Gedanken zu einem Vortrag im Jüdischen
Gemeindezentrum Wien
Von Karl Pfeifer
Nicht jeden Tag besucht einer der Pariser
Großintellektuellen das jüdische Gemeindezentrum in Wien. Die Wiener
Kultusgemeinde hat es fertig gebracht Alain Finkielkraut (A.F.) im Rahmen
einer Veranstaltung, die "Facing Israel" heißt und "Analysen und
Informationen über den Nahostkonflikt, israelische Gesellschaft und das
Verhältnis Israel-Diaspora zur Diskussion" stellt, nach Wien einzuladen.
Obwohl der Artikel "Im Namen des Anderen, Reflexionen über den
kommenden Antisemitismus" dieses französisch-jüdischen Philosophen im
ausgezeichneten von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider
herausgegebenen Sammelband "Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte"
erschienen ist, wurde diese Tatsache weder in der Einladung noch in der
Begrüßung im Gemeindezentrum vermerkt. Da Finkielkraut französisch sprach
und alles übersetzt werden musste, ging viel Zeit verloren, und er konnte
leider nicht alle seine im erwähnten Artikel entwickelten Gedanken
vortragen.
Die These von A.F. ist beunruhigend, schreiben die Herausgeber
des Sammelbandes in ihrer Einführung. Finkielkraut sieht dunkle Wolken
aufziehen, "zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hätten Juden in
Frankreich wieder Angst. Die "neuen Dämonen" kämen jedoch nicht aus dem
altvertrauten Lager der bornierten Kleinbürger, die neue Bedrohung formiere
sich im Protest gegen das Leiden der Palästinenser. Während die
nichtjüdischen Europäer sich rühmten, die "zivilisatorische Bürde der
Schuld" auf sich zu nehmen, beharrten die Juden auf den scheinbar überlebten
Prinzipien der territorialen Souveränität, auf ihrem nationalstaatlichen
Sein. Die Palästinenser würden zum unschuldigen "Anderen" der jüdischen
Israelis, und der europäische Antirassismus identifiziere sich, als
"bußfertiger Richter" mit diesem Anderen und klage die Juden in dessen Namen
an."
Finkielkraut erzählte, dass ein Pariser Radio über einen
Bericht des französischen Unterrichtsministeriums berichtete, in dem die
Probleme in Schulen mit hohem Anteil von moslemischen Schülern angesprochen
wurden, wo man nicht über Jean Jacques Rousseau sprechen könne, ohne dass
sich Schüler beschweren "das ist gegen meine Religion", ganz zu schweigen
von den Kreuzfahrern und dem Massenmord an den Juden. In diesen Schulen
macht sich der "Negationism", d.h. die Leugnung des Massenmords an Juden,
breit. Er beklagte, obwohl es einfach war diesen Bericht zu erhalten, die
Medien nicht darüber berichteten, wie er vermutete, aus Angst als
"islamophob" hingestellt zu werden. Das "Vidal Sassoon International Center
for the Study of Antisemitism" an der Hebräischen Universität Jerusalem hat
2004 eine 46-seitige Dokumentation von Georges Bensoussan "Antisemitism in
French Schools: Turmoil of a Republic" veröffentlicht, die das bestätigt,
was A.F. so schockiert hat.
In Großbritannien ist die Lage ähnlich: Der britische
Landesschulinspektor David Bell hielt diese Tage eine Rede, in der er u.a.
auch von den neuen 100 islamischen Schulen sprach und aus seinem Bericht der
bald erscheinen soll folgenden Satz zitierte:
"Viele Schulen müssen ihren Lehrplan anpassen, um zu sichern, dass den
Schülern ausreichende Kenntnisse der öffentlichen Institutionen in England
geboten werden und er ihnen hilft, Verständnis und Respekt zu erwerben für
andere Kulturen, so dass dies Toleranz und Harmonie fördert". Sofort wurde
Bell von moslemischen Vertretern als "höchstgradig unverantwortlich" und
"islamophob" angegriffen.
