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Zum Tod von Susan Sontag:
Das Glück, ein Fremder zu sein

Susan Sontag erlag in New York ihrem Krebsleiden. "In Amerika" hieß ihr letzter Roman über ihren amerikanischen Traum: sich immer wieder neu zu erfinden, ohne darüber den Rest der Welt zu vergessen.

Von Viola Keeve

Ein guter Mensch zu sein, diese Tugend verlegte Susan Sontag, die große Moralistin der USA, in ihrem letzten Roman "In Amerika"  zurück ins 19. Jahrhundert. Amerikas "Hohepriesterin der Avantgarde" (New York Times) beschäftigte sich lieber mit dem vergangenen Glanz ihres Landes als mit seiner aktuellen Außenpolitik. Als Schriftstellerin interessierten sie idealistische Frauenfiguren, erfahrungshungrige, hingebungsvolle Künstler stärker als selbstgerechte Staatsmänner.

Zu Amerikas Rolle in der Welt hatte die kritische Vordenkerin dennoch immer eine klare Haltung: "Unsere Regierung ist erfolgstrunken, taumelt in einem Machbarkeitswahn. Es interessiert sie überhaupt nicht, was die Europäer denken. Sie haben es Krieg genannt und können jetzt jedes Land darin verwickeln", erklärte sie auf einer Lesung in Köln vor zwei Jahren. "Eine Regierung zu haben, in der der Präsident nie gereist und der einzig Besonnene ein General ist, weil er der Einzige ist, der Krieg erlebt hat, heißt doch: Wir haben ein echtes Problem. Und das Schlimmste noch lange nicht gesehen."

Seinen Mythos habe Amerika dadurch nicht verloren, betonte Sontag, zumindest nicht für sich: "In keinem Land glaubt man so sehr: Dies hier ist die Welt." – undenkbar in Europa, der alten Welt. Die neue Welt fühlte sich, als ihr Roman erschien, beschädigt und verwundet, und zwar in einem solchen Maße, dass das kritische Denken Susan Sontags einem radikalen Akt glich. "Ich bin nicht radikal", betonte sie immer wieder. "Ich bin ein liberaler Demokrat. Aber diese Position ist nun radikal. Was sich geändert hat, ist die politische Landkarte." Nach dem 11. September habe Amerika, selbstgerecht, jeden Sinn für Realität verloren, befand Susan Sontag nur zwei Tage nach der Katastrophe. Die USA, sagte sie, seien niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als an jenem Dienstag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf das Land einstürzte: zwei Flugzeuge ins World Trade Centre. Nestbeschmutzerin war sie seitdem für viele in den Vereinigten Staaten, Anti-Patriotin, eine denkende Verbündete Osama bin Ladens und Saddam Husseins für die einen, für die andern "the other voice of America". Sontag erinnerte die Vehemenz der Anfeindung an die McCarthy-Ära. "Dabei sind wir keine Bewegung, wir sind nur Individuen", sagte sie. Wer sie fragte, von wem sie noch gehört werde, bekam eine lakonische Antwort und ein Lächeln: "Ich hoffe aufs Internet."

Sontags Leistung als Schriftstellerin verschwindet oft hinter der der brillianten Gesellschaftskritikerin – obwohl sie für ihren Roman "In Amerika" 2000 den National Book Award erhielt. "Heutzutage zählen Meinungen und Personen viel mehr als das Werk, das jemand hinterlässt. Günther Grass ist das beste Beispiel, zweifellos ein großer Schriftsteller, bekannt aber wurde er durch seine Meinung", sagte Sontag und erklärte zugleich: Von ihr seien nur noch Romane, keine Essays mehr zu erwarten.

"In Amerika" sah sie einen Reise- und Theaterroman, ein Künstlerepos in der Tradition von Thomas Mann, der ihre Liebe zur Literatur geweckt hatte. Im Alter von 14 Jahren war sie bei den Manns zum Tee eingeladen. Später studierte sie Philosophie und Literaturwissenschaften an den Universitäten von Berkeley und Chicago. Ihre Promotion schloss sie 1954/1955 an der Harvard-University ab und studierte danach in Paris, bezeichnete sich immer als "europhil". In den letzten Jahren lebte sie mehrere Monate in Europa, oft in Frankreich oder Spanien, manchmal aber auch in Deutschland. "Ich nenne mich gerne die weltgrößte Germanistin, die kein Deutsch spricht", sagte bei ihrer Rede auf der Frankfurter Buchmesse und fügte hinzu: "Die meisten Schriftsteller, denen ich nahe stehe, sind keine Amerikaner."

Thomas Mann inspirierte sie bis zum Ende ihres Leben – ebenso wie das Theater. "Ich liebe Schauspieler, ich schätze ihre Warmherzigkeit. Ich bin gern mit ihnen zusammen", sagte sie. "Zu gern, deshalb schreibe ich auch so langsam. Auch für mich gilt der Satz von Oscar Wilde: Das einzige, wogegen ich machtlos bin, ist die Versuchung." Sie identifizierte sich mit ihren Helden, lieh ihnen Teile ihrer Persönlichkeit. Autobiografisches Schreiben aber hat Sontag nie interessiert, auch wenn ihre Vorfahren wie ihre Protagonisten polnische Emigranten waren.

