Michael Warschawski:
"Israel ist auf dem Weg in die Hölle"
Was ändert sich ohne Arafat in
Nahost? Nicht viel. Denn Israel will keinen Kompromiss mit den
Palästinensern.
Interview: Philipp Gessler
Herr Warschawski, wird Arafats Tod den
Friedensprozess im Nahen Osten verändern?
Michael Warschawski: Aus israelischer Perspektive wird es keine
Veränderung geben, denn für die israelische Seite gibt es - mit und
ohne Arafat - keinen Partner für den Friedensprozess. Aus
palästinensischer Sicht dagegen werden die großen Kompromisse mit
Israel, die Arafat zu machen fähig war und die den Friedensprozess
erst ermöglichten, nun sehr viel schwieriger.
Glauben Sie, dass ein Bürgerkrieg in Palästina
droht?
Nein. Warum denn? Das Problem, das wir jetzt haben, ist Israel,
nicht Palästina. Im Gegenteil: auf palästinensischer Seite gibt es
ein großes Gefühl von Verantwortung für die Stabilität. Die Gefahr
ist vielmehr ein Bürgerkrieg in Israel.
Glauben Sie das wirklich?
Ich selber glaube nicht recht daran, aber es war das Hauptthema
in den israelischen Zeitungen der letzten Monate. Die Ultrarechte in
Israel bedroht Premier Ariel Scharon mit einem Bürgerkrieg. In
Israel liegt die echte Gefahr.
Sie haben offenbar große Sympathien für die palästinensische
Haltung. Als ich Ihr Buch "Mit Höllentempo" las, habe ich ähnliche
Sympathien für die israelische Seite vermisst.
Im Gegenteil. Das ganze Buch ist von großer Traurigkeit durchzogen,
weil die israelische Gesellschaft sich falsch entwickelt. Es war
schwierig, dieses Buch zu schreiben, es hat mich Tränen gekostet.
Die israelische Gesellschaft steuert Richtung Suizid. Wir sind auf
dem Weg in die Hölle. Das Buch ist voller Empathie für meine eigene
Gesellschaft - aber eine Empathie, die sagt: Wir werden verrückt.
Sie beschreiben ausführlich palästinensische Opfer - aber
israelische Kinder, die Attentaten zum Opfer fallen, kommen kaum
vor. Warum?
Ich verstehe Ihre Frage nicht. Das ganze Buch dreht sich um die
Frage: Was wird mit unseren Kindern geschehen? Es ist der Versuch,
unsere, meine Kinder zu retten! Die Verrücktheit hier zerstört alle
Hoffnungen für die Zukunft meiner Enkelkinder. Wird die Zukunft, die
wir für sie gerade bestimmen, eine sein, in der Israel einen
dauernden Präventivkrieg gegen die arabische oder sogar die
muslimische Welt führen wird? Ich habe dieses Buch für meine Enkel
geschrieben.
Darin kritisieren Sie die Tötung von Palästinensern, die
Selbstmordanschläge planen. Auf der anderen Seite halten Sie es für
legitim, israelische Ziele anzugreifen. Warum?
Wer Zivilisten angreift, ist ein Terrorist - egal ob aus einem
Flugzeug oder einem Bus. Zivilisten anzugreifen, ist Terror - das
ist meine Definition. Ich finde, es macht keinen Unterschied, ob
diese Gewalt von Militärs oder Zivilisten ausgeübt wird, ob die
Ziele Juden oder Araber sind, ob es sich um Individualterror oder
Staatsterror handelt. Militär anzugreifen, ist hingegen legitim, auf
beiden Seiten.
Nun argumentieren viele Israelis, dass nicht Zivilisten, sondern
die Planer von Terrorattacken angegriffen werden.
Die israelische Armee wirft eine 1.000-Kilo-Bombe in eine
Menschenmenge - ohne zu bedenken, wie viele Menschen getötet werden.
Sie wollen keine Kinder töten - aber das entspricht nicht dem
Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Man kann nicht, beispielsweise,
eine Stadt mit einer Atombombe bombardieren, um ein paar Terroristen
zu töten. Wir töten derzeit zehn Zivilisten, um einen Terroristen zu
kriegen. Das ist weder ethisch zu rechtfertigen, noch entspricht es
dem internationalen Kriegsrecht. Es ist ein Kriegsverbrechen.
Genauso wie die Bombardierung von Dresden ein Kriegsverbrechen war.
Nur weil dort ein paar Nazis waren, durfte man keine ganze Stadt
bombardieren.
Der Vergleich zwischen Dresden und Aktionen der israelischen
Armee - das ist exakt ein Argument deutscher Nazis …
Das weiß ich nicht. Wenn Neonazis so argumentieren, dann tun sie das
aus anderen Gründen. Das Problem ist, dass die israelische Armee
ohne Sinn für Verhältnismäßigkeit agiert und ohne Rücksicht auf
Zivilisten.
Die Mehrheit der Palästinenser unterstützt noch immer
extremistische Gruppen wie Hamas und Hizb Allah. Der Dialog, den Sie
schon sehr früh mit Terroristen geführt haben, hat nichts genutzt.
Der Konflikt bleibt unvermeidbar, solange Israel die Rechte der
Palästinenser nicht anerkennt. Israel akzeptiert die
UNO-Resolutionen zum Nahostkonflikt nicht. Drei israelische
Ministerpräsidenten haben sich offen dem Friedensprozess verweigert.
Wir alle sind Opfer einer großen Mystifizierung, wonach die
israelische Seite für den Kompromiss von Camp David 2000 war,
während die Palästinser dagegen gewesen seien. Heute, nach den
Enthüllungen von Robert Malley und Charles Enderlin, wissen die
meisten Leute, dass dies eine Lüge war. Nur in Israel und
Deutschland glauben die Leute noch daran. Warum also sollten die
Palästinenser auf den Friedensprozess setzen? Sie müssten verrückt
sein, irrational.
War es nicht tatsächlich Arafat, der das Abkommen von Camp David
nicht wollte?
Nein, ganz einfach, nein. Ehud Barak hat doch selbst gesagt, dass
dies eine Falle für Arafat war. Ehud Barak war für das Scheitern von
Camp David verantwortlich.
Ihre Kritik an den korrupten palästinensischen Behörden ist sehr
vorsichtig. Warum?
In meinem Buch geht es nicht um palästinensische Gesellschaft,
sondern um die Krise der israelischen Gesellschaft.
Aber beide sind doch miteinander verbunden.
Meine Pflicht und meine Sorge als Israeli betreffen den Ärger in
meinem Haus. Wenn mein Haus verdreckt ist und es durchs Dach regnet,
dann nutzt es nichts, herumzulaufen und zu erzählen, dass es bei
meinem Nachbarn auch ganz schön schlimm aussieht.
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Michael Warschawski:
An
der Grenze
1949 in Straßburg als Sohn eines Großrabbiners
geboren, ging Michael Warschawski 1965 nach Jerusalem, um den Talmud
zu studieren. Das Trauma des Sechs-Tage-Krieges ließ ihn die
israelische Kolonialhaltung ablehnen und für einen Frieden im Nahen
Osten kämpfen, der auf den Werten der Brüderlichkeit, Solidarität
und Koexistenz beruht. Unerschrocken kämpft er seitdem gegen die
Installierung eines Eisernen Vorhangs an, gegen die Perspektive von
Krieg und Einmauerung...
haGalil onLine
15-11-2004 |