Geschichte gewordene Vergangenheit:
Eine neue Epoche beginnt
Von Micha Brumlik
Der dem Rechtsradikalismus zuneigende Historiker
Ernst Nolte beklagte vor gut zwanzig Jahren, dass die
nationalsozialistische Vergangenheit nicht vergehen wolle. Daran war
so viel richtig, dass historische Vergangenheiten nur so weit
präsent und lebendig sind, wie es Menschen gibt, die sich ihrer
erinnern wollen. Dieser Wille zur Erinnerung - wie auch der Wille
zur Verdrängung - wird in aller Regel umso stärker sein, je mehr
Menschen (noch) leben, die das, woran zu erinnern ist, selbst
miterlebt haben.
Zeitzeugen der industriellen Massenvernichtung der
europäischen Juden werden uns noch viele Jahre begleiten -
wenngleich sie weniger werden. Auch Täter werden noch längere Zeit
in dieser Gesellschaft leben - die jüngsten Wehrmachtssoldaten, die
den Nationalsozialismus verteidigten, und SS-Männer, die seine
Verbrechen ausführten, gehen in diesen Jahren auf ihren 80.
Geburtstag zu. Umgekehrt sind die Schülerinnen und Schüler, die über
Auschwitz Bescheid wissen sollen und können, um 1990, nach dem Fall
der Berliner Mauer, geboren. Sie sind mit der Generation der Täter
oft nur noch als Enkel oder Urenkel verwandt, in vielen Fällen, als
Kinder aus Immigrantenfamilien, überhaupt nicht. Sechzig Jahre nach
der Befreiung von Auschwitz rücken die dort und anderswo begangenen
Verbrechen unwiderruflich in den Bereich des Historischen, des
Gewesenen.
Mit der Einweihung des Denkmals für die ermordeten
Juden Europas in Berlin wird dieser Umstand symbolisch und
öffentlich im Herzen der Hauptstadt besiegelt. Mit der Zahl
"sechzig" - sechzig Jahre nach den letzten Mordtaten - scheint zudem
eine Epochenschwelle markiert, hinter der die nun wirklich zur
Geschichte gewordene Vergangenheit beginnt. Beginnt diesseits der
Epochenschwelle für Deutschland und die Deutschen eine neue Zeit, in
der sie in Frieden mit sich und ihrer Vergangenheit leben können? In
einer attischen Tragödie, den von Euripides Ende des fünften
Jahrhunderts vorchristlicher Zeitrechnung verfassten "Erinnyen",
werden die ob der Verbrechen der Atriden unversöhnten Rachegöttinnen
- sie präsentieren das schreiende Blut von Ermordeten - am Ende in
einem feierlichen Zug zur Akropolis geleitet, um fortan der Stadt
Frieden zu stiften und Schutz zu geben. Ist es dieses Vorbild, dem
das Mahnmal folgt? Indem die Ermordeten symbolisch eingemeindet
werden und ihrem Grab in den Lüften ein steinerner Gegenpart
errichtet wird, mahnen sie zugleich die Lebenden, aus ihrem
schrecklichen Tod die richtigen Lehren zu ziehen: die Würde des
Menschen kompromisslos zu schützen.
In Auschwitz - und allen anderen
nationalsozialistischen Vernichtungslagern - wurden Menschen nicht
nur ermordet, sondern darüber hinaus in einer bis dahin nicht
bekannten Weise ihrer Würde beraubt. "Was einen Preis hat", so
Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten, "an dessen Stelle
kann auch etwas anderes gesetzt werden; was dagegen über allen Preis
erhaben ist das hat eine Würde". Menschen - und zwar ausnahmslos
alle Menschen - haben nach Kant diese Würde, weil menschliches
Handeln einem Prinzip unterliegt, das Menschen einander immer auch
als Zwecke ansehen und behandeln müssen und niemals nur als bloße
Mittel. Nichts anderes aber ist den Opfern in den
nationalsozialistischen Vernichtungslagern widerfahren: von der
Tätowierung einer Nummer in den Unterarm, der Vergasung, einer
Tötungstechnik, die aus der Schädlingsbekämpfung kam, bis hin zu
Verwertung der Leichen, ihrer Haare, ihrer Zähne, zu Filz, Matratzen
und Goldbarren. Die, die es zufällig überlebt haben, haben diesen
Verlust der Würde als aufgenötigte Selbstinstrumentalisierung
erfahren.
"Mensch ist", so notiert Primo Levi für den 26.
Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, "wer tötet, wer
Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede
Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt.
Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende
ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist,
wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter
entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist." Unter
diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur
Nächstenliebe. Levi fährt fort: "Ein Teil unseres Seins wohnt in den
Seelen der uns nahe Stehenden: darum ist das Erleben dessen ein
nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen
des Menschen ein Ding gewesen ist."