"In Amerika" beruht auf der wahren Geschichte einer polnischen Schauspielerin, die im 19. Jahrhundert ihr Land verlässt und zu einer der größten Shakespeare-Mimen, einer amerikanischen Diva wird. Im Buch heißt sie Maryna Zalezowska, ist 35, auf der Höhepunkt ihrer Karriere. Für ihren Beruf hat sie viel geopfert, fühlt sich an einem Wendepunkt, erdrückt von der Bewunderung ihrer Fans, von den Sorgen ihres belagerten Landes, schwankend zwischen ergebenem Ehemann und ihrem Liebhaber. Um ihre Entwicklung geht es, sie ist der Kopf der Schauspielertruppe, die 1876 aus Polen auswandert, um in Kalifornien eine Kommune zu gründen.

"Schauspieler sind oft fasziniert von etwas Bodenständigem, habe ich bei vielen meiner Freunden beobachtet", sagte Sontag. Bei aller Egozentrik seien es immer Schriftsteller und Schauspieler, bezeichnenderweise nie Maler oder Architekten, die aktiv würden, sich für andere einsetzen, solidarisch handeln – wie Klaus-Maria Brandauer zum Beispiel. Um die Angst von Menschen in bewaffneten Konflikten zu verstehen, lebte auch die Kulturkritikerin während des Bosnienkriegs drei Jahre lang in Sarajewo. In ihrem Roman scheitert die Gemeinschaftsidee, die Landkommune in Kalifornien. Ihre Hauptfigur Maryna scheitert nicht, sie wird erfolgreicher als je zuvor. Schauspieler haben eine Schwäche für altruistische Utopien, für Aufbrüche, betonte Sontag. Das sei eine der wichtigen Aussagen ihres Romans: "You can turn the page, every day."

Mit psychologischem Feingefühl ergründete Susan Sontag im letzten Roman, was Amerika Europäern im 19. Jahrhundert bedeutet. Ihre Romanhelden sind keine Wirtschaftsflüchtlinge, sondern Menschen, die sich neu entdecken, erfinden wollen. "Das ist es, was Schauspieler jeden Tag tun. Sie erschaffen sich neu", erklärte sie. Eine Stärke sei das, eine zutiefst amerikanische Idee, ebenso wie die Leichtigkeit andererseits, Vergangenheit abzustreifen eine zutiefst amerikanische Schwäche sei – auch das undenkbar in Europa. Davon war Sontag überzeugt, seit sie Paris Filme von Jean Luc Godard gesehen hatte, die ihr gezeigt hatten: Vergangenheit ist interessanter als die Gegenwart.

In ihrer Zeit als Dozentin in Oxford und an der Sorbonne hatte sie etwas Entscheidendes entdeckt: das Glück, ein Fremder zu sein. "Ich betrachte das Leben als Reise. Meine Figuren sind unterwegs wie ich, in Bewegung", sagte Sontag. "Ich bin ein ungeduldiger, erfahrungshungriger Mensch. Sicherheit und Bequemlichkeit, Bedürfnisse, die mit dem Alter zunehmen, langweilen mich." Fremd zu sein, hat sie immer als Privileg betrachtet, es intensiviere Gefühle, ähnlich wie das Schreiben von Romanen. "Die besten Werke schaffen Schriftsteller in der ersten Hälfte ihres Lebens", sagte Sontag. Bei ihr sei es ungewöhnlicherweise umgekehrt.

"In Amerika" hielt sie für ihr bestes Buch, ihre viel beachteten Essays wie "Über Fotografie" oder "Krankheit als Metapher" verglich sie eher mit Zwangsjacken: "Im Essay wollte ich immer etwas besonders Wahres, Eloquentes, Nützliches schreiben. Romane sind mir viel näher." Ihr letzter Roman "In Amerika" entstand langsam, unterbrochen von einer Krebserkrankung, zum zweiten Mal. Fünf Jahre musste sie pausieren, hatte zuerst Angst, ihren Roman verloren zu haben, später, ihrer Hauptfigur Maryna einen zu melancholischen Ton zu geben. Beim Schreiben aber entdeckte sie nach und nach eine neue Tiefe, verarbeitete ihren eigenen Lebenskampf. Ernst, leidenschaftlich und wach war die Grande Dame der linken Intellektuellen Amerikas, die Lebensgefährtin von Annie Leibowitz. Eine gute Schriftstellerin, fand Susan Sontag, sei sie erst am Ende ihres Lebens geworden, spät.

Das Sloan-Kettering Cancer Center in New York, in dem sie behandelt wurde, gab am 29. Dezember den Tod der 71-jährigen bekannt.

Susan Sontag, geboren 1933 in New York als Kind eines jüdischen Pelzhändlers, Kritikerin, Schriftstellerin, Filmemacherin und Regisseurin erhielt u.a. den Arts and Letters Award of the American Academy of Arts and Letters, den Jerusalem Book Prize 2001 und für ihren Roman "In Amerika" 2000 den National Book Award. Im vergangenen Jahr erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Susan Sontag: "In Amerika", Hanser Verlag, München, 480 Seiten, 24,90 Euro.

hagalil.com 29-12-2004

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