"Der Neunte Tag":
Die Frage nach Gott in ausweglosen
SituationenFilmkritik von
Gudrun Wilhelmy
Wenn der neue Film von Volker
Schlöndorff am 11. November 2004 in die deutschen Kinos kommt, ist das Datum
von der Marketing-Abteilung gut gewählt. Holocaust-Themen haben dann für
wenige Tage wieder Hochkonjunktur in den Medien. Doch bleibt in der
Behandlung dieses Themas der jüdische Aspekt noch immer der "des anderen,
des fremden", so fasst Schlöndorff es von einer anderen Seite an, mitten aus
der Gesellschaft, der katholischen Kirche und ihrer Vertreter.
Auch
wenn Schlöndorff die ursächliche Mitverantwortung von Judenhass - dessen
eine Variante der von den Nazis rassisch überbaute Antisemitismus ist - der
christlichen Kirchen und ihrer Vertreter in dem Film nicht mitbehandelt, so
findet es doch Einlass in der Figur des jungen SS-Untersturmführers
Gebhardt. Diesen spielt August Diehl (rechts) so überzeugend, so beherrscht,
dass die wenigen Augenblicke in denen er Einblick in sein Inneres gewährt,
den menschlichen Abgrund zeigen, der sich auftut.
Mit der Hauptfigur des Abbé Henri Kremer,
einem katholischen Priester aus dem besetzten Luxemburg, führt Ulrich
Matthes einen Menschen vor, den der Widerstand gegen die Nazis mit der
KZ-Häftlingsnummer 253897 in den Pfarrerblock in Dachau gebracht hat.
Wie lange er dort war, wissen wir nicht.
Wir sehen seine Ankunft und einige brutale und verhöhnende Szenen der
Häftlinge, die dennoch in dieser Welt "ohne Gott" Privilegierte sind. Sie
erhalten zu dritt ein Brot, die anderen müssen durch vier teilen. Ob Kremers
Annahme stimmt, dass dies geschieht, damit die anderen Häftlinge sie hassen,
mag dahingestellt sein.
Bei diesen Szenen finden Schlöndorff und
sein Kameramann Tomas Erhart neue Bilder der Brutalität und spiegeln diese
in den aufgerissenen, das Entsetzliche registrierenden Augen Kremers. Hier
müssen die Christen untätig zuschauen, wie vor ihren Augen bestialisch an
Menschen gehandelt wird. Als Kremer auf eines der Kreuze zuschreitet, das
für Häftlinge aufgerichtet worden war, ist er willkürlich und ohne zu wissen
warum, aus dem Block herausgeholt worden. Seine Füße straucheln, laufen,
stolpern und schreiten doch wieder fest. In ihnen sind alle Gefühle
gebündelt auf diesem Weg. Doch er erhält, ohne weitere Aufklärung, seinen
Entlassungsschein. Seine fast stumme Fahrt nach Hause, nach Luxemburg, zeigt
das abgemagerte Gesicht mit den übergroßen brennenden Augen. Volker
Schlöndorff hat einen Typus wie auch Roman Polanski in seinem Film "Der
Pianist" gewählt (Casting: Ulrike Haase).
Der ganze Film lebt von bestechend scharfen
Dialogen und Bildern, die durch ihre Farbreduktion auf wenige Töne die ganze
Dimension der Auseinandersetzung auf der individuellen Ebene sowie mit den
politisch-gesellschaftlichen Realitäten in Nazi-Deutschland verdeutlichen.
Kremer sieht auf seiner Fahrt nach
Luxemburg wieder das Leben, das außerhalb weiter geht wie bisher. Auf dem
Weg nach Hause wird er von Untersturmführer Gebhard auf der Straße
abgefangen und mit dem Auto zu seiner Familie gefahren. Die Aufforderung,
sich am nächsten Tag um zehn Uhr pünktlich bei ihm zu melden, ist mit einer
Drohung unterstrichen. Er kommt zu seiner Familie so unerwartet, wie er
seinen Entlassungsschein erhielt. Am nächsten Tag begeht er den Fehler mit
seinen Papieren auch seinen Entlassungsschein abzugeben und so hört er das
Telefonat Gebhardts mit an, in dem von einem Irrtum bei der Entlassung
gesprochen wird. Es seien nur "neun Tage Urlaub vom KZ".
