Brandanschlag in Paris vor Aufklärung?
Neue Debatte über den Umgang mit Anschlägen
Eine Pause von 48 Stunden nach jedem möglicherweise
antisemitisch motivierten Anschlag: Dies fordert der frühere Vorsitzende des
Zentralrats der französischen Juden (CRIF), Henri Hajdenberg, in der Pariser
Abendzeitung "Le Monde" vom vorigen Freitag, 03. September.
Während dieser 48 Stunden sollen zuerst die genauen Hintergründe untersucht
werden, bevor in der Öffentlichkeit von einem antisemitischen Anschlag
gesprochen, bevor entsprechende Artikel veröffentlicht und Kundgebungen
abgehalten werden.
Den Hintergrund für die Forderung liefern mehrere
Einzelfälle aus der jüngsten Zeit, in denen antisemitisch motivierte
Angriffe auf Personen oder Einrichtungen (möglicherweise) fingiert wurden.
Gesichert ist dies für die angebliche Aggression gegen eine junge Frau und
ihr Baby in einem Pariser Vorortzug am 9. Juli, da die junge Frau gestanden
hat, den Überfall selbst erfunden zu haben, um "die Aufmerksamkeit ihrer
Umgebung auf sich zu ziehen". Möglich, aber (noch) nicht sicher ist dies
aber auch im Falle des Brandanschlags auf ein jüdisches Sozialzentrum in
Paris in der Nacht vom 21. auf den 22. August. <Le Monde> befragte deswegen
in ihrer Ausgabe vom 03. September mehrere Journalisten, Politiker und
Vertreter des französischen Judentums zu dem Dilemma zwischen der
Notwendigkeit, schnell zu reagieren, und jener, Vorsicht walten zu lassen,
um nicht falschen Fährten aufzusitzen.
Brandanschlag möglicherweise vor Aufklärung: Doch nicht
antisemitisch motiviert?
Seiner Aufklärung möglicherweise näher gerückt ist in der
vorigen Woche der Brandanschlag vom 22. August, der auf ein jüdisches
Sozialzentrum im 11. Pariser Arrondissement zielte. Am Mittwoch, 1.
September wurde ein Strafverfahren gegen den 52jährigen Raphaël B. und damit
ein Mitglied der Gemeinde sephardischer Juden, die das Sozialzentrum
betreut, eröffnet.
Der nunmehrige Tatverdächtige gilt als psychisch labil. Der seit über 30
Jahre in Frankreich lebende marokkanische Juden verfügte zunächst über eine
einzige Angehörige im Lande, seine Schwester, die aber vor 15 Jahren
verstarb; daraufhin soll er in zunehmendem Maße Merkmale einer
Persönlichkeitsstörung an den Tag gelegt haben. Bisher wurde er durch die
sephardische Gemeinde betreut, die ihm kostenlos Wohnung und gelegentliche
Arbeitsmöglichkeiten anbot. Nunmehr soll er aus Unmut oder "Rache" dafür
gehandelt haben, dass jetzt eine Miete für die Wohnung von ihm verlangt
wurde - da er anscheinend der Ansicht war, ihm werde damit ein Recht
entzogen, das ihm wie selbstverständlich zustehe. Soweit jedenfalls die
Darstellung in den Medien, die sich auf Erkenntnisse der Ermittler stützt.
Als materielle Indizien für seine Täterschaft sprechen, dass in seiner
Wohnung Filzschreiber gefunden wurden, mit denen Slogans und Hakenkreuze
gezeichnet worden sein könnten; und ferner, dass er einen Schlüssel zu dem
Sozialzentrum besessen hat. Laboranalysen haben ergeben, dass die
beschädigte Seitentür zuerst von innen und nicht von außen geöffnet worden
und ihre Beschädigung erst nachträglich vorgenommen worden sei. Deswegen
ging die Kriminalpolizei seit den letzten Augusttagen von der Täterschaft
eines Individuums aus dem "internen" Kreis aus.
