Leon de Winter über Theo van Gogh:
"Die Toleranz verteidigen"
Der niederländische Schriftsteller Leon de
Winter über den Widerspruch zwischen einer liberal gesinnten Gesellschaft
und ihren religiösen Gegenspielern. Leon de Winter wurde 1954 als Sohn
orthodoxer Juden in den Niederlanden geboren und lebt in Amsterdam. Er hat
zahlreiche Bestseller geschrieben, darunter "Hoffmanns Hunger" und "Malibu".
Interview: Heike Runge
Jungle World
48 v. 17.11.2004
Theo van Gogh hat gegen jüdische, christliche und
islamische Symbole und Tabus polemisiert. War er so etwas wie die
Galionsfigur eines liberal gesinnten Landes?
Man hatte sich zumindest an ihn gewöhnt. Wahrscheinlich wäre er in einer
anderen Gesellschaft eine eher marginale Figur gewesen. Aber in Holland kann
man sich auf diese verletzende Weise über Personen und Gruppen äußern und
dennoch zum künstlerischen Establishment gehören.
Sie haben sich oft von ihm beleidigt gefühlt.
In seinem ersten Artikel, den er 1984 über mich geschrieben hat, bringt er
den Witz unter: "Heute riecht es nach Karamell, das bedeutet, man verbrennt
diabetische Juden."
Wie würden Sie van Gogh bezeichnen?
Er war ein Berufsprovokateur in der Medienwelt. Mit vielen Redaktionen hat
er sich überworfen. Man hat ihm immer wieder seine Kolumne gekündigt, weil
er in seiner Polemik viel zu weit ging. So sind die Spielregeln. Das ist
eine völlig akzeptable Weise des Umgangs. Wir sollten jedoch niemals
versuchen, die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Insgesamt war er bei den
Medien sehr beliebt, weil er einen anarcho-liberalen Gestus besaß. Man hat
ihn oft ganz bewusst eingesetzt, wenn es darum ging, bestimmte Leute
anzugreifen, die eine gewisse Position haben.
Van Gogh galt als unverdrossener Gegner des islamischen Tugendterrors.
Wurde ihm seine zutiefst "niederländische" Haltung damit zum Verhängnis?
Vor allem sollte er für seine Zusammenarbeit mit der Abgeordneten Ayaan
Hirsi Ali abgestraft werden. Das weiß man aus dem Bekennerschreiben. Es ging
dem Täter darum, die in Somalia geborene Politikerin zu treffen. Sie muss
seit zwei Jahren von den Geheimdiensten geschützt werden, weil sie ein
Skandal in der Welt der religiösen Fanatiker ist. Ayaan Hirsi Ali ist eine
Frau, die dem Islam den Rücken gekehrt hat und dies auch öffentlich bekundet
hat.
Welche Motive spielen sonst noch eine Rolle?
In dem Bekennerschreiben heißt es, die Juden hätten die Weltherrschaft
übernommen und seien auch in Holland die einflussreichste Gruppe. Das ließe
sich nur ändern, indem die muslimische Weltgemeinschaft in ihrem Glauben
zusammenrückt.
Gibt es in den Niederlanden eine Diskussion über den Antisemitismus im
Islam?
Man hat bisher einfach nicht den Mut aufgebracht, sich dazu zu äußern. Man
weigert sich, das Phänomen des massiven Antisemitismus in der arabischen
Welt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Auf wen oder was wird Rücksicht genommen?
In Holland will man den Antisemitismus nicht mit den Opfern des
Kolonialismus in Verbindung bringen. Antisemitismus wird höchstens als eine
Nebenwirkung des Nahost-Konflikts begriffen. Aber seit letzter Woche setzt
eine neue Debatte ein. Dieser Brief hat vielen Menschen die Augen für den
Antisemitismus geöffnet.
Die niederländische Gesellschaft gilt als offen und liberal. Wird sie es
bleiben?
Es gibt einen liberalen Grundkonsens, der historisch gewachsen ist. An
dieser Haltung wird sich nichts ändern. Wir verteidigen die Toleranz, indem
wir intolerant gegenüber einem fanatischen Mord sind. Die Gründe für dieses
rituelle Attentat wird man auch hauptsächlich außerhalb der niederländischen
Gesellschaft suchen müssen. Für die Motive des Mörders ist sein radikaler
Glaube entscheidend.