Finkielkraut wies darauf hin, dass die Antirassisten einerseits
kein Verständnis aufbringen, für Juden, denen sie Stammesmentalität
vorwerfen, andererseits aber im Namen des Multikulturalismus auch für den
totalen Mangel an Toleranz und die antisemitische Hetze, wenn sie von
islamistischer Seite kommt, Verständnis zeigen. Er erwähnte eine bekannte
französische Expertin für internationales Recht, die Israel weil es sich als
jüdischer und demokratischer Staat definiert, vorwirft ein "rassistischer
Apartheid-Staat" zu sein. Leider ging in der Diskussion niemand auf dieses
Thema ein.
Denn nach dieser Logik dürfte es auch keinen Staat geben, der
sich islamisch definiert. D.h. zum Beispiel Saudi-Arabien, die Islamischen
Republiken Iran und Pakistan wären ebenfalls illegitim und rassistisch. Was
wir aber schmerzlich erfahren, ist folgendes: Allein der jüdische Staat, der
vor dem Gesetz allen Einwohnern Gleichheit garantiert, wird von diesen
"Antirassisten" delegitimiert. Es gibt keinen anderen Staat in der Welt,
dessen Legitimität angezweifelt wird, daher ist die Behauptung zutreffen,
Israel wurde zum Juden der Staaten.
Eine besondere Pikanterie dieser Delegitimierung Israels - die
auch in Österreich stattfindet - ist die Tatsache, dass in Israel in jeder
Ortschaft, wo Araber wohnen Ortstafeln und Straßenschilder sowohl in
hebräischer als auch in arabischer Sprache verfasst sind, während in
Österreich sechzig Jahre nach seiner Befreiung durch die Alliierten und
fünfzig Jahre nach dem Staatsvertrag, wo dies festgehalten ist, die Slowenen
nicht überall dieses Recht in Anspruch nehmen können, auch entgegen dem
Beschluss des Verfassungsgerichts. Hier regt sich das linke Gewissen in
Österreich nur sehr sporadisch.
Während seines Vortrages erwähnte Finkielkraut auch einen
Artikel von Tony Judt. Bereits im April 2004 hat er diesem bekannten
liberalen amerikanischen Professor in der Zeitschrift L'Arche unter dem
Titel "Juden, daher anachronistisch" eine Antwort erteilt:
"Liest man seinen Artikel, dann ist man gepackt von der Heftigkeit seiner
Anklage. Nachdem er die "faschistische" Politik Scharons verurteilt (bis
hierher nur das gewohnte, auch wenn man eine subtilere Analyse erwartet
hätte), etabliert er eine Verbindung zwischen dieser Politik und der Idee
selbst eines jüdischen Staates, so vom Antischaronismus zum Antizionismus
kommend. Man könnte da noch sagen, es handelt sich nur um ein
Wiedererscheinen der Beschuldigung "Zionismus = Rassismus". Doch das was neu
ist, dass bis Tony Judt, diese Beschuldigung Sache der extremen Linken war.
Nun nehmen auch Liberale an diesem Chor teil.
Und Tony Judt bleibt da nicht stehen. Er geht bis zur in
Fragestellung, in der dritten Etappe dieses Rennens der Animosität, des
Judeseins als solches, "in einer Welt in der die Nationen und die Menschen
sich mehr und mehr mischen und die Mischehen sich vermehren, wo die
kulturellen und nationalen Hindernisse gegen die Kommunikation fast
verschwunden sind, wo wir immer zahlreicher werden die multiple gewählte
Identitäten haben und wo wir uns schrecklich geniert fühlen, wenn wir nur
auf eine dieser angesprochen werden." Die Juden waren heimatlos auf einem in
Nationen geteilten Planeten. Jetzt leben sie auf einem durch eine
internationale Zivilgesellschaft vereinheitlichten Planeten. Dreimal
beschuldigt er den anachronistischen Eigensinn, dieses "halsstarrigen
Volkes". Diese Beschuldigung hat mir einen bewunderungswürdigen Satz von
Lévinas in Erinnerung gerufen: "Le souci de se conformer à son temps n’est
pas un impératif suprême de l’humain mais déjà l’expression caractéristique
du modernisme lui-même".