Raphael B. soll von einem Film inspiriert worden sei, der im Dezember 2003
in dem nunmehr ausgebrannten Sozialzentrum gedreht worden ist. In der
Krimifolge wird gezeigt, wie ein vermeintlicher antisemitischer Anschlag
durch ein Mitglied der Gemeinde fingiert wird; der Beitrag wurde jedoch nie
ausgestrahlt, aus Furcht, dass manche Zuschauer diese Darstellung für bare
Münze nehmen könnten. Raphaël B. soll möglicherweise als Statist an den
Dreharbeiten mitgewirkt haben, oder sie jedenfalls aus der Nähe beobachtet
haben; ob dem wirklich so war, soll nunmehr ein Untersuchungsrichter klären.
Die tatsächliche Schuld oder Unschuld von Raphaël B. wird in wenigen Monaten
ein Prozess klären müssen. Bisher bestreitet der Tatverdächtige Raphael B.
die Tatvorwürfe gegen ihn; bis zu einem entgegenlautenden Geständnis oder
einer rechtskräftigten Verurteilung muss er daher derzeit als unschuldig im
rechtsstaatlichen Sinne gelten." Nicht verschleiert werden darf, dass es
tatsächlich eine größer Zahl von antisemitisch motivierten Taten gibt, und
dass dabei nicht die einzelnen Bäume den Wald verdecken können und dürfen.
Nur deswegen, weil es einen "Sockel" von kaum anzweifelbaren antisemitischen
(und sonstigen rassistischen) Taten gibt, wurde es überhaupt möglich, dass
in Einzelfällen auch fingierte Übergriffe zunächst für glaubwürdig gehalten
werden konnten. Und sie wurden es in breiten Kreisen.
Antisemitisch oder rassistisch motivierte Straftaten im
Jahr 2004
Vom Jahresbeginn bis zum 20. August 2004 wurden in
Frankreich (laut Zahlen des Innenministeriums) 67 verbale oder physische
Angriffe auf jüdische Personen und 162 Sachbeschädigungen mit vermutlich
antisemitischem Hintergrund registriert. Ferner wurden 69 Pressedelikte
verzeichnet, also die Veröffentlichung von Bildern und Texten mutmaßlich
antisemitischen Charakters. Diese Angaben des Innenministeriums beziehen
sich auf jene Straftaten, die durch die französische Justiz verfolgt wurden
oder werden. Laut Innenminister Dominique de Villepin wurden etwa 150
Personen als Tatverdächtige ermittelt, nähere Angaben dazu sind bisher nicht
bekannt.
Alles in allem entspricht das Ausmaß dieser unterschiedlichen Delikte und
Straftaten ziemlich genau einer Verdopplung gegenüber dem entsprechenden
Vorjahreszeitraum in 2003. Das ist wohl vor allem auf die im April begonnene
Welle von Friedhofsschändungen im östlichen Frankreich zurückzuführen: Sie
begann mit der Schändung des jüdischen Friedhofs von Herrlisheim am 30.
April, die aller Wahrscheinlich nach durch Rechtsextreme begangen wurde und
die eine Fülle von (unterschiedlich motivierten) Nachahmungstaten
hervorrief.
Im Zusammenhang mit Schändungen von Friedhöfen, Synagogen und Moscheen der
jüngsten Zeit wurden seitdem 25 Tatverdächtige ermittelt. Unter ihnen sind
(nach Zahlenangaben des Innenministeriums) 7 Rechtsextreme, 3 Satanisten, 7
Nachahmungstäter und 7 Personen mit unklaren Motiven sowie ein angeblich aus
"antiklerikalen Motiven" handelnder Täter. Die betroffenen Friedhöfe waren
zu etwa gleichen Anteilen christliche, jüdische und moslemische, da die
"geweckten" Nachahmungstäter zum Teil auch aus wirren Mortiven (Satanismus,
"Mutproben") heraus handelten.
Bernhard Schmid (Paris)
hagalil.com
01-09-2004 |