Von Clemens Heni
Heute vor 60 Jahren wurde das größte Vernichtungslager der Deutschen, in dem
zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Menschen vergast wurden, davon 90 Prozent
Juden, von der Roten Armee befreit. Deutschland gedenkt, die
Rhetorikmaschine ist meist gut geölt. Es geht um Gleichzeitigkeit.
Gleichzeitig die
Kinder und Enkel deutscher Vernichtungsmeister wie Friedrich Flick hofieren
und bedauern, daß es einmal Sklavenarbeit von derselben Familie gab.
Täter-Familien die Hand schütteln und Opfer begrüßen (zumindest manchmal).
Sich über Nazis aufregen, die vom "Bomben-Holocaust" faseln ohne arrivierte
Wissenschaftler und Publizisten wie Jörg Friedrich, die das gleiche wie die
NPD massenwirksamer schon vor Jahren unters Volk brachten – "Der Brand" – zu
belangen.
Deutsche
"Muttersprache" verschärft einfordern, wie es Bundestagspräsident Thierse
Ende letzten Jahres getan hat, sich freuen, daß es in Berlin WGs gibt, die
nur deutsch reden und jedes Fremdwort ('handy', 'Boxershort' kosten 20 oder
50 cent in die WG-Kasse) hassen und damit ganz subkutan antijüdische
Stereotype transportieren – "Fremdwörter sind die Juden der Sprache"(Adorno)
- aber offene Nazis des Nationalismus bezichtigen. Kein Wort über die
sprachwissenschaftliche Nähe Thierses zu den völkischen
Sprachinhaltsforschern um Prof. Leo Weisgerber, die während, vor und nach
dem Nationalsozialismus eine "volkliche" Identität der Deutschen mit der
deutschen "Muttersprache" wissenschaftlich einforderten.
Sich über die
Nationalsozialisten aufregen aber Weisgerbers Imperative umsetzen, zudem
kein Wort über den akuten und aktuellen Antisemitismus eines Heiner Geißler,
der in einem "Wutanfall" in der ZEIT national-sozialistische Ideologeme
wiederbelebt (wie der Soziologe Heinz Gess analysierte), gutes vom bösen
Kapital trennt um originär judenhasserisch zu enden: "Der Tanz um das
goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen". Gebt bloß Acht, ihr Juden,
will der Katholik sagen, ihr wurdet doch als Händler aus dem Tempel
vertrieben, und – nachdem ihr weiter um das goldene Kalb getanzt seid –
schließlich im Nationalsozialismus fast komplett ermordet. Passt bloß auf
mit eurem aggressiven Turbokapitalismus, der in das soziale Fleisch
schneidet, bei dem "das Blut nur so spritzt" (O-Ton Geissler!). Geissler,
der nur die antijüdischen Linken von Davos, die auch um das goldene Tanz
tanzten und den althergebrachten Antisemitismus antizionistisch und
anti-amerikanisch aufluden und für heutige Zeiten (Januar 2003)
runderneuerten, nachäfft mit seinem Ressentiment, hat dafür gleich eine
TV-Talkshow von n-tv bekommen, zusammen mit Peter Glotz, dem
Sozialdemokraten, der heute (27.01.2005) lieber in Mainz mit Kardinal
Lehmann über deutsche 'Vertreibungs-Opfer' redet als über Auschwitz und den
Antisemitismus der Deutschen.
Lehmanns Kollege
Meisner hatte wenige Wochen zuvor in seiner Predigt zum Dreikönigstag im
Kölner Dom gesagt: "Es ist bezeichnend: Wo der Mensch sich nicht
relativieren und eingrenzen läßt, dort verfehlt er sich immer am Leben:
zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen läßt, dann unter
anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen, und
heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht."