Mit schmeichelnden Worten, mit Anbiederung
und gespieltem Verständnis versucht Gebhard Kremer dafür zu gewinnen, dem
Bischof von Luxemburg eine Erklärung abzutrotzen, die die katholische Kirche
zu einem Befürworter und Unterstützer der Nazi-Politik macht. Kremer soll
den Bischof, der sich jeglichen Kontaktes mit den Besetzern verweigert,
umstimmen. Erpressung und Versprechungen sollen Kremer dahin bringen, selbst
eine solche Erklärung aufzusetzen und zu unterschreiben, damit sie
öffentlich verlesen werden kann. Ein Leben außerhalb des
Konzentrationslagers ist eine der Verlockungen, die Gebhardt zu bieten hat.
Kremer kommt von seinen Erinnerungen aus
dem Lageralltag nicht los, nicht am Tage, nicht in der Nacht. Innerhalb
dieser neun Tage leben seine geschwollenen Füße, sein halbverhungerter
Körper, sein wacher Geist und seine schreiende Seele weiter im Pfarrerblock
des KZs Dachau. Selten nur spricht er, auch in der Familie. Flucht kommt für
ihn nicht in Betracht - nicht nur wegen der Folgen für die anderen Häftlinge
und Todgeweihten. Die quälenden Bilder, drängen sich immer wieder in seinen
Schlaf, in Träume und Begegnungen. Normales Leben gibt es für ihn nicht
mehr.
Doch er kennt auch das Leben im KZ, dass
zum Tode führen muss. Dorthin zurück?
Bis zum letzten Tag bleibt seine
Entscheidung offen. Und es ist eine einsame Entscheidung. Niemand kann ihm
raten, niemand kann sagen, was richtig oder falsch ist, in einer solchen
Situation. Wie auch immer er sich entscheidet, Menschen, die ihm nahe
stehen, werden zu leiden haben.
Sein
Bruder, der auf geschäftlicher Ebene mit den Nazis kooperiert (Germain
Wagner), kann nicht helfen. Der Schwager denkt an seine schwangere Frau,
Kremers Schwester (Bibiana Berglau, links). Auch von kirchlicher Seite
können der zu Kooperation neigende Generalvikar (ein überzeugender Götz
Burger) und der sich verweigernde Bischof (und ein außerordentlicher Hilmar
Thate) nicht raten. So wird auf fast unbemerkte Weise die Situation vor
Augen geführt, in der weder Familie noch Freunde noch Kollegen einem
Menschen helfen können. Eine Entscheidung, eine äußerst schwerwiegende, muss
jeder für sich selbst und allein treffen: Mit allen Konsequenzen, die sich
daraus ergeben für andere und die eigene Person. Denn hier schweigt Gott.
Der junge Untersturmführer Gebhard bleibt
sich in jeder Szene treu, in jedem Bild, in jeder Situation. Emotionslos,
geschickt und taktierend, versucht er Abbé Kremer als Schachfigur zu nutzen
in einem Spiel, in dem er selbst eine solche Figur ist.
Thomas Erhart hat mit der Kamera in diesem
inzwischen filmisch häufig bearbeiteten Thema neue Bilder gefunden für
Brutalität und Gottlosigkeit, für Pein und Entsetzen. Mit der Musik von
Alfred Schnittke, Ausschnitte aus dem Concerto Grosso Nr. 1 von 1977 und dem
Concerto Nr. 1 für Violoncello und Orchester (1985/86), die wie für den Film
gemacht scheinen, kommt dem Schnittmeister Peter R. Adam ein wesentlicher
Beitrag zur außerordentlichen Qualität des Films zu. Dies war aufgrund der
herausragenden Arbeit der beiden Drehbuchautoren Eberhard Görner und Andreas
Pflüger möglich, die der wahren Geschichte des Jean Bernard ein Filmgesicht
gegeben haben, das Filmgeschichte machen könnte.