Kleinod unfassbarer Skurrilität:
In einer kleinen Ecke der Münchner Gemeinde
Von Sch. Zahubi, Haifa
Die Reise nach München ist gebucht und dort wartet ein
Kleinod unfassbarer Skurrilität auf den Gast: Eine Gebetsstube im Stadtteil
Neuhausen, bestehend aus zwei kleinen Räumen und verstecktem Zugang und
folgender Geschichte.
In früher Nachkriegszeit pflegten die polnischen Juden,
die die "Sonderbehandlung" überlebt hatten, sich zum Gebet im "Stibl" zu
treffen. Torarollen wurden besorgt, einfache Einrichtung angeschafft und
jeden Sabbat gab es einen Kidusch, einen Umtrunk mit leichtem Essen. Der
Gottesdienst war überhaupt kein Problem. Jeder der Anwesenden war in der
Lage, ihn zu leiten. Jeder konnte vorbeten und beinahe jeder verstand es,
mit der gebotenen Melodie aus der Tora vorzulesen.
Nun sind die meisten dieser Alleskönner zu Besuch bei
ihrem Schöpfer angelangt. Doch das "Stibl" gibt es noch! Der alte Schlomo,
sicherlich weit über achtzig Jahre auf dem Buckel, bezahlt die Monatsmiete.
Und die beiden kaum jüngeren Avreml und Jonatan beteiligen sich bei den
Kosten so gut es geht. Eine Gruppe von etwa zehn Kontingentflüchtlingen aus
der alten Sowjetunion sitzen an den Tischen und halten sich an den
Gebetbüchern fest, die sie nur lesen können, weil sie auch eine russische
Übersetzung haben.
Man trifft sich jeden Sabbat und an den Feiertagen,
zuweilen wird ein externer Vorbeter aufgetrieben, die Regel jedoch ist, dass
einer der Alten den Vorbeter macht und die anderen versuchen, ihre Gespräche
zwischen den Gebeten so leise als möglich zu führen. Währenddessen es immer
wieder zu beobachten ist, dass Gebete mitgesprochen werden, vor allem sobald
es darum geht, gut hörbar "Amen" zu sagen, funktioniert die Liturgie
perfekt.
Die Prozedur des Aufrufs zur Tora gestaltet sich jedoch
beinahe normal. Hat es sich einer mit dem alten Schlomo verscherzt, so hat
er kaum die Möglichkeit, einen Toraaufruf zu erhalten. Es sei denn, einer
der beiden übrigen oder dazu noch mehrere aus der Gruppe der Russen votieren
für den Antrag. Unter erdrückender Mehrheit gibt Schlomo zuweilen nach und
die Segenssprüche über die Tora und das Verlesen des Wochenabschnittes
können fortgesetzt werden. Am liebsten ruft Schlomo einen der brav nickenden
Kontingentflüchtlinge auf oder lässt sich selbst benennen.
Dann quält er sich mit Kurzsichtigkeit und tauben Ohren,
aber er lässt sich die Ehre nicht nehmen, selbst vorzulesen, wobei er
beinahe mit der Nase das Pergament berührt. Allmählich hat es sich im Stibl
durchgesetzt, in die aufgerollte Tora ein besser lesbares Torabuch, den
Chumasch, zu legen, mit Punktierung und Abschnittseinteilung. Zwei Beisteher
kontrollieren den Vorbeter, was jedoch selten dazu führt, dass das Gebet
wegen eines Fehlers unterbrochen wird, denn sonst würde bis zum Mittagessen
keiner nachhause kommen.
Über die Hintergründe, einen Aufruf zur Tora zu erhalten,
sollte ein eigener Bericht angefertigt werden. Hier sind Eigensinn,
Wichtigtuerei, Spendierbereitschaft und vieles mehr von Bedeutung, wie auch
Ansehen in der Gesellschaft und vor allem, die richtigen Kontakte. Wegen der
zahlreichen Freunde, die nicht immer nur unser Wohlergehen im Sinne haben,
wird an dieser Stelle auf eine präzise Angabe von Anschrift oder
Kontaktadresse verzichtet.
hagalil.com
20-07-2004 |