Der 9. November ist ein vielfaches historisches
Datum für Deutsche Im Osten hat die Erinnerung an die Pogrome von 1938 keine
Tradition
Von Robert Ide und Martin Jander
Der Tagesspiegel,
07.11.2004
Zehntausende sind gekommen am 9. November 1945. Im Ost-Berliner
Zentrum spricht Walter Ulbricht über die Lehren des 9. November. Sieben
Jahre zuvor hatte sich die Hetzjagd auf Juden zur Pogromnacht gesteigert.
Tausende Geschäfte wurden geplündert und 91 Menschen umgebracht. Für die
Nationalsozialisten war die organisierte Gewalt auch ein Test: Würde die
Bevölkerung den Judenmord dulden, sich gar beteiligen? 1945, sieben Jahre
später, ist es möglich, über die Verbrechen an den Juden zu reden.
Aber KPD-Chef Ulbricht wählt ein anderes Thema: den 9. November 1918.
Damals hatten der Sozialdemokrat Scheidemann und der Kommunist Liebknecht
die Republik ausgerufen – unabhängig voneinander. Die Lehre daraus, gezogen
im November 1945? "Die Spaltung der Arbeiterklasse muss überwunden werden",
ruft Ulbricht der Versammlung zu. Die zerstrittene Linke habe den Sieg der
Faschisten ermöglicht, nun müssten sich Kommunisten und Sozialdemokraten
zusammentun. Kurz darauf sollte Ulbricht Chef der zwangsvereinigten SED
werden. Und bald darauf die DDR entstehen: ein Staat, der sich
antifaschistisch nannte, in dem jedoch kaum ein öffentliches Wort zum Mord
an den Juden fiel.
Die DDR gibt es nicht mehr. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Seitdem
gilt das Datum den Deutschen als vierfacher Schicksalstag. 1918:
gescheiterte Novemberrevolution, 1923: Hitlers Putschversuch, 1938: die
Judenpogrome, 1989: das Ende der Teilung. Wie geht das kollektive Gedächtnis
mit diesen 9. Novembern um?
Die Westdeutschen ließen sich nach dem Krieg davon überzeugen, dass 1938
ein Anschlag auf ihre Grundwerte war: Rechtsstaat, Menschenrechte,
Demokratie. Nach dem Film "Holocaust" 1979 bekam die Erinnerung an die
Pogromnacht einen festen Platz.
In der antifaschistischen DDR war das nicht so. Der 9. November 1938
blieb in Ostdeutschland ein verschwiegenes Datum. Die Erinnerung an die
Pogrome ist bis heute vor allem eine Angelegenheit der jüdischen Gemeinden.
Was haben Ostdeutsche vor dem Mauerfall über den 9. November gelernt? Was
haben sie nicht erfahren dürfen – oder wollen? Diese Fragen sind kaum
erforscht. Wer die wenigen Bücher zum Thema (etwa von Jeffrey Herf und
Kathrin Hartewig) studiert und mit Juden in Thüringen oder Brandenburg
spricht, kann lernen, dass das Geschichtsbild vieler Ostdeutscher verstellt
ist. Verstellt vom offiziellen Antifaschismus der SED, der sich tatsächlich
als Anti-Kapitalismus gerierte. Verstellt vom bequemen Gedenken, in dem
individuelle und gesellschaftliche Schuld kaum vorkamen. Der Umgang mit dem
9. November in der DDR ist ein Beispiel, wie mit Geschichte Politik gemacht
werden kann: durch Weglassen, Umdeuten. Die Wirkung hält bis heute an.
Geschichtsbilder leben länger als Staaten.
Der Mord an Nachbarn, das Plündern von Geschäften, die Zerstörung von
Synagogen in ganz Deutschland: Nur am Anfang gab es Versuche in der SED,
sich damit auseinander zu setzen. Am 9. November 1948, zehn Jahre nach der
Pogromnacht und ein halbes Jahr nach der Gründung Israels – die von der
Sowjetunion und den in Ost-Berlin regierenden Kommunisten zunächst begrüßt
wurde –, schrieb der aus dem Exil zurückgekehrte SED-Politiker Paul Merker
einen Artikel in der Parteizeitung "Neues Deutschland". Darin bezeichnete er
den Antisemitismus als Kern des Nationalsozialismus und den 9. November als
inszeniertes Pogrom, das der "Erziehung zum Massenmord", zur "Herzlosigkeit,
Grausamkeit" dienen sollte.