Das ist antisemitisch. Wer in der Erinnerung an den Holocaust jenen zu einem
Delikt herunter dekliniert, hat nichts aus der Geschichte gelernt, ja möchte
nur seinen eigenen christlichen Anteil am Menschheitsverbrechen gegen die
Juden wegreden, totalitarismustheoretisch hetzen um schließlich von Frauen,
die selbstbestimmt leben, als 'Mörderinnen' analog zur SS in Auschwitz zu
faseln.
Neonazis haben
lediglich eine etwas andere Sprache, aber Abtreibung und den Holocaust in
einem Atemzug zu nennen, ohne vom Papst oder den deutschen Repräsentanten
des Stellvertreters des Stellvertreters etwas gegenteiliges zu hören, das
ist Europa und Deutschland im 21. Jahrhundert.
Da können Schröder und
Fischer und Köhler reden oder schweigen wie sie wollen, diesen
Antisemitismus, der in der politischen Kultur der BRD beheimatet ist wie
sonst kein Ideologem, bekämpfen sie nicht. Sie sehen ihn nicht, sie erkennen
ihn nicht und sie machen auch keine Anstalten, zu lernen, sie perpetuieren
ihn selbst mit ihrem Verhalten (Flick-Collection). Gleichzeitig die Opfer
des deutschen Vernichtungswahns vorgeblich betrauern und Leuten, die diese
Opfer eines Zivilisationsbruches grotesk, infam und widerwärtig verhöhnen,
indem sie sie sei's mit Hühnern, – so die Veganer und die
Tierrechtsorganisation PETA – sei's mit Abtreibung oder sei's mit den
notwendigen Bomben auf Deutschland vergleichen, nichts, aber rein gar nichts
zu entgegen, diese Gleichzeitigkeit indiziert einen sekundären
Antisemitismus, der sich pudelwohl fühlt, weil er ja gedenkt – manches mal
der Opfer, meistens der Täter.
So auch die liberale
Tagezeitung WELT in ihrer seit Anfang 2005 laufenden Chronik des Jahres, dem
"Kaleidoskop 1945". Am heutigen 27. Januar steht da folgendes auf Seite eins
dieser großen deutschen Tageszeitung: "27. Januar 1945 Auschwitz wird
befreit - Primo Levi: 'Schandbares Durcheinander verdorrter Glieder' von
Felix Kellerhoff
Wehrmachtsbericht
Östlich der unteren Weichsel wehren unsere Divisionen den nachdrängenden
Feind in Brückenkopfstellungen bei Kulm, Graudenz und Marienwerder ab.
In Marienburg und Elbing toben erbitterte Straßenkämpfe.
Erinnerungen Primo Levi
Morgengrauen. Auf dem Fußboden das schandbare Durcheinander verdorrter
Glieder, das Ding Sómogyi. Es gab dringendere Arbeiten. Wir konnten ihn
nicht anfassen, bevor wir nicht gekocht und gegessen hatten. Die
Lebenden stellen höhere Ansprüche. Die Toten können warten. Wir begaben
uns an die Arbeit. Die Russen kamen, als Charles und ich Sómogyi
wegtrugen. Er war sehr leicht. Wir kippten die Bahre in den grauen
Schnee. Charles nahm die Mütze ab. Mir tat es leid, daß ich keine hatte.
Tagebuch von Matthias Menzel
Der Bahnhof Friedrichstraße ist zum Umschlagplatz des deutschen Schicksals
geworden. Der ekle Oststurm pfeift frei durch das Skelett der Halle.
Jeder neue Zug, der einläuft, wirft gestaltloses Elend auf die
Bahnsteige. "Steinau ist im Moment nicht erreichbar", sagt das Fräulein
vom Amt. Der Strang ist abgerissen. Ich fürchte, es wird lange dauern,
bis er wieder geknüpft werden kann. Es ist eine Stunde, die das Beten
lehrt.
