich im Jahr 1911 gleichfalls zur katholischen Kirche über.
Somit sind auch sämtliche komparative Arbeiten, die sich auf amtliche
Statistiken zum Religionswechsel in Wien stützen und mit viel Mühe sich
mühten dies oder jenes darzulegen, hinfällig geworden, da ja auf die Angaben
der einfachen Leute genau so wenig Verlaß war.
Wie viele vom Jahr 1868 hin bis zum Ersten Weltkrieg die katholische Taufe
annahmen, wissen wir noch nicht - im vierten Teil der Konvertitenreihe wird
es um den Übertritt zur katholischen Kirche nach dem Jahr 1868 gehen - über
2500 Konvertiten haben wir bereits aufgenommen, bereits mit einigen
überraschenden Ergebnissen: Die interkonfessionellen Gesetze, nach welchen
uneheliche Kinder der Religion der Mutter zu folgen hatten, wurden bis nach
der Mitte der 1880er Jahre allgemein nicht eingehalten. Dann gab es
regelrechte Konvertitenpfarren, Pfarren, wie die Schotten in der Wiener
Innenstadt, die keineswegs durch Missionierung hervortraten und doch
Rekordzahlen aufzuweisen hatten. Nicht wenige jüdische Eltern ließen ihre
Kinder sogleich nach der Geburt taufen und verbürgten sich für die
christliche Erziehung, in gleicher Weise wurden zahlreiche Kinder aus
Zivilehen der Taufe zugeführt: Vater - jüdisch, Mutter konfessionslos
(früher katholisch) bzw. umgekehrt.
Man kann darin eine Spiegelung der politischen Verhältnisse der Luegerzeit
in Wien sehen - Karl Lueger war vom Jahr 1897 bis zum Jahr 1910
Bürgermeister von Wien und setzte Antisemitismus geschickt für seine
politischen Ziele ein. Mit der Taufe seiner Kinder wollte man diese vor Häme
und Erniedrigung schützen. Und noch etwas wird aus den Matrikenbüchern
ersichtlich: Im Holocaust bot nicht wenigen die Taufe Schutz vor Deportation
und Vernichtung. Freilich gingen auch Konvertiten in die Emigration, andere
kamen in den Konzentrationslagern um, wurden nach 1945 für tot erklärt,
wieder andere kamen als Bombenopfer ums Leben oder starben in Wien eines
natürlichen Todes und wurden in christlichen Friedhöfen bestattet, nicht nur
im nichtarischen Teil des Zentralfriedhofes, der auch für jüdische
Konvertiten vorgesehen war. Nicht wenige überlebten jedoch in Wien,
heirateten später nochmals, und so manch einer trat dann auch wieder zum
Judentum zurück.
Die Autorin ist Universitätsdozentin an der
Universität Wien,
sowie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut ÖBL
zugeteilt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört u.a. die Geschichte der
Juden in Österreich-Ungarn, Jüdische Konvertiten und Namenskunde
(Konvertiten, Findelkinder). Im Verlag Peter Lang erschien von Anna L.
Staudacher:
Wegen jüdischer Religion - Findelhaus. Zwangstaufen in Wien 1816-1868
Frankfurt/M, Berlin, Bern, Bruxelles, New
York, Oxford, Wien 2001.
Teil 1: 496 S., Teil 2: 586 S., zahlr. Abb. und
Tab., ISBN 3-631-35198-4 br.
Jüdische Konvertiten in Wien 1782-1868
Frankfurt/M, Berlin, Bern, Bruxelles, New
York, Oxford, Wien 2002
Teil 1: 460 S., Teil 2: 732 S., zahlr. Abb. und
Tab., ISBN 3-631-39406-3 br.
Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782-1914
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford,
Wien, 2004. Teil 1: 495 S., Teil 2: 838 S., zahlr. Abb. und Tab., ISBN
3-631-50413-6
Zum Weiterlesen:
Konvertitennamen:
Der
Namenswechsel jüdischer Konvertiten in Wien von 1748 bis 1868
"Auf Grund der Taufe bittet er um Änderung seines
prononcierten Vor- und Zunamens...":
Zum
Namenswechsel jüdisch-protestantischer Konvertiten in Wien, 1782 - 1914
"und ist am 17. Juli 1868 zu seinem väterlichen
Glauben, zum Judentum zurückgekehrt":
Die Rückkehr
zum Judentum in Wien von 1868 bis 1878
hagalil.com
02-01-2005 |