Fünf Jahre später wurde Merker aus der SED ausgeschlossen und inhaftiert,
weil er sich für eine Entschädigung aller Juden eingesetzt hatte. Die Partei
interpretierte Merkers Forderung als "Verschiebung deutschen Volksvermögens"
an "jüdische Kapitalisten". 1953, im Jahr des Volksaufstandes vom 17. Juni,
suchte die SED Schuldige für die Krise und bediente sich antisemitischer
Ressentiments. Nach einer Kampagne, in der jüdische Gemeinden als "Fünfte
Kolonne des Imperialismus" beschimpft wurden, flohen viele Mitglieder in den
Westen. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN, Organisation von
NS-Überlebenden unterschiedlicher politischer und religiöser Überzeugungen,
wurde aufgelöst. Israel galt jetzt als imperialistischer Feind des
sozialistischen Lagers. Das sollte bis zum Ende der DDR so bleiben.
Die Erinnerung an den 9. November 1938 diente der Instrumentalisierung
gegen den Westen, nicht dem Gedenken an die Opfer. So agitierte der
Schriftsteller Peter Edel im Friedrichstadtpalast am 18. Jahrestag der
Pogrome: "Was meinen sie in Westdeutschland, wenn sie ,Freiheit’ schreien?
Sie meinen Freiheit für die Kristallnacht der langen Messer, gewetzt gegen
die Völker, die am Frieden bauen, sie meinen Freiheit für die SS-Henker und
Judenmörder, die wieder Befehlsgewalt über die westdeutsche Jugend erhalten
sollen."
Das Volk der DDR hatte also mit den Judenpogromen nichts zu tun. Schuld
sollte kein Thema sein; wer trotzdem darüber sprach, bekam Probleme.
Teilnehmer an Fahrten nach Auschwitz, die die "Aktion Sühnezeichen"
organisierte, wurden behindert. Bücher des aus Palästina in die DDR
remigrierten Helmut Eschwege, der sich als fast einziger DDR-Historiker mit
dem Judenmord beschäftigte, waren verboten. Nicht erscheinen durfte auch ein
Werk des Philologen Rudolf Schottlaender, der berichtet hatte, wer 1933 von
der Berliner Universität (der heutigen Humboldt-Universität) entlassen
worden war. In der SED hieß es über das Manuskript: "Es kommen zu viele
Juden darin vor."
In den Schulen wurde die eingeschränkte Sicht zum Programm. In
Konzentrationslagern wie Sachsenhausen fanden Appelle der Jungen Pioniere
statt, auf denen sie den Kampf für den Sozialismus gelobten. Bei Rundgängen
besprach man vorrangig Leiden und Widerstand von Kommunisten. Im Lehrbuch
"Geschichte Klasse 9" (Verlag Volk und Wissen, 1988) wurde die Verfolgung im
November 1938 lediglich als Enteignung jüdischer Geschäftsleute beschrieben.
Zitat: "Bei der ,Arisierung' der Betriebe griffen Konzerne und Großbanken
kräftig zu und erwarben billig Millionenbesitze. Flick übernahm die
Petscheck-Konzerne, die reiche Braunkohlevorkommen in Mitteldeutschland und
im annektierten Sudetengebiet besaßen. Viele Nazifunktionäre beteiligten
sich am Raubzug gegen jüdische Bürger und eigneten sich Haus- und
Grundbesitz, Geschäfte und Betriebe an." Neben dem Text stand eine
Hausaufgabe für Schüler: "Welche Ziele verfolgten die Faschisten mit der
verstärkten Judenverfolgung?" Eine Antwort, die nicht die Aneignung fremden
Eigentums durch Kapitalisten anprangerte, zog eine schlechte Benotung nach
sich.
Für DDR-Bürger hatte die offizielle Sicht Vorteile: Wenn der Kapitalismus
für Antisemitismus verantwortlich war, konnten es die kleinen Leute nicht
gewesen sein – und Antisemitismus im Sozialismus nicht existent. Als
"Republik der Simulanten" hat Henryk M. Broder die DDR deshalb bezeichnet.
Wer dort groß wurde, konnte denken, seine eigenen Vorfahren hatten mit dem
Genozid nichts zu tun.
Der Bürgerrechtler Konrad Weiß formuliert es rückblickend so: "Typisch
bei uns war, wenn vom Nationalsozialismus gesprochen wurde, wurde nicht von
Deutschen gesprochen, sondern von Faschisten. Das waren also nicht wir
gewesen, sondern irgendein Volk der Faschisten." Der Antifaschismus der SED
blockierte die individuelle Auseinandersetzung mit den Verbrechen, er
verstellte eine Anteilnahme am Leiden der jüdischen NS-Opfer und er sprach
die DDR von politischer und materieller Haftung für den Völkermord an den
europäischen Juden frei.