(Die Sorge mit seiner Zeit im Einklang zu stehen, ist nicht ein höchster
menschlicher Imperativ, sondern schon der charakteristische Ausdruck des
Modernismus selbst.)
Die mörderische Anklage des Anachronismus, d.h. eine Existenz
ohne Erlaubnis, verfolgt die Juden seit Jahrhunderten. Die erste dieser ist
im Neuen Testament zu finden. Eure Mission ist beendet, warum besteht ihr
noch darauf zu sein? Ich sage nicht, dass das ganze Christentum in dieser
Verbindung besteht; aber der christliche Antijudaismus findet da seine
Basis.
Der Anachronismus des jüdischen Partikularismus wurde dann
während der Französischen Revolution und der Emanzipation denunziert durch
das Konzept der universellen Menschenrechte. Der Philosoph Fichte hat so
seine Überlegungen zur Französischen Revolution formuliert, 'um die jüdische
Frage zu lösen, müsste man eines schönen Abends allen Juden den Kopf
abschneiden und den jüdischen Kopf durch einen menschlichen Kopf ersetzen'.
Und endlich, die dritte Form des Anachronismus, die nationale
Existenz. In einer Periode der großen planetarischen Vermischung, haben die
Juden das Recht und sogar die Pflicht Kosmopoliten zu sein. Das was bei
ihnen von nun an anachronistisch ist, das ist der Zionismus und der
Eigensinn ein eigenes Volk sein zu wollen.
Um zusammenzufassen, Tony Judt hat einen Alternativvorschlag:
Die Schaffung eines "binationalen Staates". Laut ihm wird nur die
Abschaffung von Israel einen Schlusspunkt unter die faschistische Politik
des jüdischen Staates setzen. Diese Argumentation, die nicht vermeidet, den
Amerikanern vorzuwerfen, sie hätten sich "in den Dienst Israels"* gestellt,
lässt so gleichzeitig die Beschuldigung des Separatismus und der Allmacht
der Juden entstehen. Sie ist im "New York Review of Books" und in "Debats"
erschienen. Beide Zeitschriften schmeicheln sich, nur Leute der guten
Gesellschaft zu publizieren." Soweit Finkielkraut.
Die zionistische Linke trat fast bis 1948 für einen
binationalen Staat ein. Doch die arabischen Nachbarn wollten keinen solchen
Staat. Der in New York lebende Intellektuelle mit multipler Zugehörigkeit
hat bei seinem Vorschlag übersehen, dass in Israel ein jüdisches Volk mit
eigener Sprache und Kultur lebt und dass dieses Volk genauso wie das
palästinensische Volk auf seiner Identität besteht. Das ist aber nicht
alles. Ohne jüdischen Staat hätten Juden im heutigen Nahen Osten keine
sichere Existenz. Das ist jedermann, der die Bedingungen der Region kennt
klar. Das Schicksal der Minderheiten im Nahen Osten, z.B. der Kurden zeigt,
dass ein binationaler Staat nicht die Existenz einer jüdischen Identität
gewähren würde. Staaten wie Belgien und Kanada haben als binationale Staaten
ihre schweren Probleme trotz einer langen demokratischen Erfahrung.
Wenn ein palästinensischer Staat aber als nicht lebensfähig
gesehen wird, dann wäre es auch einer Überlegung wert, einen Bundesstaat
Jordanien-Palästina zu schaffen. Vielleicht sollten sich linke und liberale
Intellektuelle wie Tony Judt mehr Sorgen um den Sudan machen, als um Israel,
denn dort spielt sich vor den Augen der Welt ein Völkermord ab. Dabei
zuzuschauen, oder als Anhänger des Multikulturalismus zu behaupten, "das ist
eben ihre Kultur" und die Achsel zu zucken ist wahrlich anachronistisch und
zutiefst rassistisch.