Hat die niederländische Politik keinerlei Verantwortung für die
Integration ihrer Einwanderer?
Der Täter hatte eine Schulausbildung, er gehörte nicht zu den
unterpriviligierten Schichten. Er hätte von den Möglichkeiten dieser
Gesellschaft profitieren können, doch er hat sie am Ende verweigert. All das
füllte offensichtlich nicht die große Leere in seinem Leben, die er nur mit
einem radikalen Glauben bekämpfen konnte. Ein säkulares, libertäres Land wie
die Niederlande ist hilflos gegenüber dem Mechanismus der Radikalisierung,
den wir spätestens seit dem 11. September beobachten können. Warum fängt so
jemand an, sich im Westen ein gutes Leben aufzubauen und verweigert sich
plötzlich der Gesellschaft, indem er sein Leben vollständig nach dem Tod
ausrichtet?
Sie sehen keine Möglichkeit, diesen Mechanismus zu unterbrechen?
Wichtig ist es, Muslime, die bei uns leben, darin zu unterstützten, den
Fanatismus in den eigenen Reihen zu erkennen und zu bekämpfen. Diese
libertären und modernisierenden Kräfte des Islam gibt es innerhalb unserer
demokratischen Kultur, und sie sollten stärker gefördert werden.
Wurde das in der Vergangenheit versäumt?
Wir haben alle gedacht, dass sich der Islam für die demokratischen
Traditionen öffnen und mit der Zeit eine mildere "niederländische Form"
annehmen würde. Doch das Gegenteil ist passiert. Als die erste Generation
der muslimischen Einwanderer in die Niederlande kam, waren das relativ
modern gekleidete Leute, die Männer trugen keine Bärte, die Frauen keine
Kopftücher. Heute, 30 Jahre später, kleiden sich die Muslime nicht nur sehr
viel traditioneller, sie richten auch ihr Leben viel stärker nach dem
Glauben aus. Die Religion ist zum entscheidenden Merkmal geworden, mit dem
sich die Einwanderer von der übrigen Gesellschaft unterscheiden. Das ist
eine fatale Entwicklung.
Gibt es Anzeichen dafür, dass nach dem Schock und der Welle von Gewalt,
die es gegeben hat, die verschiedenen Gruppierungen anfangen, miteinander
über das Zusammenleben zu diskutieren?
Ja, solche Anzeichen gibt es. Zum Beispiel haben sich viele religiöse Führer
in den letzten Tagen so entschieden gegen jede Form von Extremismus
ausgesprochen, wie ich das in der Vergangenheit vielfach vermisst habe. Ich
hoffe sehr, dass das Entsetzen über den Anschlag auch dazu beiträgt, dass
innerhalb der muslimischen Gemeinschaft eine neue Diskussion entsteht.
Wie beurteilen Sie die Reaktionen in den anderen europäischen Ländern?
Ich befürchte, dass der Mord im Ausland ebenso missverstanden wurde wie
seinerzeit das Attentat auf Pim Fortuyn. Er war kein Rechtsradikaler und
auch kein holländischer Haider, sondern eine viel komplexere Figur. Weder er
noch van Gogh predigten die Ideen von Law and Order. Es ging ihnen ganz im
Gegenteil um die Verteidigung eines toleranten Konsens.
Vermissen Sie die Empörung über das Attentat bei Künstlern und
Intellektuellen im restlichen Europa?
Es hat keinen Aufschrei gegeben. Das Schweigen ist manchmal sehr beredt.
Die öffentliche Verarbeitung
eines islamistischen Mords:
Oder: Was
"Israelkritik" und "Islamkritik" gemeinsam haben
Ebenso, wie sich hinter der Formulierung, es müsse doch erlaubt sein, Israel
zu kritisieren, zumeist ganz andere Motive erkennen lassen, wird
"Islamkritik" nicht immer in einem Zusammenhang verwendet, in dem es um die
Auseinandersetzung mit einer Religion geht...
hagalil.com 24-11-2004 |