Für die DDR blieb eine andere Erinnerung stets wichtiger: jene an die
gescheiterte Revolution vom 9. November 1918, die als eigentliche Ursache
des Nationalsozialismus galt. Nicht umsonst fand die zentrale Demonstration
des SED- Staates jährlich zum 15. Januar statt, in Erinnerung an die
Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919. Die Gedenkstätte der
Sozialisten in Lichtenberg mit der Aufschrift "Die Toten mahnen uns" ist bis
heute jeden Januar Endpunkt einer Demonstration von Anhängern der PDS und
anderer linker Gruppen.
So wie die SED damals, so deuten viele Linke heute Antisemitismus und
Judenverfolgung lediglich als Ausdruck kapitalistischer Ausbeutung und als
Mittel zur Täuschung des Volkes über seine wahren Feinde. Dass der
antisemitische Wahn viel älter als der Kapitalismus ist, seine Wurzeln im
christlichen Europa hat und die Vernichtung der europäischen Juden nur durch
die Zusammenarbeit von Menschen aller Berufe und Gesellschaftsschichten
gelingen konnte, wird dabei verdrängt.
Nur zwei Mal gab es im Osten nach 1945 Abweichungen von der verfälschten
Sicht. 1988 – Erich Honecker wollte in die USA reisen und dachte, dabei
könnten ihm Freundschaftsbekundungen gegenüber der jüdischen Gemeinschaft
helfen – schlug die SED neue Töne an. "Unsere Republik gedachte der Opfer
der faschistischen Pogromnacht vor 50 Jahren", hieß es im "Neuen
Deutschland" am 9. November 1988. Honecker dekorierte jüdische DDR-Bürger
mit Orden, in Ost-Berlin wurde der Grundstein zum Wiederaufbau der Synagoge
in der Oranienburger Straße gelegt. Und Volkskammer-Präsident Horst
Sindermann redete die Gemeinsamkeiten von verfolgten Juden und Kommunisten
schön: "Die Führer der deutschen Arbeiterklasse hatten das Wesen des
Antisemitismus als Interessenverteidigung der herrschenden Klasse erkannt
und standen immer konsequent an der Seite der Juden." Die DDR wurde als
Heimstatt für Menschen jüdischen Glaubens gepriesen: "Der Antisemitismus ist
der Weltanschauung der Arbeiterschaft fremd."
Doch in der angeblichen Heimstatt für Juden gab es kaum noch welche: Nur
acht jüdische Gemeinden wurden kurz vor dem Mauerfall in der DDR gezählt,
sie hatten 400 Mitglieder. Zudem verschwieg Sindermann, dass sich Übergriffe
von Skinheads und Schändungen jüdischer Friedhöfe häuften. Sindermanns
Resümee: "Wir brauchen nicht die Gnade der späten Geburt, um unser Gewissen
vor der Welt als rein darzustellen."
Die zweite Abweichung vom verfälschten antifaschistischen Geschichtsbild
war nicht taktisch motiviert, sondern demokratisch. Die frei gewählte
Volkskammer der Nach-Wende-DDR verabschiedete im April 1990 eine
Entschuldigung: "Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus
den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Nationalismus und
Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen
europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und
am Volk der Sinti und Roma. Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung
für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem
Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger
auch nach 1945 in unserem Land." Die Volkskammer kündigte eine "gerechte
Entschädigung" an, die dann durch verschiedene Regelungen im
Einigungsvertrag festgeschrieben wurde.
Die Erinnerung an das Pogrom 1938 hat sich in Ostdeutschland dennoch
nicht etabliert. Ein paar Kranzniederlegungen im politischen Berlin, einige
Gedenkstunden in jüdischen Gemeinden – viel mehr ist am 9. November 2004
nicht vorgesehen. Der Schicksalstag der deutschen Demokratie wird vor allem
mit dem Mauerfall in Verbindung gebracht.
Das übrige Gedenken ist geteilt. 1918: die gescheiterte
Novemberrevolution – ein Tag, den nur noch Sozialisten bemühen, um sich den
Aufstieg der Nazis zu erklären. 1923: Hitlers Putschversuch – allein
Historiker denken über den Tag nach, Neonazis feiern ihn. 1938: die Pogrome
an den Juden – die Erinnerung daran hat in Ostdeutschland keine Tradition.
Und verblasst sie nicht auch im Westen?
Die Geschichtspolitik der DDR zum 9. November, das Weglassen und
Umdeuten, wirkt bis heute. In Ostdeutschland, wo rechte Parteien ihre
Wiederauferstehung feiern, gibt es kaum öffentliche Gespräche über Schuld.
Der Mauerfall prägt die Erinnerung, und das hat Folgen auch im Westen. Der
glücklichste der deutschen 9. November verdrängt nach und nach die
Erinnerung an alle anderen.