Das ist das Wesen und - für uns - der Sinn von
"Auschwitz" - und aller anderen Konzentrations- und
Vernichtungslager: die äußerste Negation der Würde des Menschen, die
die Geschichte bis dahin aufgewiesen hat.
Mit dieser Feststellung gewinnt "Auschwitz" einen
Sinn, wenngleich der Tod, den mehr als eine Million Menschen dort
fanden, keinen "höheren", keinen "guten", keinen begründbaren Sinn
hatte. Man hat sich angewöhnt, die nationalsozialistischen
Vernichtungslager und insbesondere den qualvollen Tod, den Menschen
dort fanden, als sinnlos zu bezeichnen, und gemeint, damit etwas
besonders Kritisches oder Widerspenstiges gesagt zu haben. Aber
"Auschwitz" war eben keine Naturkatastrophe, sondern ein Verbrechen,
und Verbrechen sind - jedenfalls für die Täter - mit Sinn und Zweck
verbundene Handlungen. Auch ein Teil der Opfer versuchte, ihrem
Schicksal Sinn abzugewinnen. Löst man sich von der Vorstellung, dass
"Sinn" in irgendeiner Weise etwas besonders Gutes ist, und sieht
stattdessen ein, dass es sich um ein Lebensmittel handelt, dessen
Menschen genauso vital und trivial bedürfen wie der Luft zum Atmen,
dann hatte auch "Auschwitz" - zumindest für Hitler, Himmler und ihre
hunderttausende wissenden willigen Helfer - seinen Sinn.
Indem wir versuchen, aus dieser Geschichte zu lernen,
legen auch wir - später - der industriellen Ermordung von sechs
Millionen europäischer Juden Sinn bei. Wenn Überlebende, Zeitzeugen,
mitteilen wollen, mitteilen müssen, was ihnen und ihren Kameraden
widerfahren ist, tun sie nichts anderes, als gegen den Sinnverlust
ihrer Erfahrung anzukämpfen. Wenn - was ja immer wieder behauptet
wird - "Auschwitz" von Menschen, von ganz normalen Menschen und
nicht von beinahe außerirdischen Dämonen verbrochen wurde, dann
hatte das Verbrechen für sie auch einen Sinn. Ein Sinnverbot in
diesem speziellen Fall müsste nur erteilen, wer ansonsten des naiven
Glaubens ist, die Weltgeschichte nehme einen sinnvollen, guten,
planvollen Verlauf. Jenseits dieses politischen Kinderglaubens
spricht nichts gegen die Annahme, dass Menschen - ob sie es wollen
oder nicht - ihren Handlungen und ihrem Leiden Sinn beimessen.
Wer sich dieses Sinns versichern will, gerät
unweigerlich in mindestens drei paradoxe Konstellationen, die
offensichtlich nicht zu vermeiden sind: in ein Erkenntnisparadox,
ein Darstellungsparadox und ein Handlungsparadox, also in Paradoxien
der theoretischen, der ästhetischen und der praktischen Vernunft.
Das Erkenntnisparadox wird durch die Behauptung der Singularität von
"Auschwitz" provoziert, dass jede Einzigartigkeitsbehauptung ein
Vergleichen nach sich ziehen muss, wobei Vergleichen nicht mit
Gleichsetzung identisch ist. Dem Singularitätsparadox verdankt eine
an der Würde des Menschen orientierte politische Kultur ihre
wachsende Sensibilität für historische und aktuelle Genozide und
eine vergleichende Genozidforschung.
So komplex diese Debatte unter Bezug auf die
industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden durch das
nationalsozialistische Deutschland auch ist, so steht eines schon
heute fest: Von einem singulären Leiden der Opfer in qualitativer
oder quantitativer Hinsicht lässt sich angesichts des jungtürkischen
Genozids an den Armeniern, der Verbrechen des Stalinismus an Völkern
und Bevölkerung der Sowjetunion oder auch des Rassen- und
Klassenmordes der Roten Khmer an ihrer Bevölkerung in Kambodscha
nicht mehr ohne weiteres sprechen. Wohl aber davon, dass im Falle
des nationalsozialistischen Deutschland auf bisher einzigartige
Weise eine hochzivilisierte, bürgerliche Nation - nicht zuletzt in
wesentlichen Teilen ihr Bildungsbürgertum - derartige Untaten
arbeitsteilig beging. Und damit allen Ideen von Humanität und
Zivilisation in einer Weise hohnsprach, die ihresgleichen sucht.
Dem Erkenntnisparadox entspricht ein
Darstellungsparadox: Wenige Redeweisen sind in Beziehung auf
"Auschwitz" so populär geworden wie die Rede vom "unvorstellbaren
Grauen", die offensichtlich gerade deshalb sowohl Filmregisseure als
auch bildende oder dichtende Künstler geradezu aufstachelt, das
Unvorstellbare gleichwohl darzustellen. So reichen die Versuche, um
nur bei den Filmen zu bleiben, von der einfältigen Fernsehserie
"Holocaust" über Spielbergs "Schindlers Liste" bis hin zu Lanzmanns
"Shoah" - und die Güte all dieser Versuche lässt sich exakt daran
bestimmen, ob sie, wie Lanzmann mit seinem Film oder Peter Eisenman
mit seinem Berliner Stelenfeld, ihr eigenes Ungenügen und das
notwendige Scheitern mit artikulieren oder die Geschehnisse naiv
oder gar mit Suspense abbilden.