'Berliner
Morgenpost'
In diesen Tagen, da wir geizen müssen mit Feuerung und Zeit, ist es die
vielumstrittene Kochkiste, der wir im Rahmen unserer Sparmaßnahmen eine
gewisse Berechtigung nicht absprechen können. Übrigens muß es nicht
unbedingt eine ausgesprochene Kochkiste sein. Eine kochkistenartige
Vorrichtung aus Zeitungen und Decken leistet die gleichen Dienste.
Geheimer
Wehrmachtsbericht
Im Bezirk Schlesisches Tor sei bei einem Alarm nach 20 Uhr der Strom
gesperrt gewesen. Da man vergessen habe einzuschalten, seien die Sirenen
nicht ertönt. Die Bevölkerung sei erst durch das Flakfeuer auf die
Gefahr aufmerksam gemacht worden.
Ausgewählt von Henrik
Fels, Sarah Majorczyk, René Nehring, ergänzt mit freundlicher Genehmigung
des Verlages Klett-Cotta aus G. Hirschfeld/I. Renz: "Vormittags die ersten
Amerikaner", Stuttgart, 19 Euro (erscheint am 23.2.)."
So stehen in dieser
positivistischen Aneinanderreihung Täter-Berichte und Opfer-Beschreibungen
völlig unkommentiert, gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander. Es
geht um "deutsches Schicksal" um den "andrängenden Feind", den "unsere
Divisionen" zurückzuschlagen hätten. Die WELT braucht die Eindeutschung auch
eines Levi, sie braucht das Nebeneinander von Mord, Gemordeten und
Überlebenden.
Auschwitz wird nicht
wirklich geleugnet, es wurde ja als befreit schon in der Überschrift
realisiert, aber die Präzendenzlosigkeit des deutschen Mordens, das niemals
neben dem banalen, selbst gewollten Morden im Krieg stehen kann, diese
Präzedenzlosigkeit wird gerade auch heute, am Tag der Befreiung des größten
Friedhofs den die Menschheit kennt, derealisiert im gleichzeitigen Reden von
der Wehrmacht mit "unseren Divisionen" und den Erinnerungen von Primo Levi.
Diese Lageberichte
oder Tagebucheinträge ganz normaler Deutscher ermöglichen es den
heutigen WELT-LeserInnen, den ganz jungen, den mittleren und den ganz alten,
das deutsche, volksgemeinschaftliche Wir, das Horkheimer schon kurz nach dem
Ende des Nationalsozialismus erkannte, zu reaktivieren, den deutschen
BDM-Omas und den letzten SS- oder SD- oder Wehrmachtsverbrechern ein Wir
zuzugestehen, das von "unseren Divisionen" redet um im nächsten Abschnitt –
und von den fünf Abschnitten, die die WELT heute in ihrem Kaleidoskop 1945
bringt, ist einer aus Opferperspektive, vier aus Täterperspekte – gleichsam
en passant von ermordeten Juden berichten zu lassen um sofort wieder vom
"Bahnhof Friedrichstraße" zu lamentieren, der "zum Umschlagplatz des
deutschen Schicksals geworden" sei.
Als die Berliner Juden
deportiert wurden, war das offenbar kein "deutsches Schicksal", jetzt, 1945
von den armen Deutschen zu reden, die am Bahnhof ankommen, ist ekelerregend.
Doch Grüne und Alternative werden sagen: 'ich find diese Berichte
interessant, z. B. wußte ich gar nicht, daß die 'Kochkiste' schon 1945
existiert hat um Strom zu sparen, wie es im Bericht der Berliner Morgenpost
vom 27.01.1945 heißt.' Der Nationalsozialismus mithin als Winterhilfe für
öko-kapitalistische Marktwirtschaft. Strom und Energie sparen und von den
Nazi-Deutschen lernen, prima. Aus dieser deutschen Geschichte der WELT
lernen heißt siegen lernen – im Kampf um natürliche Lebensgestaltung. Kyoto?
Berlin, 27. Januar 1945.
Es gibt zuviel WELT
auf dieser Welt.