150 Jahre Breslauer Schule:
Jüdische Tradition zwischen Religion und Philosophie
Zu Simchat Tora, am 8. Oktober, fand in Wroclaw die erste offizielle
Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den 150. Jahrestag der Gründung des
Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau statt
Pressemitteilung, Hartmut G.
Bomhoff
„Vor 150 Jahren wurde in Breslau
das Jüdisch-Theologische Seminar gegründet, einer der großen Schulen des
Judentums“, berichtete DIE ZEIT letzten August. „Heute will sich niemand
mehr an sie erinnern.“
Zu Simchat Tora fand nun in Wroclaw die erste Gedenkfeier am früheren
Ort des Breslauer Seminars statt, das bis zu seiner erzwungenen Schließung
1938 einer der bedeutendsten Institutionen für die Ausbildung von Rabbinern
war; die Initiative dazu ging vom
Abraham Geiger
Kolleg an der Universität Potsdam aus, das 1999 als erstes deutsches
Rabbinerseminar nach der Schoa gegründet wurde und in der Tradition der
„Wissenschaft des Judentums“ steht, die sich im 19. Jahrhundert in Breslau
und Berlin entwickelt hatte.
Der
Rektor des Kollegs, Rabbiner Dr. Walter Homolka, und der deutsche Konsul
Andreas von Roehl legten in der ul. Wlodkowica, der ehemaligen Wallstraße,
einen Kranz nieder; zuvor hatte sich der stellvertretende Bürgermeister von
Wroclaw, Jaroslaw Obremski, mit einem Grußwort an die Mitglieder der
jüdischen Gemeinde, Vertreter der Kirchen und die deutschen Gäste gewandt.
Allan Edelhajt, AKG-Student aus Schweden, sang das Kaddisch de-Rabbanan:,
wo es heißt „Friede in Fülle komme über Israel und über die Gelehrten, über
ihre Studierenden und deren Schülerinnen und Schüler“. Zum Abschluss der
Gedenkstunde sang der Breslauer Synagogalchor Kompositionen von Moritz
Deutsch (1818-1892), der als Kantor und Dozent am Jüdisch-Theologischen
Seminar tätig war. Rabbiner Dr. Homolka, Gouverneur der World Union for
Progressive Judaism, hatte in seiner kurzen Rede das Motto Abraham Geigers
aufgegriffen: „Durch Erforschung des Einzelnen zur Erkenntnis des
Allgemeinen, durch Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart,
durch Wissen zum Glauben.“
Dank großzügiger Spenden, unter
anderem von der Axel Springer AG und der Heinrich Böll Stiftung, konnte eine
zwölfköpfige Delegation von Berlin nach Wroclaw reisen und vier Tage lang
die jüdische Geschichte und das jüdische Leben dieser Stadt erkunden, die
aufs Engste mit Abraham Geiger (1810-1874) verbunden ist.
Am 26. Juli 1838 wählte ihn die jüdische Gemeinde von Breslau zum Rabbiner –
gegen den Willen des amtierenden orthodoxen Oberrabbiners Salomon Tiktin.
Es entspann sich eine heftige Kontroverse, aus der Geiger als Sieger
hervorging. Er wurde während seiner 25jährigen Tätigkeit in Breslau zur
Führungsfigur einer maßvollen Reform der jüdischen Tradition, der sich
schließlich die Mehrheit der jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich
anschloss. Geiger hatte bereits 1836 “die Gründung einer
jüdisch-theologischen Fakultät, ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit“
gefordert; die Stiftung des Breslauer Seminars durch Jonas Fränckel ging
mittelbar auf die Empfehlung Abraham Geigers zurück, der 1872 auch die
Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gründete: Zu den
bekanntesten Studenten des Breslauer Seminars, das die uneingeschränkte
Freiheit der Forschung auf der Basis jüdischer Tradition vertrat, zählte Leo
Baeck.
Heute erinnern in Wroclaw nur noch die in Renovierung begriffene Synagoge
„Zum Weissen Storch“, die 1827 von der reformorientierten „Ersten
Gesellschaft der Brüder“ nach Plänen von Carl Ferdinand Langhans errichtet
wurde, sowie das Grab seiner Frau Emilie an das Wirken Geigers in der Stadt.
Für die Studenten und Studentinnen des Abraham Geiger Kollegs war aber nicht
nur dieses historische Erbe von Bedeutung – ebenso wichtig war die Begegnung
mit der heutigen jüdischen Gemeinde, der Gmina Wyzaniowa Zydowska we
Wroclawiu, mit dreihundert Mitgliedern die zweitgrößte Gemeinde Polens:
der gemeinsame Morgengottesdienst an Simchat Tora, der von den Studenten
Allan Edelhajt, Tom Kucera und Nicolai Stöhr geleitet wurde, war eine
besondere Erfahrung, wichtig für Herz und Kopf. Dem großen Engagement von
Karolina Szykierska, die auch das jährliche jüdische Kulturfestival „Simcha“
in Wroclaw organisiert, ist es zu verdanken, dass auch Diskussionen mit
polnischen Studenten sowie ein Vortrag von Professor Ryszard Rózanowski,
„Tradition und Traditionspflege der jüdischen Philosophie: das
Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau“ auf dem Programm standen.
hagalil.com
19-10-2004 |