Erkenntnis und Darstellung, Bestimmung und
Vorstellung führen zum Handeln und führen in diesem Fall zum
Aktualisierungsparadox. Es war der Frankfurter Philosoph Theodor W.
Adorno, der den Pädagogen die Maxime aufgab, alles zu tun, damit
Auschwitz sich nicht wiederhole - eine Forderung, die nicht nur dazu
nötigt, mindestens probehalber gegen die Einmaligkeitsthese zu
verstoßen, sondern auch zu politischen Konsequenzen führt. Dem
Verstoß gegen die Einmaligkeitsmaxime scheint zu entgehen, wer
"erste Anfänge" identifiziert und gegen sie vorgeht. So geschehen
zum Beispiel im Krieg der Nato gegen Serbien, der von den
zuständigen deutschen Politikern, Verteidigungsminister Scharping
und Außenminister Fischer mit "Auschwitz" gerechtfertigt wurde. Die
Aktualisierung der Gefahr von Auschwitz ist also - das sollte das
Beispiel zeigen - allemal von Irrtum und Missbrauch bedroht, ohne
dass es doch möglich wäre, von dieser Aktualisierungsforderung zu
lassen. Die Paradoxien des Erkennens, Darstellens und Handelns von
"Auschwitz" werden Politik und Kultur auch im 21. Jahrhundert
prägen.
So mag als positiv empfunden werden, dass die UNO in
diesem Jahr auf Initiative der USA zum ersten Mal des Holocaust
gedacht hat - Ereignissen und Verbrechen, die nicht zuletzt mit zu
ihrer Gründung führten. Unausweichlich drängt sich indes die Frage
auf, ob und was nun gerade die UNO zu Verhinderung und Beendigung
von Genoziden, etwa in der sudanesischen Provinz Darfur, tun könne -
von der eingestandenen Mitschuld der UNO am Völkermord in Ruanda ist
dabei noch gar nicht die Rede. Der oben erwähnte Theodor Adorno war
gleichermaßen der Ansicht, dass manifester Sadismus zwar künftig
zurückgedrängt werde, dass indes die Bedingungen, die zu Auschwitz
führten, fortdauern. Adorno irrte und behielt doch Recht: Die
Folterskandale der US Army in Abu Ghraib zeigen, dass der Sadismus
sehr wohl auch in zivilisierten Nationen seinen Ort hat, während
Guantánamo Bay beweist, dass das Prinzip des Konzentrationslagers,
nämlich einen verstaatlichten, radikal rechtsfreien Raum zu
schaffen, heute zum respektablen Instrument im "Kampf gegen den
Terrorismus" erklärt wird. Hätten sie wählen können, die meisten
Häftlinge eines NS-Konzentrationslagers hätten denn doch für so
etwas wie die Käfige von Guantánamo Bay optiert, denen man
wenigstens lebendig zu entrinnen scheint. Doch ändert dies nichts
daran, dass das KZ-Prinzip heute von der Leitnation der
zivilisierten Welt voll Stolz hochgehalten wird.
Bei alledem haben wir, die durch das demokratisch
verabschiedete Grundgesetz - und das heißt im Prinzip der
Menschenwürde - entstandene deutsche Nation, nicht den geringsten
Grund zu Selbstzufriedenheit oder gar Überheblichkeit. Die Würde des
Menschen wird etwa durch das von Rot-Grün beschlossene neue
Luftsicherheitsschutzgesetz ebenso bedroht wie durch die
Folterdiskussion oder neue Grundgesetzkommentare, die abgestufte
Formen der Würde erörtern, oder Verfahren, wie unterschiedliche
Ansprüche auf Würde zu regeln seien. Angesichts der RAF-Hysterie der
Siebzigerjahre ist daher festzustellen: Glücklicherweise sind
Deutschland bisher die politischen und militärischen Konsequenzen
des neuen, globalen, westlichen Interventionismus und des mit ihm
korrespondierenden Terrorismus erspart geblieben. Man wagt ja kaum
zu fragen, wie dieses Land, sechzig Jahre nach Auschwitz, in seinem
Innern aussähe, wenn sich hier ein Bombenanschlag wie in Madrid
ereignet hätte. Diesem Land ist aus tiefstem Herzen zu wünschen,
dass ihm die Reifeprüfung auf die sehr schwierigen, komplexen und
paradoxen Konsequenzen aus den Lehren von Auschwitz erspart bleibt.
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28-01-2005 |