Interview mit Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden
Moderation: Birgit Kolkmann -
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Kolkmann: Erst eine Woche ist es her, dass sich NPD und DVU zu einem
rechtsradikalen Bündnis mit Ziel Bundestag zusammengeschlossen haben,
militante Neonazis inklusive. Und ein weiteres bildete sich gleich einen Tag
später: Die Republikaner zusammen mit den ultrarechten Gruppierungen
Deutsche Partei und Deutsche Soziale Union. Fast jedes Wochenende gehen
Neonazis auf die Straße, um Staat und Gegendemonstranten zu provozieren. Die
Gewerkschaft der Polizei befürchtet eine gefährliche Eskalation der
Situation. Sogar Todesfälle seien denkbar. Heute jährt sich zum 66. Mal die
Reichspogromnacht, in der der Nazimob Juden jagte und mordete, die Synagogen
in Brand steckte. Wir sind verbunden mit dem Vorsitzenden des Zentralrats
der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. Herr Spiegel, fürchten Sie sich vor
einer Wiederbelebung Weimarer Verhältnisse?
Spiegel: Es ist in der Tat eine Zeit angebrochen, in der, ich würde sagen,
fünf vor zwölf ist, weil Dinge in Deutschland zu beobachten sind, an die wir
vor einigen Jahrzehnten nicht glaubten, dass sie jemals wieder in
Deutschland zur Tagesordnung gehören. Zur Tagesordnung gehört, dass fast
täglich jüdische Friedhöfe geschändet werden. Zur Tagesordnung gehört auch,
dass man sich Sorgen macht über den Einzug von Rechtsradikalen in deutsche
Landtage, wie wir es leider sehen mussten in Sachsen und in Brandenburg.
Jetzt haben die verschiedenen Parteien sich zu einem Bündnis
zusammengeschlossen.
Das war schon eine beängstigende Tatsache, aber was noch hinzukommt, dass
jetzt die Demaskierung erfolgt, nämlich dass gesagt wird, jawohl, wir wählen
in den Bundesvorstand der NPD einen militanten Neonazi. Undenkbar gewesen,
ein Aufschrei wäre gewesen noch vor einigen Jahrzehnten, aber wo ist der
Aufschrei jetzt geblieben? Ich habe ihn nicht gehört.
Kolkmann: Was glauben Sie, woran es liegt, dass quasi ein militanter Neonazi
im Vorstand der NPD jetzt salonfähig geworden ist?
Spiegel: Weil wahrscheinlich die Parteien dort gemerkt haben, dass das, was
sie tun, einfach so zur Kenntnis genommen wird. Es ist doch so, zum Beispiel
haben sich die Landtage in Sachsen und Brandenburg konstituiert, und die
übrigen Fraktionen haben sich über Strategien im parlamentarischen Umgang
mit den Rechten verständigt. Also der Alltag ist eingezogen, und der
Aufstand der Anständigen, wie ihn seinerzeit Gerhard Schröder angefordert
hat, ich sehe ihn nicht. Es wird immer noch so getan, als wenn die Angriffe
auf Juden, Angriffe auf andere Minderheiten immer noch als Angriffe auf
diese Minderheiten gesehen werden und nicht als Angriffe auf die Mehrheit in
diesem Lande, nämlich auf die demokratisch denkenden Menschen in diesem
Lande.
Kolkmann: Also insofern trifft der Antisemitismus die Allgemeinheit. Wie
sollten denn Staat und Gesellschaft angemessen reagieren? Wie stellen Sie
sich einen wirklich umgesetzten Aufstand der Anständigen vor?
Spiegel: Ich habe aufgerufen - es ist leider irgendwo verhallt - nach den
Wahlerfolgen der Rechtsradikalen in Sachsen und Brandenburg zu einem runden
Tisch, wo die demokratischen Parteien, die gesellschaftsrelevanten Gruppen
sich einmal Gedanken darüber machen, was können wir dagegen tun, damit wir
nicht bei den nächsten Landtagswahlen und auch nicht bei der Bundestagswahl
mit diesen Tatsachen zu tun haben? Das heißt, man muss sich Gedanken machen
nicht nur, wie man mit diesen Menschen, mit diesen Parteizugehörigen umgeht,
sondern wie man die Wähler aufklärt, was sie mit ihren Stimmen an negativen
Dingen tun, die unserer gesamten Demokratie schaden. Darüber muss man einmal
nachdenken.
Es hat ja nach dem Fall der Mauer wirklich die runden Tische gegeben, die
auch etwas gebracht haben. Jetzt rufe ich wirklich auf: die demokratischen
Parteien, die gesellschaftsrelevanten Gruppen, setzen Sie sich zusammen mit
Fachleuten und überlegen Sie sich, was man tun kann, und lassen Sie sich
nicht einfach in die Sache hineintreiben!
Kolkmann: Muss das ein offensiver Umgang sein, eine Auseinandersetzung, die
nicht nur darauf setzt, dass sich diese rechten Parteien schon selbst
entzaubern werden in den Parlamenten?
Spiegel: Richtig, und darüber müssen Fachleute reden, ob das Philologen oder
parteipolitische Strategen sind. Ich kann Ihnen nicht das allgemeingültige
Rezept geben. Dazu bin ich viel zu schwach und alleine in dieser Hinsicht.
Man darf uns Juden auch nicht wieder alleine lassen im Kampf gegen
Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Nein, das muss eine gemeinsame Aktion
werden.
Kolkmann: Glauben Sie, dass ein großer Teil der Bevölkerung dem relativ
gedankenlos zuschaut, oder haben Sie den Eindruck, dass sich das
Problembewusstsein nun doch möglicherweise wieder schärft?
Spiegel: Ich glaube, es schärft sich, aber das muss man auch unterstützen,
sowohl von pädagogischer Seite her in den Schulen als auch bei anderen
Organisationen. Es gibt auch Organisationen, die davon auch betroffen sind.
Mit denen muss man sprechen und sich hinsetzen und überlegen, was man machen
kann. Es gab ja die OSZE-Konferenz, die sich auseinander setzte mit dem
Antisemitismus in Europa. Eine bemerkenswerte Veranstaltung. Gute Reden sind
gehalten worden dabei. Nur habe ich auch noch nichts gehört, was davon an
faktischen Dingen übriggeblieben ist.
Kolkmann: Sie haben jetzt vor allen Dingen auch über die intellektuelle
Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Rechtsradikalismus. Es hat hier ein
Vertreter der GDP, der Gewerkschaft der Polizei, gesagt, es wären auch zu
viele Kräfte von Polizei und Verfassungsschutz bei der Bekämpfung des
muslimischen Terrors gebunden, und das wäre fatal. Sehen Sie das ähnlich?
Spiegel: Ich kann diesen Fachleuten überhaupt keine Vorschriften machen und
auch keine Empfehlungen machen. Das sind Sachen, die die Fachleute machen.
Natürlich darf man nicht alle Muslime hier in Geiselhaft nehmen für das, was
einzelne islamistische Terroristen an grausamen Dingen tun. Das ist auch
eine Gefahr. Die Mehrheit der Muslime in Deutschland will hier mit den
Deutschen gemeinsam und in Frieden leben, aber wie überall sind es
Extremisten, die praktisch das ganze Bild verzerren und auch Emotionen
erzeugen, die nicht geeignet sind, wie man Muslimen, die hier leben,
begegnen soll. Das ist auch eine zweite Sache, aber wie die Polizei und die
Sicherheitskräfte damit umgehen können, sollen, müssen, da kann ich Ihnen
keine Verhaltensmaßregeln geben.
Kolkmann: Vielen Dank für das Gespräch.